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Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 8

Das galante Hanau, nicht Sachsen!

(Worüber Sie in der Grafschaft Hanau-Münzenberg nie und nimmer sprechen dürfen, wir flehen Sie an!)

Erzählrunde 1

Es war an einem schönen Frühlingstag, als sich Herr Tuki Tukan äußerlich ge-lassen, innerlich jedoch vor Empörung kochend im von ihm so innig geliebten Fliederbaum flatternd auf seinem stabilen Stammast niederließ, um durch Genie-ßen wärmender Sonnenstrahlen Abstand von dem zu gewinnen, was kurz zuvor in der 2. Etage des Hauses an unglaublichen Ungeheuerlichkeiten geschehen war. Als stolzer Costa Ricaner konnte er es nämlich noch immer kaum fassen, wie Lateinamerilas gefährlichstem Tukan dort oben vor nicht einmal 15 Minuten auf übelste Weise mitgespielt worden war. Denn obwohl solche derzeit gehäuft auftretende Episoden inzwischen gewisse Gewöhnungseffekte erzielt hatten, er-kannte der Desperado dennoch in dem gerade Erlebten klare und eindeutige Überschreitungen einer roten Linie, deren Ausmaß das empfindsame Gemüt mit blankem Entsetzen füllte.

Mit viel Wut im Bauch hatte Herr Tuki Tukan sie noch gut in Erinnerung, jene demütigenden Bilder auf dem Fußabtreter, als ihm Henri, seines Frauchens livrier-ter Diener mit Zopfperücke, durch ein verächtliches Entrez! nach über zwei Stun-den Wartezeit kundtat, dass Madame sich endlich dazu entschlossen habe, das dreizeilige Gesuch im Gewährung des Zuckerrohranbau-Privilegs im Garten zu-mindest wohlwollender Vorprüfung zu unterziehen, und er daher von der Matte Vite, vite, vite! nun hineinfliegen möge. Aber folgende, sich im Privatgemach der jungen Dame abspielende Szenarien, dass wussten unzählige zornige Gedanken jetzt schon ganz genau, würde "El Diablo" mit Sicherheit noch weniger schnell vergesssen als die zuvor durch diesen Lakaischnösel Henri erlittene Behandlung.

Ah, mon cher toucan, quel honneur! Comment allez-vous?, klang ihm gleich zu Beginn eine recht gelangweilt wirkende Stimme entgegen, aus deren unterkühlten Unterton sich leider der traurige Schluss ziehen ließ, dass man momentan in diesen 4 Wänden über Tukanbesuche alles andere als erfreut schien. Es harrten am Schminktisch eben wichtigere Probleme ihrer Lösung, denn das bemitleidens- werte Mädchen musste dort unglücklicherweise gegen extrem hinterhälitge physi-kalische Kräfte seiner hohen, weiß gepuderten Turmfrisur ankämpfen, welche das im selben Farbton gepuderte Gesicht permanent in gewisse Schieflagen zogen und damit das Auftragen des dazu gehörenden schwarzen Punktes auf die rechte Wange zum aussichtslosen Unterfangen machten.

Mit einem fröhlichen, in akzentfreier Lokalmundart krächzendem Ei, Lessa, gude wie? hatte Herr Tuki Tukan daraufhin Madames frostigen Empfang erwidert, um durch Verwendung des hiesigen Dialektes das Herz seines Frauchens schnell wie-der mit heimischer Wärme zu füllen, wollte er doch im weiteren Gesprächsver-lauf stolz demonstrieren, dass ihm seine regionalen Sprachkenntnisse inzwischen sogar ein mir den Einheimischen beim Ebbelwoi problemloses "uff Hessisch bab-beln" ermöglichten.

Très charmant! Mein lieber Tukan, so parliere er fei und ungezwingen, doch ex-pliziere er sich dabei preziös und dezidiert, damit wir ihn auch verstehen kön-nen! Herr Tuki Tukan erschauderte angesichts solcher Worten. Ausgerechnet SIE sprach jetzt so mit ihm! SIE, die ihm damals gleich nach der gemeinsamen An-kunft aus Coste Rica im schönen Hessenland mit ganzem Herzblut zur Förderung seiner Integration stolz die heimische Mundart beibgeracht hatte, kanzelte ihn nun wie einen Bauern ab, sich ihrer eigenen Identität schämend!

Gnädigste Frau verzeihen! Ich erlaubte mir lediglich untertänigst anzufragen, ob Sie meinem unwürdigen Gesuch dennoch...äh...äh...avec résponse positife will-fahren könne, hoffte er daraufhin mittels bestimmt genehmerer Ausdrucksweisen seinem Anliegen erfolgreicher Gehör zu verschaffen. Oh là lààààààà, mon cher toucan, je regrette, mais en moment, ca c'cest absolutement impossible à faire! --- Comment done! Ich wünsche mit Ihr keine Affäre!, entrüstete sich Herr Tuki Tukan, des Französischen nur unzureichend mächtig, voller Abscheu über offensichtlich mit der Privileggewährung verbundene unlautere, moralisch höchst verwerfliche Avancen, doch auf unwirsches Fingerschnippen hin stolzierte bereits Henri, ei-nem aufgeplusterten Pfau gleichend, zum Fenster, dessen weites Öffnen unmiss-verständlich das bereits gekommene Audienzende anzeigte. Nicht einmal zu ihm umgedreht hatte sie sich während des kurzen Intermezzos, und niemals würde ein Lateinamerikaner solches verzeihen!

Ja, es waren Veränderungen im Hause seiner Besitzerfamilie eingetreten, seitdem Herr Kaiser vergangenes Jahr siebenmal den Euro-Jackpot als stolzer Alleinge-winner knacken konnte. Und weil Herr Kaiser sich eben nicht nur als begnadeten Glückspilz sondern darüber hinaus auch als sehr klugen Mann betrachtete,  hatte er die erste Gewinnsumme über unsagbare 43 Millionen Euro gleich geschickt zum Erwerb diverser Adelsbezeichnungen verwendet, und durfte selbst fortan den Titel   G r a f   v o n   H a n a u   führen.

Aber weil Dennis Kevin Kaiser Graf von Hanau gerade auch als kluger Glücks-pilz wusste, dass Titel allein nicht viel wert sind, weil man die Kaisers in der blau-blütigen Welt als Emporkömmlinge zunächst mit Verachtung strafen würde, setzte er ab dem Tag seiner Erhebung in den Grafenstand auf medial gekonnte Insze-nierungen frisch erworbenen adligen Standesdünkels. Hierzu erging nämlich als erste gräfliche Amtsahandlung an Gattin und Töchter die Ordres zum fortan aus-schließlichen Tragens historischer Kleidung und Frisuren im unter Marie Antoinet- te um 1780 vorherrschenden Stil sowie zur verbindlichen Verwendung des Fran-zösischen als nunmehr einzige geziemende Haussprache; letztzeres übrigens mit dem nicht einmal von der Hand zu weisenden Argument, bereits Friedrich der Große sei hierin eindeutig versierter gewesen. Und um das neue Auftreten stil-echt abzurunden, hatte der Graf sich mitsamt seiner Familie vom traditionsbe- wusstesten Adligen Frankreichs, dessen Linie nachweislich, für Herrn Kaiser nahe-zu unfassbar, bis ins 9. Jahrhundert zurückging, während der hessischen Oster-ferien 2015 in einem zweiwöchigen Etikette-Spezialintensivkurs auf einem luxuri- ösen Château nahe St. Tropez im authentischen Gebrauch der seit Ludwig XIV. in Versailles gepflegten höfischen Sitten unterweisen lassen.

Kaum mit dem erworbenen Wissensschatz von der sonnigen Côte d'Azur an den Main zurückgekehrt, begann der ehemalige Krankenpfleger auf seinem Adels-blog Les-Plaisirs-de-Hanau@Nous_sommes_Versailles.com sogleich mit raffinierten Foto- und Videoposts, welche Familie Kaiser beim alltäglichen höfisch-heiteren Miteinander zeigten, unermüdlich bestrebt, einander gegenseitig an charmanten Galanterien zu überbieten. Zunächst -wie vorhergesehen- als Parvenu massiv nie-dergemacht, erzielte die verblüffende Echtheit kaiserleicher Courtoisie langsam aber sicher erste wohlwollende Kommentare aus den Tiefen der blaublütigen In-ternetwelt, weshalb Les Plaisirs de Hanau bald schon die ersten fürstliche Follow-erin und zugleich Newsletter-Abonnentin begrüßen durften.

 

Ja, Herr Tuki Tukan erinnerte sich auf seinem stabilen, sonnenverwöhnten Stamm-ast noch gut daran: Man war auf den Grafen aufmerksam geworden, und als Herr Kaiser kurz darauf sogar mit 72 adligen Followern und Abonnenten auf-trumpfen konnte, wagte er angesichts solcher Erfolge den ganz großen Wurf. Mit wohlbedachten französischen Worten lud der Newsletter zu einer sommerlichen Soirée capricieuse avec quelques petites surprises sans soucis in die Gebrüder Grimm Stadt ein, sollten sich laut Ankündigung doch sämtliche Getreuen einmal höchstpersönlich davon überzeugen lassen, dass die Kaisers höfisches Können eben nicht nur medial, nein, sondern vielmehr auch real als perfekte Gastgeber im Garten ihrer Doppelhaushälfte verstünden. Und wahrlich, selbst er, der Graf von Hanau persönlich hätte es kaum für möglich gehalten, dass die offerierte Exklusvveranstaltung binnen 30 Minuten vollständig ausgebucht sein würde. Alle 72 wollten dabei sein. Alle 72 wollten wissen, was es mit jenen Plaisirs wohl auf sich haben könnte. Sogar der 82. Earl of Tottenham, seines Zeichens Titelanwär-ter Duke of Normandy and Gascogne, auf dem Blog zweifellos des Grafen unan-gefochtene Galionsfigur, unterbrach extra zu diesem Zweck seinen Tauchurlaub in der Südsee; selbst bei einem plötzlichen Crash an New Yorks Wall Street wür-de er niemals so handeln.

An jenem denkwürdigen Johannistag anno 2015 also katapultierten sich die sü-perben Kaiser-Soirees wie aus dem Nichts kommend directement auf Platz 1 adliger Freizeit-Hitparaden der Kategorie "Zeitvertreibsmöglichkeiten lauwarmer Sommerabende zwangloser Art unter Gleichgesinnten", und bis heute erhebt der 82. Earl of Tottenham unter dem Eindruck bei Kaisers erlebter Galanterien gegen den Buckingham Palace erhebliche Vorwürfe, weil in Gärten einfacher Hanauer Doppelhaushälten, über denen ab und an Lärm sich im Landeanflug auf den Frankfurter Flughafen befindender Maschinen vernehmbar ist, höfische Sitten aut-hentischer gepflegt würden als im Zentrum royalen britischen Glanzes.

 

Ja, in der Tat, die europäische Noblesse wurde in der Mainstadt um keine ihrer hohen Erwartungen betrogen, der Graf hatte geliefert, erinnerte sich Herr Tuki Tukan zitternd an jenes Einstandsdebut vom 23. Juni, und seit diesem Tag genau überkam den Mittelamerikaner jedes Mal Angst, Furcht, Zorn sowie lähmendes Entsetzen, wenn Herr Kaiser wieder alle Bediensteten unter mahnendem Hände-klatschen anwies, ausgerechnet direkt vor seinem so innig geliebten Fliederbaum die großen Gartenmöbel aus der Garage für das nächste rauschende Fest schnell aufzustellen. Der Schrecken der Frontera Norte zwischen Costa Rica und Nicara- gua kannte nämlich folgende Abläufe inzwischen gut, weshalb er auch jetzt in der wärmenden Sonne erneut vor Kälte bereits dem morgen entgegenbibberte, wenn nach Abschluss des opulenten 7-Gängemenüs der unmissverständlich Ruhe gebietende Ruf des dreimal mit einem schweren Stock pochenden Zeremonien- meisters Attention! Se levez s'il vous plaît! Le Comte de Hanau veut rire mainte- nant! erklänge.

Prustend, schallendes Gelächter nur müshsam unterdrücken könnend, würde sich die illustre Hofgesellschaft wie einst an Johannis 2015 zu einer der drei Grund-stücksgrenzen begeben und jene erschütternde Szenerie von damals mit dersel-ben eisernen Präzision ablaufend wie Schweizer Uhrwerke aus Neuchâtel.

Damals nämlich, kurz nachdem die Kapelle Wolfgang Amadeus Mozarts Ein musikalischer Spaß aufzuspielen begonnen hatte, ließ der Graf von seinem Die-ner eine Platinschatulle herbeibringen, entnahm ihr zwei Unzen Krügerrand und schleuderte sie gracieusement über die Gartenhecke. Kaum war das geschehen, hörte man prompt auch schon die Nachbarn, und Herr Tuki Tukan hatte von sei-nem stabilen Stammast genau beobachten können, wie die fette Frau S. ihren Mann mit den Worten Ei Kall, nu geh scho hie, die Sabine und dern ihr Mann die brauche doch das Geld! keuchend und schnaufend zur Eile antrieb, sich so-fort das Präsent zu sichern, ehe andere lauernde Nachbarn mit dafür extra schon bereitgestellten Leitern über den Zaun klettern konnten, um eigentlich ihnen Zu-gedachtes noch unter der eigenen Nase wegzuschnappen. Amen, Amen, ich sa-ge euch, der Graf von Hanau wusste exactement, wie man Menschen kauft, um sich deren Wohlwollen zu sichern, damit niemand wegen ruhestörenden Lärmes zum Ordnungsamt ginge, welcher die geplagte Umgebung während der schö-nen Jahreszeit regelmäßig ohrenbetäubendem Wahnsinn verfallen ließ. 

Doch um die bisherigen starken Leistungen des Gottes Jocus coram publicum bis in den Superlativ zu steigern, drehte sich Herr Kaiser zur nach dem Goldwurf die Bäuche vor Lachen haltenden Festgesellschaft um und fragte in höfischem Ton: Comment pensez vous, mes chers amis? Encore une fois? Qui veut? Und DANN war er soweit, jener allgemeines Entzücken hervorrufende Auftritt dieser gräßli-chen Gacken, vor dem das heftig pochende kleine Tukanherz stets am meisten graute. Ein Selbstläufer. Denn also ob sie nur auf den väterlichen Wink gelauert hätten, stümten drei Furien gleichzeitig zur Gartenhecke los, darauf bedacht, un-liebsame schwesterliche Konkurrenz mittels Stößen, Beinstellen sowie anderer In-trigen möglichest effektiv auszusschalten, weil naturellement jede selbst das Privi-leg einer Wiederholung solch köstlichen Amüsements beanspruchte. Erst Frau Gräfins gestrenges Mahnen Baronesse! Marquise! Comtesse! Vous ne voulez pas se quereller, s'il vous plaît! ließ den Nachwuchs schockiert zusammenfahren und augenblicklich mit seinem Raufen, Kratzen, Kreischen, Treten, Heulen oder gar Beißen aufhören, weil keine der Angesprochenen spätere Erbnachteile riskieren wollte. Oui Madame la mère! Nous vous obéons au doigt!, riefen sie heuchlerich im Chor, um anschließend schleunigst ihre Gemächer für neue Kleider und Turm-frisuren aufzusuchen, während die übrige Gesellschaft inzwischen zum zwanglo-sen Teil des Abends überging, der vom akustischen Verhaltenslärmpegel her be-trachtet Friedrich Wilhlems I. legendärem Tabakkollegium bis weit in die frühen Morgenstunden hinein zur höchsten Ehre gereichte.

Herr Tuki Tukan sah: Spinnefeind waren sich die Töchter des Hauses durch solch unverhofftes Wirken Fortunas geworden. Einst fröhliche Mädchen, zueinander wie ein Herz und eine Seele, hatten rasch Missgunst, Neid sowie Verachtung dermaßen perfektioniert, dass bereits die erste große 5wöchige Sommerfrische 2015, welche Familie Kaiser statt wie bisher auf kleinen aber feinen Camping-plätzen fortan nur noch im fernen Singapur zu verbringen beabsichtigte, in kei-nem gemeinsamen Hotel möglich war. Den Jugendlichen erschien nämlich jenes mondäne Fullerton, wo ihre Eltern zu nächtigen gedachten, höchst spießig, prä-ferierten sie doch für die eigene Unterkunft absolut chice Boutiquehotels, weshalb Baronesse, Marquise sowie auch Comtesse samt Otourage im nahen Gallery ab-stiegen. Und damit keine von ihnen als Beschwerde vorbringen konnte, ein fies benachteiligtes Urlaubsopfer zu sein, war man übereingekommen, jede Tochter in einem separaten Hotelturm unterzubringen. Exakt dieselbe Suite Impériale. Ex-akt dieselbe Ausstattung. Exakt dieselbe Größe. Exakt derselbe hippe Blick auf die Marina. Exakt derselbe suiteneigene Wellnessbereich.

Allerdings konnte die gleichförmige Architektur der drei Hoteltürme nur unerfahre-nen Blicken suggerieren, dass es familienintern immer fair zuging, auch wenn äu-ßerlich betrachet tatsächlich kein berechtigter Anlass zu hysterischen Weinkrämp-fen bestehen konnte, weil vielleicht die imperialen Konkurrenzsuiten 0,5 bezie-hungsweise gar 0,7 Quadratmeter mehr an verschwenderischem Wohlfühlkom-fort aufwiesen. Ausgewiesene Kenner des Gallery ahnten nämlich sofort, dass Kaisers pädagogisch gerechtes Losverteilungssystem Hader, Neid und Zank nie-mals verhindern konnte.

Dummerweise gelangten Hotelgäste nämlich nur über die äußeren Gebäudelifte nach oben auf das surfbrettartige Pooldeck mit der angesagten Jamaicabar, wes-halb Herr Tuki Tukan genau wusste: Keine eine Niete in der Hand haltende Pech-marie wäre jemals zur demütigen Annahme ihres schrecklichen Schicksals bereit, anstrengende Umwege bis zum Genuss erfrischender Cocktails für Gotteslohn ge-hen zu müssen. Und sofort kamen sie wieder hervor, Bilder unschöner Szenen, welche sich nach beendetem Lotteriespiel vor seinem stabilen Stammast mit größ-ter Ungeheuerlichkeit abgespielt hatten, und jene der Soirees an Gemeinheiten weit übertrafen. Durch absichtlichen Verzicht auf die französische Haussprache wollte man gegenseitigen Hass in jetzt besonders demütigenden Formen veran-schaulichen. Laut keifende Ausrufe wie "Schämt Sie sich nicht, Ihre Schwester mit gefälschten Losen dermaßen zu betrügen?", "Oh! Sie ist eine wirklich impertinen- te Person!", "So nehme Sie augenblicklich Ihre ungewaschenen Finger von mir!" oder "Wage Sie es jetzt ja nicht!" gehörten daher noch zum Damenhaftesten, was "El Diablo" mit entsetzt abgewandtem Schnabel vernahm.

Lesern mag es daher zunächst paradox erscheinen, wenn Herr Tuki Tukan von seinem so innig geliebten Fliederbaum aus hingegen an manchen Tagen mit grö-ßter Bestürzung auf der Gartenterrasse das genaue Gegenteil beobachten mus-ste, wie sich nämlich dort ebenfalls entsetzliche Dinge zutrugen. Szenen, die für ihren gefiederten Betrachter dermaßen grauenvoll waren, dass er selbst zwielich- tigsten, teilweise steckbrieflich gesuchten Tukankumpanen von der Frontera Norte kein Krächzen darüber zu berichten wagte, aus panischer Angst, ihre Seele kön-nte daran Scahden nehmen. Fürchterliche Schreckensszenen, in denen sich sonst verhasste Schwestern zur außerordentlichen elterlichen Freude plötzlich mit einem Maß an Einigkeit, Harmonie sowie innigster geschwisterlicher Liebe brillierten, welches ihnen die blaue Couleur nach den bislang gewonnen Eindrücken kaum annähernd zugetraut hätte.

Als vom Glücksspiel geküsster Aufsteiger spukte Herrn Kaiser trotz erfolgreicher Soirees und Blogeinträge vom morgentlichen Erwachen bis zum abendlichen Ein-schlafen nämlich das Gespenst im Kopf herum, dass sein Titel, wollte der Graf es drehen und wenden wie er wollte, de facto nun einmal nicht auf Geburt beruhte. Daher trieb ihn zermürbende Unruhe um, beim nächsten großen Gartenereignis, auch wenn es kein Adelsbekannter offen ausspechen würde, insgeheim hinter vorgehaltenen Händen und mit lediglich zur Schau gestellter Bewunderung für mit meisterlicher Perfektion beherrschtes Zelebrieren des galanten Scherzes doch weiterhin nur als ehemaliger Krankenpfleger bemitleidet zu werden. Und als ob dieses innere Martyrium nicht schon Qual genug gewesen wäre, musste er zu allem Unglück eines Tages beim Internestsurfen konsterniert konstatieren, dass ihn allem Anschein nach erste alteingesessene Adelsfamilien schamlos imitierten: 18 Blogs zählte Herr Kaiser, die allesamt mit Les Plaisrs begannen und auf Franzö-sisch unter jahrmarktschreierischem Anpreisen formidabelster Scherz-Soireen mit obligatorischer Kleiderordnung wie einst am Hofe des Sonnenkönigs um blaues Blut buhlten.

Oh, oh, oh, wie der Graf von Hanau da tobte! Gekränkt fuhr er auf, rannte hi-naus direkt vor Herrn Tuki Tukans so innig geliebten Fliederbaum, wo dieser ge-rade seinen markanten Schnabel in die wärmde Sonne hielt, und stampfte wie Rumpelstilzchen mit den Füßen, dabei die Fäuste dem Himmel entgegen ballend. Plötzlich drehte er sich ruckartig um, dass ihm fast seine gepuderte Zopfperücke vom edlen Haupte gefallen wäre. So merke er wohl auf, gemeiner Pfefferfresser!, schrie Herr Kaiser mit ausgestreckten Zeigefinger zum gänzlich unschuldigen "El Diablo" herauf. Heißa, denn ich werde als Vertreter der Epoche Ludwigs XVI. ei-nen raffinierten Schelmenstreich durchführen, den sonst kein läppischer Adliger wagen würde!

Pfefferfresser! Beim Vernehmen dieses Wortes fuhr Herrn Tuki Tukan ein derart ge-waltiger Schrecken in sein im strahlenden Sonnenlicht leuchtendes Federkleid, dass ihn unvermittelt das Gefühl überkam, gleichsam von mächtigen Orkanböhen erfasst und hilflos hinfortgewirbelt zu werden. Doch als waschechter Mittelameri-kaner mit Belizés berüchtigten Hurricans bestens vertraut, wandte "El Diablo" so-gleich bei solch ungemütlichen Situationen altbewährte spezielle Festkralltechni-ken an, mit deren Hilfe nun standhaftes Trotzen gegen stürmische Eindrücke ei-nem Kinderspiel glich; ansonsten wäre er nämlich von seinem stabilen Stammast kopfüber auf den Rasen und dort Herrn Kaiser direkt vor dessen teure Schnallen-schuhe gepurzelt.

Mit dem gräflichen Aussprechen besagter Vokabel kamen nämlich schlagartig wieder äußerst schmerzvolle Erinnerungen auf, wie er 2014 seine geliebte Hei-mat Costa Rica zwangsweise verlassen musste. Herr Tuki Tukan hatte es nämlich in jenem Hotel, das ihm damals als exotischem Touristenbelustiger 10$ pro Tag zahlte, gewagt, Küchenchef Juan de Los Angeles auf die mehr als fragwürdigen Pfefferstreuerinhalte im Restaurant hinzuweisen, welche selbst all-inclusive-Touris-ten unzumutbar seien. Darüber erbost ließ dieser ihn jedoch sofort von zwei Aus-zubildenden packen, und panisch vor lauter Angst, er könnte gegenüber akri-bisch nach Gelegenheiten für Reisepreisminderungsanprüche suchenden Gästen jetzt Insiderkenntisse ausplaudern, ließ Hotelmanager Pedro de La Páz y El Paso den lustig kostümierten Bespaßer kurzerhand der Vogelvoliere überantworten. Anschließend befahl man schnurstracks dessen Verhökerung als Hauptgewinn beim anstehenden großen Familienspiel am palmengesäumten Pool. Doch damit nicht genug: Weil Fortuna Herrn Tuki Tukan klar verdeutlichen wollte, wirklich Lateinamerikas traurigster Pechvogel zu sein, manipulierte sie das Finale ausge-rechnet zugunsten seiner derzeitigen Besitzerfamilie, die bislang ausschließlich Campingurlaub kannte, und für zwei Wochen all inclusive in einem 5-Sterne Resort, 100 Meter vom Pazifik entfernt, Olga M., Erfinderin des Preisrätels aus Frau Kaisers Fernsehzeitschrift, auf Knien tausendfach Danke dir! schluchzten. So war er also mit Kaisers nach Hanau gekommen.

Doch bevor noch der grelle Schein des soeben emporgeschossenen Erinnerungs-blitzes wieder verleuchtete, sah man seine Durchlaucht bereits so schnell wie er aus der Doppelhaushälfte hinausgestürzt kam, laut Baronesse! Marquise! Comtes- se! Sortez de la maison, s'il vous plaît! rufend, eiligst in Richtung selbiger wieder hinstürmen. Nur wenige Sekunden später wollte oder konnte Herr Tuki Tukan auf dem stabilen Stammast seinen Augen kaum trauen, sah er doch drei Teenager, über jeden Verdacht intriganter Heuchelei erhaben, innigst Arm in Arm gehend, auf das Herzlichste miteinander plaudernd sowie dabei beim Verteilen schwester-licher Küsschen nicht geizend, zielstrebig auf Frau Kaisers Terrassenkübel zusteu-ern. Am Ziel angekommen bauten sie sich drohend vor den sympathischen Blu-men auf, und Marquise fauchte jede einzelne mit unfassbaren Worten an, die ihm wahrlich das Blut in den Adern gefrieren ließen: Paysan! Niedriger! Tue der Bauerntölpel hier nichts weiter als seine gottgewollte Pflicht und wage es niemals, seinen schmutzigen Stengel gegen unsere vom Herrn persönlich verliehene Herr-schaft zu erheben! Es möge ihm gar schlecht bekommen! Liefere er daher seine Leuchtabgaben gefälligst so wie von der Obrigkeit befohlen! Und während sie weiter Schlimmes redete, unterstützten Baronesse und Comtesse Marquises Dro-hungen unter herablassendem, höhnischem Grinsen, indem beide mit eindeuti-gen Gebärden eine Unkrautvernichtungsflasche, zwei Gartenscheren sowie eine Rolle Biomüllsäcke völlig schockierten Pflanzen entgegenhielten. Wie ärgerlich! In den Säcken ist noch so viel Platz für nicht farbig genug leuchten wollende Fau-lenzer, die nur unser kostbares Wasser verprassen!, lachten alle drei dabei hä-misch, während die Mama vom Balkon auf einer leeren Gießkanne zum ganzen Geschehen fröhlich den Takt trommelte.

Als das dröhnende Gießkannentrommeln schließlich verklungen war, öffnete sich plötzlich erneut die Balkontür, und heraus trat der Graf von Hanau, wie immer in maßgeschneiderter historischer Kleidung à la Louis XVI., zunächst huldvoll den lieben Töchtern zuwinkend, dann aber erneut beide Fäuste vermessen gegen das azurblaue Firmament gerichtet. Hahaha, tönte er los, ich gebe dir, Himmel, auf der Terrasse gerade einen kleinen Vorgeschmack von dem, was schon bald im großen Stil geschehen wird. Ich plane nämlich, die freiheitsliebende Gebrüder Grimm Stadt sämtlicher kommunaler Rechte zu berauben, und werde im Gegen-zug den absolutistischen Glanz der alten Grafschaft Hanau wiederherstellen. Ja, dieses Zeichen meiner unumschränkten fürstlichen Macht sei bloggenden Adels-konkurrenten Warnung sowie unnachahmbare Lehre zugleich!

Zunächst dachte Herr Tuki Tukan agesichts solcher Szenen, nach Gattin und Töch-tern sei lediglich auch noch der Familienvater völlig verrückt geworden. Doch recht bald schon musste er leider zu seiner großen Bestürzung feststellen, dass des Souveräns Ankündigungen keine leeren Phrasen darstellten. Und damit die in diesem Zusammenhang geplante Restitution uralter knechtender Feudalrechte kei-ne größeren Probleme bereiten würde, schickte der verwerfliche Mensch fortan täglich seine eigenen Kinder auf die Terrasse, um an der dortigen Pflanzenwelt zu exerzieren, wie er bald selbst mit den armen Hanauern umspringen würde. Und der einstige exotische Touristenbelustiger musste hilflos mitansehen, wie Frau Kaisers freundliche, friedliebende Blumen angesichts feudaler Drangsal fast elend zugrunde gingen. Leibeigenen gleich, rechtlos an die Kübelscholle gebunden, ächzten sie unter stetig steigenden Leuchtabgabenlasten, welche man durch Voll-führen oben beschriebener Gesten gnadenlos eintrieb.

Aber "El Diablo" vernahm zugleich auch ein allmählich aufkommendes Rumoren von der sich unweit seines so innig geliebten Fliederbaums befindenden gräfli- chen Terrasse. Es gärte sehr unter den Leibeigenen. In ihrer keinem menschlichen Ohr zugänglichen Sprache riefen die Pflanzen antikaiserliche Schmäh- und Buh-rufe, forderten das Niederreißen des ausbeuterischen Feudalsystems, an dessen Stelle eine Demokratische Herrschaft vereinigter Leuchttätiger aller Gärten tre-ten sollte. Und je heftiger der stumme Protest wurde, desto mehr stieg Frau Grä-ins Blumen aufrührerische Zornesröte in die vom Kapital geschundenen Blätter.

Und nachdem also Herr Tuki Tukan, unfreiwillig vom 2. Stockwerk herab auf den stabilen Stammast seines so innig geliebten Fliederbaums geflogen, dort über al-le diese Ereignisse, welche ihn seit 2014 nicht mehr zur Ruhe kommen ließen, sinniert hatte, sah er in sieben erschütternden Sonnenvisionen plötzlich finstere Regenwolken über Kaisers Doppelhausgrundstück aufziehen, unter deren mächti-gem Einfluss allerspätestens für Oktober 2017 eine gewaltige Revolution drama-tischer Ausmaße ihre Schatten vorauswarf.

Sovjetski Sojus 1

Erzählrunde 2

So zog also die Zeit Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat ins Land, und bald schon gaben die Dimensionen feudaler Knechtschaft, unter denen alle kaiserlichen Pflanzenuntertanen ächzten, seufzten und stöhnten, Herrn Tuki Tukan Anlass zu größter Besorgnis. Denn trotz sämtlicher stummen Proteste schienen sie als Gedemütigte letztlich nicht mutig genug für offene Aufstände gegen ersichtli- ches Unrecht. Zu eindeutig, zu unmissverständlich waren Kaisers regelmäßig de-monstrativ abgehaltene Drohgebärden, zu klar deren mimisch-gestischen Aussa- gen, dass ihre Vollführungen keinesfalls als für Betrachter zunächst vielleicht na-heliegende Generalproben adligen Scherzens gedeutet werden durften, mit wel-chem man illustre blaublütige Gäste während kommender, entsetzlich lärmender Gartenabende lachend erheitern wollte, sondern ausdrücklich als ultima ratio im Falle feudalen Ungehorsams. Und weil die Pflanzen dem selbstherrlich auftreten-den Grafen von Hanau samt Baggage inzwischen jede Schandtat zutrauten, ver-mieden sie strategisch mit größter Behutsamkeit jegliche Form menschlich wahr-nehmbarer Kritik am auf den Grundlagen des ancien régime basierenden Dop-pelhaushälftensystem.

In dieser ausweglosen Situation unterbreiteten zwei kluge Rosen schließlich Vor-schlag, es sei eventuell vorteilhafter, außerhalb botanischer Sphären nach starken Anführern zu suchen, welche Herrn Kaiser entschlossen Paroli bieten, ja, dessen furchtbare Tyrannei mutig beenden könnten. Allerdings war bei diesem von allen enthusiastisch begrüßten Plan unbedingt Vorsicht geboten, denn der verabscheu- te Despot hegte seit jenem delikaten Zwischenfall auf der Terrasse kurz vor den letzten Sommerferien außergewöhnlich starkes Misstrauen gegenüber seinen Lan-deskindern. An diesem Donnerstag nämlich wollte Tyche, dass Marquise, älteste Tochter des Grafen, dort missmutig in der schönen warmen Junisonne saß und von ihrer Lehrerin aufgegebene Geschichtsbuchseiten durcharbeitete. Als Vorneh-me ohnehin zu Höherem berufen fühlte sie dabei - wie immer wenn es ums Ler-nen ging - nicht das geringste Bedürfnis nach gymnasialer Bildung, verspürte da-für aber plötzlich ein umso größeres. Sofort erhielt Hofdame Jeannette rasche Zeichen, umgehendst oben im Privatgemach die hierfür benötigten Utensilien vor-zubereiten sowie das Fenster weit zu öffnen. Es mag Lesern schier unglaublich klingen, doch als Kopierer Versailler Sitten immer um akribische Authentizität be-müht, ließ Herr Kaiser nach seinem Titelkauf tatsächlich sämtliches Interieur aus den Badezimmern sowie der Gästetoilette entfernen mit der verblüffend logischen Begründung, im Briefwechsel Liselottes von von der Pfalz lese er nicht einen Hin-weis auf damals im Schloss existierende sanitäre Einrichtungen.

Nachdem sich Madame also von ihrer Sonnenliege erhoben hatte, legte sie das aufgeschlagene Lehrbuch bis zur Rückkehr auf den Boden direkt an eines der Kü-bel. Neugierig wie Blumen nun einmal sind, versuchten sie gleich Blicke darauf zu erheischen und staunten nicht schlecht als ihnen Jacques-Louis Davids 1791 enstandene Federzeichnung Serment du Jeu de paume im Sonnenlicht entgegen-glänzte. Schlagartig kam allen daraufhin die Idee, den damaligen Abgeordneten des Dritten Standes von 1789 nacheifernd auf der gräflichen Terrasse eine ähnli-che Versammlung abzuhalten und ebenfalls nicht eher auseinanderzugehen, bis sie Familie Kaisers Gartenhälfte eine revolutionäre Verfassung gegeben hätten - sowie darüber hinaus allen benachbarten Gärten.

Die Pflanzensprache ebenso gut beherrschend wie Mandarin, war Dennis Kevin Kaiser Graf von Hanau dennoch zutiefst misstrauisch geworden, seit er an besag-tem Nachmittag das von Marquise beiseite gelegte, später einfach desinteressiert liegengelassene Schulbuch entdeckt hatte. Wie Luchse lag Seine Durchlaucht nun fortan vom Wohnzimmersessel aus potentiell gefähliche Terrassen- beziehungs-weise Gartengeschehnisse beobachtend auf der Lauer und prüfte mit Hilfe über-raschender Kontrollbesuche, ob sich da draußen gerade etwas gegen ihn zusam-menbraute. Aufgeplustert rief er dabei Kübeln und Beeten zu: Pflanzengesindel, ihr! Nur unnütze, teure Wasserschlucker! Hört jetzt nur recht fein zu: Sollte auch nur einer von euch elenden Taugenichtsen bei irgendwelchen Umtrieben erwischt werden, so wisset, dass wir für jeden Schmarotzer den passenden Subsidienver-trag schon unterschriftsreif in unserer Schublade parat halten! Seine britannische Majestät freut sich gar sehr auf euren tapferen Einsatz! Historische Laien seiend verstanden sie zwar den Wortsinn nicht, wohl aber dessen eindeutige Bekräfti-gung, indem des Grafen rechte Hand zornig am Griff seines Degens aus purem Gold rüttelte, als ob er ihn im Affekt augenblicklich ziehen wolle. Und bestimmt wäre dies auch geschehen, wäre El Desperado nicht jedes Mal beherzt herbeige- flattert, um mit drolligen Flugkünsten den Drohenden vom Schlimmsten abzuhal-ten. Potzblitz!, schallte es dann freudig empor, auf gar possierliche Kunststücke versteht er sich wahrhaft vortrefflich. Costa Rica hat ihm anscheinend doch etwas Nützliches beigebracht! Und sichtlich amüsiert verschwand Herr Kaiser daraufhin wieder im Wohnzimmer. Fürs erste war die akute Gefahr also gebannt.

 

Auf diese kaprizösen Flugkapriolen waren die Pflanzen auf ihrer Suche nach ge-eigneten Anführern gleich bei Herrn Tuki Tukans erster Rettungsaktion aufmerk-sam geworden. Eine solch virtuos behrrschte Luftakrobatik bestätigte genau jenen Ruf, welcher El Desperado  2014 bereits während des Fluges San José - Frankfurt längst eilig vorausgeflogen war, auch wenn er ihm nicht unbedingt zum schmei-chelnden Vorteil gereichte. Los Pimienteros, so hatte es sich in der Tier- und Pflan-zenwelt selbst bis nach Hessen herumgesprochen, nennt Lateinamerika mittlerwei-le jene skrupellosen Tukangangs, die tagein tagaus Costa Ricas Landstraßen von der Nord- bis zur Südgrenze unsicher machen und dabei mit derart schockie-render Brutalität vorgehen, dass - auf Deutschland übertragen - Aktenzeichen XY ungelöst aus ethischen Gründen davon Abstand nehmen würde, auch nur einen einzigen Fall filmisch zu rekonstruieren.

Die Tricks sind immer dieselben. Sobald Beobachter dank ihres feinen Geruchs-sinns beispielsweise auf der Panamericana in Richtung Nicaragua fahrende, mit Pfeffer beladene Lastwagen ausmachen, geben sie unmittelbar an 300 Meter ent-fernt wartende Komplizen laute Krächzzeichen. Und selbst hartgesottenen, volltä-towierten Truckern aus Stahl, durch zermürbende Grenzkontrollen abgehärteten, echten Kerlen, rührt das Männerherz, wenn sie direkt neben dem Fahrerfenster plötzlich Tukane erblicken, welche beim Fliegen abwechselnd gegenseitige Bock-sprünge vollführen. Und weil es unendlich putzig wirkt, hält manch Grünschnabel an, um den charmanten gefiederten Gesellen als Belohnung etwas zum Essen und Trinken zu geben. Ein schwerer Fehler.

Von dankbaren, niedlichen Äuglein verzaubert bemerkt leider keiner, dass wäh-renddessen billige, an San Josés Busbahnhof angeheuerte Handlanger hinten die Ladeklappe öffnen und so viele Säcke wie sie tragen können auf Schultern zum abseits der Straße geparkten Kleintransporter schleppen. Erst durch Hupkonzerte vorbeifahrender Fahrzeuge, aus deren hastig heruntergekurbelten Scheiben Fah-rer ängstlich Atención, pimienteros! rufen, werden Übertölpelte wach. Einschrei- ten wäre allerdings unratsam, denn sogleich drohen mehrere riesige, spitze Tu-kanschnäbel, beim geringsten Widerstand stächen sie sämtliche Reifen platt. Da-mit bleibt den Gutherzigen nur hilfloses Zuschauen übrig.

Ist der Spuk endlich vorbei, brausen die Kapitäne der Landstraßen weiter, bange Blicke in den Rückspiegel werfend, ob Bandenmitglieder ihnen vielleicht heimlich hinterherfliegen. Und wer zum Beispiel die frontera norte nach Nicaragua pas-sieren will, versucht weiteren bösen Überraschungen zuvorzukommen, indem der letzte Truck im endlosen LKW-Stau vor der Grenze schleunigst vor seinen Augen auftaucht. Erleichtert betet er auf Latein drei Pater noster sowie zehn Ave Maria, sobald sein schwerer Camion nach oft ungezählten Stunden dann endlich am ret-tenden Schlagbaum vorbeiholpert, welcher ihn der Tukanhölle Costa Rica entrin-nen lässt. Was sind schon dagegen teilweise mehrtätige Abfertigungswartezei-ten? Zumal gelegentlich freundliche Frauen vorbeischauen. Das Paradies!

Unendlich dankbar zeigen sich auch Touristen, denen auf der Panamericana we-sentlich Schlimmeres widerfährt, einfache Gemüter, die im Hotel beim geschäfts-tüchtigen Reiseleiter vor Ort die große Nicaragua-Tour buchen in der trügerischen Annahme, bald den spannendsten aller angebotenen Tagesausflüge genießen zu dürfen. Frohgemut an ihren großen Fenstern vorbeiziehende fremde Landschaften bestaunend kündigen erste begeisterte Rufe nahendes Unheil an: Mami, sieh nur, da fliegen Tukane neben unserem Bus her und schlagen dabei total witzige Pur-zelbäume! Mensch, Mami, guck mal, der da kann sogar während des Fluges ein Rad schlagen, einfach so! Boah, die sind ja soooooooooooooo süüüüüüüüüüß! --- Und jetzt schau nur, Tina, nun winken uns alle auch noch mit ihren niedlichen Flügelchen zu, bestimmt möchten sie von dir fotografiert werden. Aaaach, ist das schnuckelig! Ich gehe gleich nach vorne zu Pedro, damit er mal kurz anhält. Du bleibst solange bitte brav auf deinem Platz!

Erfahrene Busfahrer geben nach Vernehmen des geschilderten Anliegens freilich erst recht Tempo, angefeuert vom Reiseleiter, um Gottes Willen doch bitte stärker aufs Gaspedal zu treten. Jedoch erzwingen naive, gewissen Passagieren auf der Having Fun Forever nicht unähnliche Insassen immer wieder Stopps, so wie jene Mutter, die ihre geliebte Tina nicht länger weinen sehen wollte: Ich sage es Ihnen nun zum letzten Mal: Meine Tina will Tukane fotografieren. Jetzt. Und wenn Sie nicht sofort anhalten, werde ich mich über Sie beschweren! Und Trinkgeld gibts auch keins. Wir haben schließich für die Tour bezahlt und wollen für unser Geld etwas geboten bekommen! Comprende? Ein schwerer Fehler.

Kaum sind beide Türen geöffnet, flattern wie aus dem Nichts auftauchend weitere Tukane unvermittelt auf der Vorderseite ins Businnere hinein, krächzen flügelschla- gend dermaßen laut, dass man seine Ohren zuhalten muss; was jedoch schwie-rig ist, weil sämtliche Banditen direkt über völlig verwirrte Touristenköpfe hinweg-schießen und dabei in voller Absicht deren Frisuren zerzausen. Während die Ta-gesausflügler also angstvoll schreien sowie dabei wild herumfuchteln, folgen den Ablenkern nun die Lockvögel von eben, packen im totalen Chaos mit trainierten Schnäbeln geschickt Handtaschen, Fotokameras, quasi alles leicht entwendbare Material, und ehe Reisende überhaupt realisieren, wie ihnen gerade geschieht, verschwindet auch schon das letzte putzige Tukanschwänzchen flink aus der Hin-tertür.

Weil aber die Verstörten den Überfall grob fahrlässig selbst herbeigeführt haben, werden die Fahrten rücksichtslos, wenn auch panisch, fortgesetzt (weshalb übri-gens an der Grenze immer wieder Szenen ins Auge stechen, wie sich Busfahrer und Pfeffer transportierende Trucker noch auf den letzten Metern vor dem Schlag-baum halsbrecherische Straßenrennen liefern, weil jeder Verzweifelte unbedingt zuerst das rettende Nicaragua erreichen will). Reisende, deren Pässe gestohlen wurden, lassen Reiseleiter bis zur Wiederkehr einfach an der Grenze zurück, wo sie unter zwielichtigen illegalen Geldwechslern oder weitaus suspekteren Gestal-ten ungenehme Stunden verbringen. Diejenigen aber, die weiterfaren dürfen, be-treten sofort beim Erreichen Granadas die Kathedrale, um vorsorglich Kerzen für den ihnen ja noch blühenden Rückweg nach Costa Rica anzuzünden. Ja, flehent-liche Gelübde angesichts akuter Gefahren bangender männlicher Touristen evan-gelischen Glaubens vernahm mancher Kirchenbesucher bisweilen schon am ge-weihten Ort: Hilf du heilige Anna, ich will ein Mönch werden! Mit festem Gott-vertrauen, dass ihre Stoßgebete als Wolke schnell von einem der Glockentürme zum Himmelstor aufsteigen werden. Erfolgreich anscheinend, denn der Bischof meldet bis heute regelmäßig stolz nach Rom, nirgendwo anders sehe er mehr zu lobende Rückbesinnungen getrennter Glaubensbrüder auf Martin Luther als hier in Granada.

 

Ein Tukan mit bewegter, umtriebiger Vergangenheit, über die ganz Lateinamerika vom Rio Grande bis hinunter nach Patagonien selbst drei Jahre nach seinem Ab-flug immer noch sprach, erschien nun den kaiserlichen Leuchtknechten als prä-destinierter Revolutionsanführer. Genau DEN wollten sie! Einen, der seinen be-rüchtigten Gangnamen weniger aufgrund selbst gestreuter romantisch-verklären-der Legenden trug, sondern vielmehr jeder einzelne Buchstabe auf Costa Ricas Straßen wirklich hart verdientes Brot war: E l  D e s p e r a d o . Einen, der nur deswegen als bemitleidenswerter Pechvogel mit Kaisers nach Deutschland fliegen musste, weil er einmal im Leben auf Mutter Tukans Ermahnungen gehört hatte, er solle gefälligst ehrlichen Tätigkeiten nachgehen. Einen, der bis zur krassen Fehl-entscheidung, in Guanacastes exklusivstem 5-Sterne-Resort als exotisch kostümier-ter Belustiger aufzutreten, immer zur Stelle war, wenn irgendwelche verwegenen Kumpanen Hilfe benötigten.

Mit diesem Vorwissen über ihn traten sie also an Herrn Tuki Tukan heran, berich-teten über ihren am 20. Juni feierlich geleisteten Ballhausschwur, verbunden mit innigsten Bitten, ob nicht er sich ihrer Sache annehmen könne. Nur dann bestün-den gute Erfolgschancen, das übergrundstückliche Ziel Demokratische Herrschaft Leuchttätiger aller Gärten bald botanische Realität werden zu lassen, ihre Mög-lichkeiten seien hierzu leider begrenzt. Und da sich der gelernte Wegelagerer als glühender Anhänger kubastämmiger Parolen über eine exportación de la revolu-ción aus Überzeugung sowieso niemals mit Herrn Kaisers Doppelhaushälftenfeu-dalismus identifizieren würde, allen Schnabelkenntnissen zum Trotz, erhielten die Bittsteller dessen verbindliche Zusage, den Möchtegerngrafen wunschgemäß aus Versailles fortjagen zu wollen.

 

Nur zehn Tage später bot sich Herrn Tuki Tukan bereits eine günstige Gelegenheit zu konkreten Umsetzungen jener denkwürdigen Vereinbarung. Hessens Herbstfer-ien begannen, und Familie Kaiser brach wie jedes Jahr um diese schöne Jahres-zeit zum Urlaub ins Berchtesgadener Land auf. Kaum waren die Rückleuchten der angeberisch hupenden weißen Luxuslimousine um die Straßenecke verschwun-den, stahl sich El Desperado, den man als Hausaufpasser einfach alleine zurück-ließ, auch schon klammheimlich in Marquises Zimmer. Aus ihren Schulbüchern erhoffte er sich nämlich revolutionäre Inspirationen, und tatsächlich, kaum durch-blätterten seine gewitzten Krallen das Geschichtsbuch, fiel ihm ein Revolutionsda-tum auf, welches sich interessanterweise  2017 auch noch zum hundertsten Male jährte. WAS für eine Eingebung! Das war DIE brillante, zündende Idee! SO sollte es über die Bühne gehen! Ähnlich wie damals die Bolschewiki würde er am 26. Oktober vom Garten aus die Terrassentür des kaiserlichen Winterpalastes stür-men, alle Räumlichkeiten besetzen, den Grafen von Hanau per Proklamation ab-setzen sowie anschließend sämtlichen Grundstückspflanzen ihr Botanikrecht auf Selbstleuchtbestimmung zusprechen. Im Anschluss daran sollten dann die ehema-ligen Feudalsklaven Kubas Revolution in umliegende Nachbargärten tragen.

 

Nachdem seine Enscheidung für eine Adaption der folgenreichen Ereignisse von 1917 gefallen war, ging es Herrn Tuki Tukan wider Erwarten um die wichtige Überlegung, welcher genaue Termin überhaupt zum revolutionären Losschlagen in Frage kam. Stand doch auf Seite 229 hinter dem Oktoberdatum zugleich der 7./8. November als eingeklammertes Zweitdatum daneben. Dieser merkwürdige Umstand verwirrte seine hitzigen Pläne zunächst gewaltig. Eine passende Such-eingabe klärte jedoch rasch darüber auf, dass im damaligen Russland noch bis zum Februar 1918 der Julianische Kalender Gültigkeit besaß, also die Oktober-revolution strenggenommen Novemberrevolution heißen müsste.

Nach langem hin und her Überlegen kam ihm daher die gänzende Idee, zur Klä-rung des Kalenderdilemmas das Wahrsageorakel seines Frauchens zu konsultie-ren. Wie er anschaulich wusste, bestürmte Marquise täglich voller Ungeduld ein Tarotdeck mit dringenden Herzensfragen, wann nun endlich bald ihr süßer Mär-chenprinz am Vorgartentürchen klingele und sie in der von 12 edlen weißen Rös-sern gezogenen goldenen Kutsche vom elterlichen Doppelhaus auf schnurgera-dem Weg ins romantische, direkt an Frankreichs berühmter Loire gelegene Traum-schloss entführe. Gut, selbst wenn Statistikauswertungen bislang erfolgreich getä- tigter, gleichaltrige Mädchen vor grünem Neid erblassen lassender Liebesprophe-zeiungen trotz fester Glaubensanstrengungen exakt bei Null lagen, hoffte El Des-perado, über gelegte Karten zumindest vage taktische Empfehlungen zu erhalten, wie dringend gegenwärtiger Handlungbedarf bestand. Gehandelt werden mus-ste, das war klar. Doch ob Lenins Neo-Revolution umgehendst anzuraten sei oder bis November ausreichend Zeit verbliebe, diese quälende Frage müsste ihm Mar-quises weises Tarot de Marseille wenigstens beantworten können.

Daher schlich sich Costa Ricas legendärster Pimientero am späten Abend des 25. Oktober 2017 erneut ins Privatgemach seines Frauchens und stiebitzte routiniert besagtes Tarot de Marseille aus dem Schreibtisch. Anschließend zündete Herr Tu-ki Tukan auf der kleinen Kommode die geheimnisvolle magische Kerze an, schal-tete das störende Zimmerlicht aus, konzentrierte sich Marquise imitierend mit fest geschlossenen Augen entspannt ausschließlich auf die inneren Gedanken, misch-te profimäßig mehrfach den dicken Kartenstoß, bis er schließlich aus dem Stapel, begleitet von bereits unguten Vorahnungen, zwei Karten zog.

Nähere Betrachtungen des ausgelegten Blattes im abgedunkelten Raum bestätig-ten sofort jenes mulmige Bauchgefühl. Du neine Güte, was ist das? Mir schwant nichts Gutes!, schoss es ihm durch den Kopf. Er fror beim Gedanken, dass hier garantiert keine gute Bilderkombination vorlag. Kartenleser Herr Tuki Tukan such-te dennoch fieberhaft nach positiven Deutungsmöglichkeiten, doch egal wie sehr er auch seinen Wahrsagerschnabel dabei drehte und wendete, düster flackern-der Schein ließ nur schemenhafte Figuren sowie unscharfe Konturen erkennen, aus denen wohl selbst Madame Lenormand keine verwertbaren Botschaften he-rausgelesen hätte.

So verscheuchte El Desperado jene von Marquises geheimnisvoller magischer Kerze erzeugte Atmossphäre, indem er wieder den Lichtschalter betätigte, um die Kartenbotschaft bei Helligkeit zu betrachten. Fast wäre der abgebrühteste Lockvo-gel, welchen man bislang auf der Panamericana erlebt hatte, beim Anblick jener nun in voller Schärfe sichtbaren Mitteilung vor Schreck auf den Fußboden gepur- zelt: Viermal mussten beide Augen hinschauen bevor sie glaubten, was das Uni-versum ihnen Fürchterliches kundtat. Und mochte sich auch sein kecker Schnabel erneut drehen und wenden wie er wollte, die Bildkombination blieb stoisch auf ihrem eingenommenen Platz liegen.

Als erste Karte war LE DIABLE gefallen, gefolgt von L'EMPEREUR, welcher also von rechts geraden Blickes auf Gottes Widersacher blickte. Einfacher ging es kaum. Welcher Tarotexperte, bitte schön, durfte noch Zweifel hegen? Madre de Dio!, hallte es wehklagend. Ich habe es immer gewusst: Herr Kaiser steht mit dem Teufel im Bunde! Nur durch dessen Hilfe beim Glücksspiel konnte er sagen-hafte 330 Millionen Euro anhäufen sowie den Adelstitel kaufen! Mit dieser er-schütternden Entlarvung des Grafen von Hanau als Teufelsbündler erübrigte sich jedes weitere unnütze Sinnieren: Die Revolution musste sofort zum Oktoberdatum beginnen, im November konnte alles zu spät sein. 

Eine Kleinigkeit aber blieb noch. Natürlich wusste jeder im Rhein-Main Gebiet le-bende, einigermaßen halbwegs gebildete Tukan, dass weder in Hanau noch be-nachbarten Mainkommunen Aurora ankerte, die Revolutionären spätabends am 25. Oktober einen Kanonenschuss als Startzeichen hätte geben können. Aus die-sem Grund sah sich El Desperado zu kleinen, aber nicht unerheblichen planeri- schen Änderungen gezwungen. Während Lenins Genossen einst auf deren ertö- nenden Signalknall warteten, beschloss er, stattdessen bei Familie Kaisers Pflan-zen vor Beginn Farbproben auszuwerten; dadurch sollte visuell überprüft werden, ob innerhalb der lokalen botanischen Welt die revolutionäre Stimmung an jenem historischen Tag wirklich schon zur Palaststürmung entschlossen sei. Weil hierfür Tageslicht unabdingbar war, verlegte Hessens Che Guevara die 1917 nach Mit-ternacht durchgeführte Operation nun auf den Vormittag.

 

Gegen 08.50 Uhr schließlich erschien der ehemalige Straßenräuber voller Taten-drang auf der Terrasse und begann umgehend mit seiner eingehenden Analyse aller sich ihm von dort aus bietenden herbstlichen Gartencolorationen. Zwar ver-hinderte über Hanaus Häuserdächern hängender Nebeldunst prächtige Farben-spiele im Morgenglanz, doch aktuell vorliegende Helligkeitsverhältnisse erlaubten sorgfältig prüfenden Tukanblicken auch ohne leuchtende Sonnenstrahlen die hin-reichende Feststellung, dass der Japanische Fächerahorn gemeinsam mit den Bo-dendeckern für rote Aktivitäten grünes Signallicht gaben. Man hätte wirklich rote Tomaten auf den Augen haben müssen, um derart leicht verstehbare Zaunpfahl-winke nicht gleich zu verstehen. Der schicksalshafte Moment war gekommen, Au-roras Farbschuss gefallen. Es gab kein Halten mehr, es gab kein Zurück.

So stürmte Herr Tuki Tukan also exakt zum hundertsten Jahrestag des 26. Oktober 1917, es war ein trüber Donnerstagmorgen, um Punkt 09.20 Uhr vom Rasen aus über den leichten ansteigenden Rampenaufstieg vorbei an dem das flatternde re-volutionäre Blätterbanner schwenkenden Japanischen Fächerahorn zielsicher auf die von ihm in Anlehnung an jenes damals unverschlossene Haupttor extra einen Spalt geöffnete Terrassentür zu. Wie einst der Petrograder Winterpalast leistete auch 2017 Hanaus absolutistisch regierte Doppelhaushälfte keinen Widerstand. Und bevor Costa Ricas diebischster Luftakrobat mit gewaltigem Satz ins kaiserli-che Wohnzimmer sprang, erfüllten helle, lautgewaltig erschallende Klangfarben der Oktoberrevolution Herrn Souveräns Grundstück, als El Desperado pathetische Komsomolzenliedzeilen längst vergangener Zeiten schmetterte, welche er vor ge-raumer Zeit gemeinsam mit Marquise im Fernsehen gehört hatte. Fröhlich feiern-de Ex-Sowjetbürger wollten damit wohl die Reporter der Dokumetationssendung mit einem ausgefallenen musikalischen Datscha-Ständchen ganz besonders jour-nalistisch erfreuen. Deren Parolen lauteten etwa folgendermaßen:

 

Meine Adresse ist keine Straße.

Meine Adresse ist kein Haus.

Meine Adresse ist die Sowjetunion!

Nachdem die mit wehender roter Fahne stattfindende, von begeistert mitsingen-der Herbstbepflanzung begleitete Erstürmung der Terrassentür binnen zwei Minu-ten reibungslos vonstatten gegangen war, vernahm man auch schon aus dem In-neren des Wohnzimmers lautes Gekrächze, der grässliche Tyrann, Graf von Ha-nau sei hiermit abgesetzt. Kaisers Planzen dürften daher fortan ihre Leuchtge-schicke in freier Eigenregie lenken. Kaum hatte El Desperado seine enthusiastisch beklatschte Proklamation verkündet, sahen ihr Glück kaum fassen könnende revo-lutionären Massen voller Genugtuung, wie Genosse Tukan die große Schiebetür von innen schloss, den Hebel hochdrückte sowie anschließend sämtliche Rollä-den herunterließ. Und an allen Türklinken hörbare Geräusche deuteten an, dass der Revolutionär irgendwelche Gegenstände darunter stellte, damit kein feudaler Ausbeuter sie bei der Rückkehr aus Bad Reichenhall erfolgreich betätigen konnte.

 

Gaius Julius Caesar (wir meinen jetzt nicht Danny Brown!) hat im ersten Buch sei-nes berühmten Kriegstagebuches De bello Gallico einmal die kurze Überlegung angestellt, worauf der von ihm konkret geschilderte erste größere militärische Tri-umph gegen die Helvetier kausal zurückzuführen sei. Es gelang ihm nämlich, de- ren Nachhuten beim Überqueren des Flusses Rhône erfolgreich anzugreifen, Tigu-riner, also ausgerechnet jener helvetische Volksstamm, welcher seinerseits Roms Heer 107 v. Chr. bei Agen vernichtend geschlagen hatte. Angesichts solcher Ver-quickungen führt Caesar, der laut eigener Aussage mit diesem Erfolg staatliches wie persönliches Unrecht rächen konnte, nun puren Zufall oder Wille unsterbli-cher Götter als Deutungsmöglichkeiten für ihren Eintritt an:

 

ita sive casu sive consilio deorum immortalium, quae pars civitatis Helvetiae in-signem calamitatem populo Romano intulerat, ea princeps poenas persolvit. (I, 12, 6)

 

Und so wie Caesar seine Frage selbst unbeantwortet lässt, bitten auch wir Karus-sellpferde unsere Leser darum, sich ihr eigenes Urteil bezüglich jener merkwürdi-gen Tatsache zu bilden, dass just am selben, unter dem Terminus Der Sturm auf die Terrassentür in die Geschichtsannalen eingegangenen Tag Dennis Kevin Kai-ser Graf von Hanau sowie Hessens amtierender Ministerpäsident im Inneren ei-ner rot-weiß lackierten Gondel der Predigtstuhlbahn Pragmatische Sanktion von Bad Reichenhall genannte Dokumente unterschrieben, mit denen sie das Ausmaß der von Herrn Tuki Tukan angezettelten Revolution sogar noch übertrafen. Durch diese Verträge wurde nämlich Jakob und Wilhelm Grimms Geburtsstadt wieder zur selbständigen Grafschaft erklärt, als welche Hanau bis anno 1736 existiert hatte; am Stichtag >26. Oktober 2017< bestehendes Stadtgebiet wurde dabei per Unterschrift ausnahmslos souveränes Territorium einer neuen Landesherrschaft neo-absolutistischer Prägung.

Weil besagte Sanktion nicht nur staatsrechtlich äußerst heikel war, sondern vielen heimatverbundenen Hessinnen und Hessen auch entsetzlich demütigend vorkom-men musste, wollte selbst Herr Kaiser keinem kartographisch erfassten hessischen Ort die ewige Schmach seiner Unterzeichnung zumuten. Er akzeptierte deshalb politische Vorschläge hinsichtlich neutraler, vor neugierigen Blicken abgeschirm-ter, eo ipso mobiler Position in luftigen Höhen anderer Bundesländer, wobei die Wahl rasch auf des Grafen Urlaubsdomizil fiel.

Grob skizziert hatten Unterhändler beider Vertragsparteien das Unterschriftenze-remoniell protokollarisch folgendermaßen festgelegt: Nach gegenseitiger knap-per, nüchtern ausfallender Begrüßung am Kassenschalter der Talstation begaben sich Herr Kaiser, Hessens amtierender Ministerpräsident plus weitere ranghohe Delegationsmitglieder schweigend, äußerlich frei von jeglichen Anzeichen emo-tionaler Regungen zur für diesen Zweck extra angefertigte "Vertragsgondel" als eine täuschend echte Nachbildung im Regebetrieb eingesetzter Seilbahnkabinen. Um beider Parität und Ebenbürtigkeit klar hervorzuheben, bestiegen Herr Kaiser sowie Hessens Landesvater anschließend mit exakt vorgegebenen Synchronschrit-ten ohne Zeitverzögerung das Gondelinnere, gefolgt vom übrigen Delegations-corps, wobei auch hier jegliche Form überparteilicher Kommunikation streng un-tersagt war. Frostige Atmossphäre. Kein Geplauder. Kein Lächeln. Kein Scherzen. Kein Small Talk. Nichts Aufmunterndes. Aber routinierte Protokolle wissen ja nur allzu gut, wie sie Zeremonienteilnehmern noch weitaus unterkühltere Abläufe bie-ten können. Mit voneinander abgewandten, eigene Wichtigkeit beziehungsweise Bedeutung demonstrativ betonenden Rückenpartien, absolvierten nun die Delega- tionen Hessens und Hanaus die atemberaubende Fahrt, bis ... ja ... bis zu jener Stelle kurz vor Erreichen der Bergstation, als das Kabinengefährt gemäß Verein-barung abrupt anhielt. Weit weg vom Erdboden im luftigen Niemandsland unter geschickten Tarnschleiern eines zwanzigminütigen technischen Defektes verbor- gen vollzog man schließlich nach nochmaliger Verlesung sämtlicher Modalitäten durch den Protokollchef (der einzige Redebefugte überhaupt), die Vertragsunter- zeichnung, wobei vorhin erwähnte Körperhaltungen explizit beibehalten werden mussten. Kein Umdrehen. Kein Händeschütteln. Nichts. Außer leise hörbarem Pa-pierrascheln. Kaum waren 20 Minuten "Pannenaufenthalt" verstrichen, fuhr Bad Reichenhalls schmucke Pseudoseilbahn so wie sie gemütlich hinaufgefahren kam in entgegengesetzter Richtung auch schon wieder gemächlich talwärts und beför-derte ihre Insassen sicher zum Ausgangspunkt dieser denkwürdigen Fahrt zurück. Und ähnlich wie einst die Having Fun Forever teilte auch jene arme, auf Außen-stehende täuschend echt wirkende Predigtstuhlbahngondel das traurige Los, bald darauf als unliebsame Zeugin unglaublicher Vorgänge zwar nicht in Port Belike, aber dennoch auf einem Schrottplatz zu landen. Kein Mensch würde also jemals den historischen Abkommensort ausfindig machen können.

Zufälligerweise - oder eben auch nicht - lag ausgerechnet die Hanauer Delega-tionsseite ausgerechnet jenem Blickradius zugewandt, der hoch oben vom Gipfel des Predigtstuhls für dort befindliche Ausflügler perfekt einsehbar war. Damit jetzt während der Zeremonie kein Gipfelbesucher beim neugierigen Fernglasblick be-ziehungsweise eifrigen Fotografieren herangezogener Motive, sei es Zufall, sei es Götterwille, einen ihm stolz entgegenschauenden Siegertyp in auffälliger ele-ganter Mode à la Louis XVI. ausmachte und dabei sogleich an den inzwischen auch bei Bürgerlichen zum Internetstar avancierten Grafen von Hanau mit inzwi-schen weltweit rund 1 Million Followern denken mussten, verknüpft mit legitimen Spekulationen, was denn bloß um alles in der Internetwelt ein wie bunte Hunde bekannter Blogger auf Bad Reichenhalls Hausberg führen mochte. Kreiert Seine Durchlaucht etwa für kommende Blogeinträge neue, exquisite, so noch nie da ge-wesene höfische Kapricen? Hat er vielleicht doch die von User Riche-Lieu1970 bereits längere Zeit vermutete  geheimnisvolle, stets verschleierte Favoritin? Damit im Netz wilde Kabinengerüchte von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, informierten deshalb überall auf dem Areal aufgestellte Schilder unmissverständ- lich über dort für den gesamten 26.10.2017 bestehende strikte Fotografier- und Fernglasnutzungsverbote. Zuwiderhandlungen drohten saftige Geldbußen in Hö-he von bis zu 20.000 Euro. Hätte das Protokoll Hessens amtierendem Minister- präsidenten die Hanauer Seite zugedacht, wir Karussellpferde sind uns hundert-prozentig sicher, es wäre nicht anders gehandelt worden.  

So verwundert es kaum, dass unter den unwissend vom aktuellen politischen Ta-gesgeschehen ausgesperrten Ausflüglern der ein oder andere wirre Dialog ent-stand, als sie völlig unerwartet Zeugen wurden, wie plötzlich mit lautem, unten in der Talstation künstlich erzeugtem technisch klingendem Knall (diesen Trick hatten sich die Macher übrigens von einem zwei Jahre zurückliegenden, bundesweit da-mals für peinliches Aufsehen sorgenden Vorfall abgeschaut, in welchen 28 Ha-nauer Schüler einer 8.Gymnasialklasse samt Lehrern involviert waren) die Berg-bahn stoppte und in eingetretener Totenstille keinen müden Zentimeter mehr vor-wärts fahren wollte.

Entschuldigung, wissen Sie vielleicht, warum diese Gondel da nicht weiterfährt? --- Hm, keine Ahnung, das haben wir auch erst eben bemerkt. Vielleicht ein tech-nischer Defekt? --- Könnte gut möglich sein, vor allem war ja da eben dieser laute Knall. Als ob zwei Sicherungen gleichzeitig rausgeflogen wären. Leider ist sie zu weit entfernt, man kann mit bloßem Auge beim besten Willen nichts Genaues er-kennen. --- Stimmt, da haben Sie völlig Recht, die Gondel wirkt so winzig klein, fast unwirklich. --- Ja, irgendwie kommen wir uns hier schon vor wie in Suisse en miniature. Kennen Sie Suissse en miniature? --- Nein, liegt das in Frankreich? --- Nein, im Schweizer Kanton Tessin! --- Ach? Interessant! Da müssen wir auch un-bedingt mal hin. Aber Sie liegen da vollkommen richtig mit Ihrem Vergleich, mini-aturhaft würde ich sagen. --- Tja, hoffentlich läuft wenigstens bald der Rettungsein-satz, ich möchte nicht wissen, was für schreckliche Dramen sich gerade im Kabi-neninneren abspielen, Eltern die ihre vor Todesangst weinenden Kinder tröstend an sich pressen. --- Arme Teufel. Und nachher sagt die Tagessschau eh nur wieder "aufgrund eines unbekannten technischen Defekts". --- Und "die letzte ordnungs-gemäße Wartung lag nur zwei Wochen zurück". --- Es ist doch stets dasselbe, am Ende will es keiner gewesen sein. Peter, hörst du, das war definitiv unser letz-ter Urlaub im Berchtesgadener Land! --- Ähm, konnten Sie eigentlich mal heraus-finden, warum ausgerechnet heute überall hier oben solche komischen Verbots-schilder stehen? --- Leider nein. Sie? --- Bedauere, und im Restaurant oder in der Hütte weiß auch keiner etwas. --- Oder sämtliche Mitarbeiter schweigen. Denn beim Blick auf die hilflos hängende Seilbahn vermute ich, dass diese Panne unten in der Talstation zu Betriebsbeginn bereits vorhersehbar war. Wahrscheinlich wur-de die Strecke trotz technischer Probleme freigegeben. --- Klar, wer lässt sich auch gerne das Tagesgeschäft entgehen? Alles schön auf unsere Kosten. Ich möchte gar nicht wissen, wieviel von denen täglich kassiert wird. --- Dann brauchen sie bei der Predigtstuhlbahn natürlich keine lästigen Zeugen, welche die vermutlich jeden Moment ins Tal stürzende Kabine live ins Netz stellen. --- Damit könnten Sie Recht haben, es wird wirklich immer schlimmer mit dem Internet, sogar ein zwölf-jähriger Nachbarsjunge macht auf Youtube schon mit seinem eigenen Kanal rum. --- Aber das Furchtbarste ist ja, wenn in der Tagesschau über solche Unglücke be-richtet wird, denkt man auf dem gemütlichen Sofa jedes Mal erleichtert, dass das alles zum Glück weit weg ist und einen nicht betrifft. Los, Kinder, auf, wir gehen jetzt ganz schnell weiter! Oder wollt ihr etwa gleich eine Gondel mit lauter krei-schenden Menschen abstürzen sehen sowie danach für euer restliches Leben psy-chisch gestört sein? Auf Wiedersehen, schönen Tag Ihnen noch! --- Danke, gleich-falls. Wir suchen auch lieber schleunigst das Weite. Wiederschaun!

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Erzählrunde 1

Karussellpferd Theluma: Jetzt mal diskret unter uns, Freunde, wenn wir die Sache wirklich objektiv analysieren, bringt Corona teils durchaus positive Begleiterscheinungen.

Karussellpferd Helanchri: Wie kannst du so etwas behaupten????? Schäm dich, Theluma!!!!! Nach allem, was seit März 2020 passierte!!!!!

Karussellpferd Helanchri: Und heute, zwölf quälende Monate später, am 03. März 2021, das Ende der Fahnenstange fortwährend blankes Wunschdenken. Lauscht dem Impfstreit zwischen EU und Großbritannien. Scharfe Töne. 

Karussellpferd Ingeborg: Deutschland sowie Dennis Kevins vor knapp dreieinhalb Jahren aus geschichtlicher Versenkung hervorgezauberte Grafschaft Hanau-Münzenberg stecken seit November im Lockdown 2. Keine Aufhebung in Sichtweite. Menschen drehen am Rad. Worst-Case-Szenario volle Kraft voraus. Optimisten vollführten letzten Sommer Freudentänze, das Gröbste schien überstanden. Pustekuchen. Und DU laberst was von positiv!

Karussellpferd Leporello: Bergamo. Lockdown 1. Ländergrenzen trotz Schengenabkommen unpassierbar. Maskenpflicht, Abstandsregeln, Kontaktbeschränkungen. Bundesligaspiele in leeren Stadien. Thermalbad, was ist das?

Karussellpferd Spartacus: Schulschließungen. Home Schooling. Home Office. Ausgefallene Weihnachtsmärkte. Silvesterverbot. Keine öffentlichen Gottesdienste. Tourismus und Gastronomie am Boden. Existentiell gefährdete Einzelhändler. Kultur- und Vereinsleben passé. 

Karussellpferd Ascana: Gravierende psychische Schäden. Folgen sozialer Isolation, besonders unter Kindern und Jugendlichen, werden uns lange beschäftigen.  

Karussellpferd Ingeborg: Kurzum, laut WHO internationaler Gesundheitsnotstand.

Karussellpferd Theluma: Richtig. Ich meine damit auch mehr, dass manche Leute trotz alledem mutig auftreten.  

Karussellpferd Leporello: Mutig auftreten?

Karussellpferd Theluma: Mitten im krisenerschütterten Äon begehren Menschen auf, behalten Ansichten keinesfalls für sich. 

Karussellpferd Ingeborg: Ach, du meinst diese Querdenkerbewegung

Karussellpferd Theluma: Erinnert ihr euch an den spektakulären Rechtsstreit wegen dieser Großdemonstration in Berlin? Beim Oberverwaltungsgericht gewannen die Kläger. 

Karussellpferd Simon: Obgleich der anschließende Protestspaß relativ kurz ausfiel. 

Karussellpferd Hatatitla: Verstöße gegen Coronaauflagen. Dennoch bewies Berlins Richterspruch, dass Meinungsfreiheit in einer funktionierenden Demokratie trotz kritischer Situation weiterhin ein schützenswertes Grundrecht darstellt; und eben keine neuen SED- Verhältnisse hereinbrechen, wie Coronagegner bisweilen vereinzelt behaupten.

Karussellpferd Missi: Wovon Hanau-Münzenberg natürlich meilenweit entfernt liegt. Fängst dir von Mister Universum einen Lettre de cachet ein und ab in die Verbannung. Oder landest neuerdings in den Biebergemünder Bergwerksstollen.

Karussellpferd Leporello: Oder in Villbach, darfst unterhalb der Ruine Beilstein metertief nach jenem sagengumwobenen Schatz graben.

Karussellpferd Simon: Freunde, die Staustufe Großkrotzenburg!

Karussellpferd Theluma: Endlich! Normalerweise liegt Klein-Krotzenburg einen Katzensprung von Hanau entfernt. Eingeführte Grenzkontrollen verwandeln diesen jedoch zur Odyssee. Ohne entsprechende Negativnachweise, entweder vom Testzentrum beziehungsweise direkt vor Ort kommt keiner aus Hanau-Münzenberg raus, geschweige denn rein. Sind derzeit beim Überqueren wichtiger als Ausweisdokumente.  

Karussellpferd Spartacus: Überall Testpersonen in beängstigenden Schutzanzügen. Als ob das Weltende bevorstünde. Reale Science Fiction. Gespenstisch. 

Karussellpferd Helanchri: Ja, Freunde, wir leben tatsächlich in außergewöhnlichen Zeiten. Da müssen Karussellpferde extra über die Staatsgrenze an einen möglichst unauffälligen Ort, damit Dennis Kevins Untertanen überhaupt aussagebereit sind. Sogar für uns Wilhelmsbader Autoritäten birgt die Fahrt hierher Risiken. 

Karussellpferd Simon: Weshalb Schutz und Sicherheit aller Beteiligten oberste Priorität besitzen. 

Karussellpferd Hatatitla: Stehen doch seit dem Dreikönigstag per Gesetz zahlreiche Äußerungen, welche unseren Sonnengrafen vom Main inclusive Familie desavouieren, unter Strafe. Ganz ehrlich, niemand riskiert ein Jahr lang Schufterei in finsteren Schächten. 

Karussellpferd Missi: Auf diese Weise bestraft Dennis Kevin I. Graf von Hanau-Münzenberg alle Orchestermusiker, die durch unvorsichtige Behauptungen im Konzert vom neuen glanzvollen Versailles, schmuck gelegen an Kesselstadts Mainufer, Misstöne erzeugen.

Karussellpferd Ascana: Spinnst du????? Geht's noch lauter????? Schleusen besitzen auch Lauschorgane!!!!! Selbst wenn des Herrschers Paragraphen explizit auf Hanau-Münzenberger Gebiet gelten...bei absolutistischen Despoten ist Vorsicht geboten.

Karussellpferd Missi: Zumal im Kontext abstrusester Corona-Verschwörungstheorien das Gerede umgeht, Hanau-Münzenbergs Potentat sei ein raffiniert als feudaler Ausbeuter getarnter Kommunist, von Moskau bezahlt sowie gezielt zum Revolutionsjubiläum 2017 als Marionette installiert, einzig und allein mit dem Ziel, vermittels einer gezielt herbeigeführten Pandemie, ausgebrochen zufälligerweise im Lande Mao Tse Tungs, die 1991 untergegangene Sowjetunion neu zu errichten; und mit ihr den gesamten früheren Ostblock.

Karussellpferd Spartacus: Dem prestigeträchtigen Hofe verständlicherweise höchst unerwünschtes Gemunkel. 

Karussellpferd Ascana: Deshalb, Freunde, beschwöre ich euch nochmals eindringlich: Wählt auch abseits der Grenzlinie eure Worte bedachtsam! Lasst stets sprachliche Sorgfalt walten! 

Karussellpferd Ingeborg: Sei unbesorgt, sind schließlich nicht blöd.

Karussellpferd Hatatitla: Leporello, hast du zufällig noch den gestrigen Chatverlauf? Sollten kurz vor dem Treffen alles von Neuem sorgfältig prüfen. Am Ende sitzen wir einer Finte auf. Reinlegen will Dennis Kevin uns bekanntlich schon lange, grollend darüber, dass Wilhelmsbads Parkattraktionen sich freies Wiehern niemals verbieten lassen. Dazu blanker Neid, weil Hanau voller Stolz seine Lieblinge verehrt. Im 2016 wiedereröffneten ältesten Karussell der Welt stecken Unmengen Lokalpatriotismus.

Karussellpferd Leporello: Hier, nichts gelöscht.

Karussellpferd Hatatitla: Supi. 

Hallo, liebe Karussellpferdchen. Ich bin Carla aus Hanau.

Hi, Carla, herzlich willkommen auf unserem Account. Du schreibst mit Leporello. Wie geht es dir?

Bitte, ihr müsst mir dringend helfen!!!!! Bitte!!!!!

Wow, Leporello, deine Fangfragen, Trick 17. Respekt!

Wie alt bist du denn, Carla, wenn ich fragen darf?

14.

Dann bist du also als Marketenderin mit im Spessart gewesen?

Nein, war erst 11. Oh Gott...aber meine Cousine Marietta, die Arme, ist doch mit den anderen Marketendermädchen stattdessen mit dem Zug in Wächtersbach gestrandet. Warte, schicke grade mal ihr Erinnerungsfoto. Oh Gott...eigentlich darf ich ja gar nicht drüber sprechen.

Karussellpferd Leporello: Musste mich ja vergewissern, dass ich auch wirklich mit einer Carla texte.

Karussellpferd Hatatitla: Der Wächtersbacher Bahnhof. Aufnahmedatum 01. Juli 2018. Sie sendet dir unaufgefordert einen einfachen, unbearbeiteten Schnappschuss als Beweis, erklärt korrekt, aufgrund des zu jungen Alters selbst nicht dabei gewesen zu sein, dafür ihre Cousine. Schlussfolgerung: Marietta damals mindestens 12. Detailkenntnisse sind nachweislich vorhanden. Und angesichts drakonischer Maßnahmen war ohnehin kaum mehr zu entlocken. Denke, diese Carla ist echt. Kein Scherge des Grafen. 

Was ist denn passiert, Carla?

Oh Gott! Papa!

Was ist denn mit deinem Vater?

Oh Gooooott, habe so eine Heidenangst!!!!! Bitte, hilf mir, Leporello, bitte, bitte, bitte, hilf mir!!!!!

Zweifellos: Das Flehen einer Verzweifelten.

Gut, Carla, dann komme rasch zum Karussell.

Nein, bloß nicht in Hanau-Münzenberg!!!!! Können wir uns lieber irgendwo in Deutschland treffen?

Problemlos. Kennst du die Schleuse Großkrotzenburg?

Logisch.

Morgen, 9.30 Uhr, auf der Klein-Krotzenburger Seite vor der Treppe hoch zur Staustufe? Oder habt ihr Schule?

Perfekt, ne, bei uns ist wegen Corona zur Zeit Wechselunterricht angesagt. Geht.

Oki, dann bis morgen, Carla. Und hab keine Angst, wir sind für dich da.

Daaaaaaaannnnnkeeeschön, ihr lieben Karussellpferde. Bis morgen.

Karussellpferd Leporello: Mit dem zufriedenen Gefühl im Bauch, meine unbekannte, dennoch seriös wirkende Chatpartnerin etwas beruhigt zu haben, orderte ich im Anschluss flugs zwei Pferdetransportwagen, um uns über die Grenze nach Klein-Krotzenburg zu bringen. Und hier sind wir jetzt. Gleich 09.30 Uhr. Carla müsste jeden Moment eintreffen.

Karussellpferd Missi: Öööööhhh...Leporello...Frage...bist du sicher, dass du nur mit einer Userin geschrieben hast?

Karussellpferd Leporello: Hundertpro. Warum fragst du?

Karussellpferd Missi: Da kommen nämlich fünf Jugendliche auf uns zu.

Karussellpferd Helanchri: In dicken Winterjacken steckend. Mit Schals. Die Mützen weit ins Gesicht gezogen.

Karussellpferd Nela: FFP-2-Masken auf. Komisch, hier besteht doch keine Verpflichtung. Kombiniere: Die wollen unter keinen Umständen erkannt werden.

Karussellpferd Simon: Sie bleiben stehen.

Karussellpferd Ascana: Wirken ziemlich ängstlich. Treten nervös auf den Füßen hin und her. Drehen sich ständig um.

Karussellpferd Ingeborg: Observieren unruhig den Flussweg. Als ob jeder von ihnen rechtzeitig Scheckgespenster erblicken wollte, welche mit gierigen Fangklauen zwischen Bäumen und Büschen hervorspringen, sie fortzuzerren. 

Karussellpferd Missi: Seht, ein Mädchen löst sich zögernd von der Gruppe, kommt vertrauensvoll auf uns zu.

Karussellpferd Leporello: Hallo, du bist bestimmt Carla! 

Carla: Hey, und du garantiert Leporello, bist total freundlich! Echt mega, dass ihr gekommen seid. Und das sind Melissa, Fabian, Lukas und meine Cousine Marietta. Ähm...ok für euch?

Karussellpferd Leporello: Kein Problem, Carla. 

Carla: Ähm, duuuuuuu, Leporello...dürfen die anderen auch erzählen?

Karussellpferd Theluma: Meine Güte, seht nur wie die Kleine furchtsam zittert!

Karussellpferd Ingeborg: Und wie leise sie haucht!

Karussellpferd Leporello: Selbstverständlich. Kommt! Stopp! Schlage wegen der Bestimmungen vor, wir trennen uns. Unerlaubte größere Gruppe. Braucht nur einer sehen und ruft an, gibt davon in diesen außergewöhnlichen Zeiten genug.

Karussellpferd Spartacus: Hast Recht. Deshalb, Freunde: Theluma, Leporello, ihr bleibt mit Carla, Melissa und Fabian hier. Hatatitla, Missi, ihr nehmt Lukas und Marietta sicher ins Schlepptau, begebt euch die Staustufe hinauf, spaziert zu den Schleusenkammern. Die übrigen verteilen sich, stehen Schmiere. Man weiß nie. 

Karussellpferd Ascana: Genauso läufts ab!

Karussellpferd Spartacus: Einmal lautes Gewieher bedeutet: Gefahr schwebt in der Luft, Vorsicht! Zweimal hingegen: Gefahr unmittelbar, abbrechen, abhauen! Ganz wichtig, aufgrund der Maßnahmen sowie möglicher gräflicher Spione zu keinem Zeitpunkt unnötig auffallen! Abstand einhalten! Masken auf, auch wenn hier keine Tragepflicht besteht! Denkt dran, ihr seid aus purem Zufall hier, kommt ein bisschen ins Gespräch. So muss es aussehen. Habt ihr das klar und deutlich verstanden? 

Alle: Verstanden!

Karussellpferd Spartacus: Dann los!

Karussellpferd Leporello: Mein Vorschlag: Wir gehen am besten ein paar Schritte rüber zum Ufergeländer, wo der Main über das Wehr rauscht. Vor dieser angenehmen Kulisse fällt es euch dreien bestimmt leichter, in aller Ruhe darüber zu berichten, was eure Herzen bedrückt. Einverstanden? 

Fabian: Klar, Leporello!

Karussellpferd Theluma: Vergesst nicht, zunächst unauffällig tun, also ob wir zufällig gemeinsam die Schleuse betrachten, dann allmählich miteinander kommunizieren. Und Abstand!

Carla: Auf jeden Fall!

Karussellpferd Leporello: Okay, ich positioniere mich als erstes. Nun euer Auftritt.

 

Karussellpferd Theluma: Das Waaandern ist des Müüüllers Lust, das Waaaaaandern. Eees muss...nanuuuu! Ei, gude Leporello, wie? 

Karussellpferd Leporello: Ei, Theluma, was'n Zufall. Schaust dir auch die Staustufe an?

Karussellpferd Theluma: Ei ja, weißt wie's ist. Kommst ja in Wilhelmsbad um vor Langeweile. Möcht wissen, wann der Graf das Karussell wieder aufmacht. Biste schon länger hier?  

Karussellpferd Leporello: Nö, fünf Minuten oder so. Wetter könnte halt angenehmer sein.

Karussellpferd Theluma: Merklich kühler als die letzten Tage. Und dieser zähe Hochnebel.

Karussellpferd Leporello: Hartnäckig. Dennoch, immer aufs Neue imposant. Aaaaaaah...ist das schön hier!!!!!

Melissa: Besser?

Carla: Jaaaaaaa, viiiiieeeeel besser! Perfekter Ort für Selfies! 

Fabian: Heeeeyyy, seht mal, da stehen Theluma und Leporello von den Karussellpferden. Cool! Was macht ihr denn in Klein-Krotzenburg?

Karussellpferd Theluma: Och, wir stehen hier gerade so, gaffen die Schleuse an. Tote Hose im Staatspark. Und bei euch dreien? Alles soweit klar in Lockdownzeiten?

Karussellpferd Leporello: Pst, jetzt, Carla.

Carla: Oh Gott, es ist so schrecklich!!!!! Papa wurde vorgestern verhaftet und zu einem Jahr in Biebergemünd verurteilt. Weil er gegen das neue Gesetz verstoßen hat!!!!! 

Karussellpferd Theluma: Das ist ja schrecklich, Carla! Bin schockiert. Bestürzt. Sprachlos. Hiobsbotschaften solcherart hätten wir nicht erwartet.

Karussellpferd Leporello: Und ich Naivling vermutete während unseres Chats, dein Papa sei an CoVid-19 erkrankt.

Karussellpferd Theluma: Bitte, Carla, nicht weinen. Ich weiß, es fällt dir momentan unendlich schwer, dennoch musst du tapfer sein. Wir dürfen um keinen Preis Aufmerksamkeit erregen. 

Carla: Reiß mich zusammen. Gehe immerhin schon in 8. Klasse. Oh Goooott!!!!! Papa rief am 19. Februar ohne Vorwarnung zornig vom Balkon: "Und alles verdanken wir nur unserem Palaststürmer, dem neuen Herrn Lenin!!!!! Ha, da wundert's euch????? Genosse Generalsekretär hat's doch 2017 vorgemacht!!!!!"

Karussellpferd Leporello: Ooooooooh Goooooooooooott!!!!! Carla, er darf aber doch auch nicht lautstark die Russische Oktoberrevolution von 1917 zusammen mit dem hundert Jahre später erfolgten ruhmreichen Herrschaftsantritt Seiner Durchlaucht in Zusammenhang bringen!!!!! Jedes Hanau-Münzenberger Kind kennt das am 06. Januar 2021 verfügte Anti-Aurora Gesetz.

Karussellpferd Theluma: Obgleich - nebenbei bemerkt - Grafen traditionsgemäß allenfalls 'Erlaucht' zusteht. Anmaßender Titel-Ursurpator!

Carla: Weißt, Leporello, es wurde für ihn abends einfach zu viiiiiieeeeeel. Lockdown 2 macht Papa fertig. Meine Eltern besitzen doch das Geschäft. Und als im November zuerst dieser Lockdown "light" losging, mussten sie als erste schließen. Laden zu. Wie beim Lockdown 1.

Fabian: Systemirrelevant.

Carla: Vom versprochenen Unterstützungsgeld bis heute kein müder Cent. Obwohl Mama tagtäglich im Schloss anruft. Sie weint. Wenn Papa weg ist. Damit er es nicht mitbekommt. An jenem Abend dann übertrugen die Nachrichten Bilder von der Gedenkveranstaltung. So traurig. So bedrückend. Wir fühlten uns hilflos und wütend wegen des Anschlags. Der ganze Albtraum von 2020 präsent. Papa rastete komplett aus, fuhr vom Fernsehsessel auf. Mama noch: "Was hast du vor, Schatz????? Komm sofort zurück!!!!! Sofort!!!!!" Vergeblich.

Karussellpferd Leporello: Harter Tobak!

Karussellpferd Theluma: Ich schlucke vor Entsetzen! Ein Jahr Biebergemünd. Wobei im Spessart seit Ewigkeiten nix Ertragreiches mehr lagert. Inmitten von Corona. Unterirdisch keinerlei Covid-19-Regeln.

Karussellpferd Leporello: Schwierig, Carla, deinem Papa zu helfen. Irgendwelche Augen- und Ohrenzeugen, müssen ihn prompt beim Hanauer Bataillon verpfiffen haben.

Carla: Aber das können sie ihm doch nicht antun!!!!! Zumal ich Herrn Kaiser am 30. Oktober 2017 vor der Marienkirche begegnete!!!!! Wegen des großen Reformationsfeiertages bekamen Hanaus Schüler nach der dritten Stunde frei. Und ja, auf dem Nachhauseweg stand da Alessa Maries Vater hinter diesem Baum, exklusiv angezogen wie Adlige früher, gepudertes Gesicht, weiße Zopfperücke. Wie auf seinem erhabenen Youtubekanal, wo Kaisers Versailles aufleben lassen. Ungeduldig irgendein Gerät in der Hand haltend, Smartphone, keine Ahnung, wollte er in Kürze eine Taste oder einen Knopf drücken. Bluetooth-Headset am Ohr. Mit jemandem quatschend. Neugierig ging ich hin, grüßte höflich: "Hallo, Herr Kaiser!" Er bestens gelaunt: "Ei, gude Carla, wie? Guck emol den Kirchturm enuff, gleich gibt's was, davon kannste später deinen Kinnern erzählen. Bass nur uff, gleich geht's ab hier!" Ich sah hoch. Plötzlich sprang Herr Kaiser an mir vorbei zur Kirche. Dort angekommen rief Alessa Maries Vater voller Freude: "Der Countdown läuft! Heißa, gleich knalle ich dieser Stadt einen gewaltigen Schuss vor den Bug! Merk dir meine Worte, Carla! Uuuuuuuuuuund Action!!!!!" Ich schrie. Warf mich panisch hin. Fenstergläser klirrten. Irgendein umherwirbelndes Teil landete dicht neben mir auf dem Boden. Seine Stimme jubilierte, dieses Schiff, dieser Pa...Pa...Pan...Mist, komm nicht drauf...

Fabian: Panzerkreuzer Aurora. Mit einem Kanonenschuss wurde von ihm am 25. Oktober 1917, Gregorianischer Kalender, das legendäre Zeichen zum Sturm auf den Winterpalast in St. Petersburg gegeben. Allerdings müssen wir dazu wissen, dass es keine Erstürmung war, wie es uns Sergeji Eisensteins Stummfilm Oktober weisma...

Melissa: Meeeeeennsch, Fabi, du nervst!

Carla: Detonationsartiger Knall, ooooooooooooooooooooooooohreeeeeenbetäubend!!!!! Als ich vorsichtig wieder aufstand, starrten meine Augen ungläubig erneut zur Turmspitze. Der Megaschuss hatte soooooooooooooooooooooooooooo laut gekracht, dass beim Kirchenfenster rechts vom Turm sogar ein Stück Plastikschutz rausgeflogen war!!!!! Jenes Ding, mit dem ich um Haaresbreite körperliche Bekanntschaft geschlossen hätte!!!!!   

Karussellpferd Leporello: Fast schon gemeingefährlich. 

Carla: Wie ein Gewinnertyp kehrte Herr Kaiser zurück, stellte sich lässig neben mich, sang mit geballter Faust, rühmte irgendwelche Signale, welche alle Völker jetzt hören sollen, wurde mittendrin unterbrochen. Aufgeregtes Reden über Bluetooth. Aufbruchstimmung. Er deutete demonstrativ mit weit ausgestrecktem Zeigefinger Richtung Große Dechaneistraße, posaunte: "Auf nach Moskau!!!!! Wie Wladimir Iljitsch Lenin!!!!!"  Dachte, Herr Kaiser saust zum Flughafen, verpasst ansonsten den Flieger, so wie der in sündhaft teuer aussehenden Klackerschuhen spurtete. Ohne Verabschiedung. Verrückter Vormittag!

Fabian: Krass, er hat öffentlich mit dem Kommunistenzeichen Die Internationale gesungen!!!!! Und nein, ganz und gar nicht verrückt!!!!! Nach dem Umsturz in St. Petersburg übernahmen nämlich am 30. Oktober 1917, Gregorianischer Kalender, Lenins Bolschewiki in Moskau die Macht, steht in Omas zwanzigbändiger Lexikonreihe aus dem Jahr 1972. Apropos Kalender, Russland verwendete 1917 ja den Juliani...

Karussellpferd Theluma: Fabian, bitte! Hör gut zu, Carla! Gottseidank vermagst du dich noch detailliert an sein Auftreten im Zusammenhang mit dem Schuss erinnern. Das ist für deinen Papa jetzt ungeheuer wichtig! 

Karussellpferd Leporello: Fallen dir eventuell weitere wichtige Einzelheiten ein?

Carla: Halt nur sein Hessisch, weil Familie Kaiser bekanntlich auf dem Youtubekanal unseren geliebten Heimatdialekt als bäurisch bezeichnet, ausschließlich elegantes Französisch spricht. Und der kalte Wind. Beim Davoneilen hielt er mit linker Hand dauernd die weiße Zopfperücke fest, befürchtete, Böen könnten ihn jederzeit blamieren. Ach, Leporello, vergiss es, bringt doch eh nichts!

Karussellpferd Leporello: Wieso?

Carla: Stell dir vor, als ich Alessa Marie in der Schule drauf ansprach, stritt sie ab, zischte fies: "Lügnerin! Gar nicht wahr! Untersteh dich, du...du...billige B*tch! Sonst sag ich's nämlich den Lehrern, wenn du heimlich auf dem Smartphone tippst!"

Karussellpferd Theluma: Pfui, was für eine ordinäre Petzliese!

Carla: Glaubst du echt, in Schloss Philppsruhe geben sie das zu? Im Leben nicht! 

Fabian: Dabei weiß mittlerweile doch wirklich die ganz Stadt, dass unser Graf 2017 per Fernbedienung vier im Glockenraum montierte, synchron verbundene Tonbandgeräte anschaltete.

Melissa: In jeder Himmelsrichtung eines.

Fabian: Warum also 2021 das Gesetzesdrama? Stand zwar nicht bei der Marienkirche, bestätige aber hiermit ausdrücklich mysteriöseste Vorkommnisse, deren Zeugen meine Mutter und ich am Einkaufszentrum wurden. 

Karussellpferd Leporello: Erzähl!

Fabian: Mama holte mich nach dem Unterricht ab, wollte auf dem Rückweg im Forum für sich noch eine neue Bluse kaufen. Weniger los um diese Zeit. Ok, wurden dann zehn. Und fünf Hosen. Und sieben Paar Schuhe. Egal. Vor dem Eingang hielt sie kurz an, kramte ewig in ihrer Handtasche. Typisch. Ich begutachtete das Logo, erwog, auf Instagram umgehend ein cooles Foto zu posten. In dem Augenblick hallte die Fußgängerzone von lautem Trara wider. 

Sonderbar. Sekunden zuvor in der Nähe eine gewaltige Gasexplosion. "Armes Gebäude! Schlimm, hoffentlich kam niemand zu Schaden!", meinte Mama besorgt. Daraufhin klackerte Schuhlärm durch die Passage. Ein Kostümierter stürmte vorne seitlich vorbei. Mama verdutzt: "Du, Fabi-Liebling, das ist doch Herr Kaiser in seiner schicken Rokokokleidung. Na, der ist aber mächtig in Eile. Dreht vermutlich am Freiheitsplatz ein neues Youtubevideo. Termindruck." Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich Fabi-Liebling nennt!!!!!

Karussellpferd Theluma: Du fasst dich so mit deiner Hand an die Schläfe...geht's dir nicht gut? 

Fabian: Fabian, du dummer Esel!!!!! Antwortetest allen Ernstes: "Neeeeeeeeeee, Mami, der kam vielmehr vom Videodreh gerannt. Bei den Aufnahmen muss eben irgendwas explodiert sein, und Herr Kaiser holt unverzüglich Hilfe herbei!" Boah ey, ich könnte mich ohrfeigen....

Karussellpferd Leporello: Nicht ärgern, Fabian. Bist nicht der einzige. Herr Kaiser hat alle getäuscht.

Fabian: Selbst Mama, stets misstrauisch, peilte null. Egal. Inzwischen schwoll das undefinierbare Stimmengewirr mehr und mehr an. Kurz darauf bogen geschätzt vierzig gröhlende Demonstranten ums Eck, marschierten direkt auf uns zu, angeführt von zwei Karnevalisten, hohe Würdenträger des Elferrates. Nuuuuuuuuuuuur wirkten sie alles andere als lustig, im Gegenteil, ungemein grimmig. Einer ähnelte Terminator. Abgefahrener Typ. Kennt garantiert kein Pardon. 

Karussellpferd Theluma: Ex-Söldnerführer Heiner Jawlonskji. Später Lokführer. Schwerstes Offenbacher Stadtgrenzentrauma. Herr Kaiser wurde 2017 durch Alessa Marie auf ihn aufmerksam. Die hanebüchene Sache mit der Wilhelmsbader Eremitage. Um Jahre gealtert, weißer Bart, bekam er freigebig eine militärische Kur in Wilhelmsbad spendiert, fand geschwind zum tüchtig erlernten Kriegshandwerk zurück. Mit dem ist nicht gut Kirschen essen!

Fabian: Daraufhin zog Mama meinen Körper eng schützend an sich, peeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnnnnnlich in der fünften Klasse Gymnasium! "Fabi-Liebling, wir gehen besser rein, glaube draußen wird's ungemütlich!" Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich Fabi-Liebling nennt!!!!! Weil ich aus berechtigtem Protest gegen solcherlei Behandlung bewährte Verzögerungstaktiken wählte, bekamen wir noch einiges mit.

Karussellpferd Leporello: Was denn?

Fabian: Auf Terminators Kommando zückten mehrere Teilnehmer Trillerpfeifen. Unter unerträglichem Getriller sang der Rest zu Karnevalsmelodien die Plakatsprüche.

 

"Es reicht!"

"Wie lange noch?"

"1733!"

"Schluss mit dem Reichsdeputationshauptschluss!"

Voooooooooooooooooll bekloppt, das letzte Wort kannte ich gar nicht. Mama genauso wenig. 

Karussellpferd Theluma: Bin sicher, die Demoteilnehmer mussten unterwegs selber erstmal bei Jawlonskji einen Crashkurs absolvieren, um den Zungenbrecher überhaupt einigermaßen korrekt artikulieren zu können.

Alle: Hahahahahahaha!  

Fabian: Plötzlich allseits Begeisterungsblicke auf die Smartphones. Eine junge Frau kreischte hysterisch rum: "Juuuuhuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!! Juuuuhuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!! Juuuuuhuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!! Schnell, schnell, zurück, zurück, zurück!!!!! Wir haben wieder einen richtigen Grafen!!!!! Nun wird endlich alles besser!!!!! Looooooooooooooooooooooooos, Untertanen, voran, voran, wir wollen vor ihm unterm Rathausbalkon auf die Knie fallen und den heiligen Huldigungseid leisten!!!!! Loooooooooooooooooooooooooooooooos!!!!!" 

Karussellpferd Leporello: Psycho.

Fabian: Wiiiiiiiiiiieeeeeeeeeee ne Viertklässlerin!!!!! Und voooooooooooooooooooll verrückt, auf sooooooooooooooo einen Ausraster hatten beide Kerle gewartet!!!!! Über Bluetooth-Headsets standen sie mit jemandem in Kontakt. Als wäre alles zeitlich genaaaaaaaaaauuuuuuuuuuuu geplant. Und ja, als diese Durchgeknallte frohlockende Dankgebete zum Himmel ausstieß, beglückwünschten sie sich mit Daumenzeichen. Ey, ich schwöööööööööööööööööööörs, die hatten echt allesamt einen gaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaannnnnz gehörigen Hau weg, aber wiiiiiiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeee!!!!! Puuuuuuuuuuuuuuuuhhhhh!!!!!

Karussellpferd Theluma: Ohje, du bist ja emotional restlos aufgewühlt. Halt inne, atme tief durch und entspann dich!

Fabian: Jaaaa, danke, Theluma!

Karussellpferd Theluma: Wir sollten bei der Gelegenheit ohnehin den Redefluss kurzzeitig unterbrechen, ansonsten erregen wir unnötig Aufmerksamkeit. Wie gesagt, wir sind hier rein zufällig miteinander ins Gespräch gekommen. Small Talk in Ausnahmezeiten, das Nötigste, mehr nicht.

Karussellpferd Leporello: Gute Idee. Verteilt euch. Fünf Minuten. Betrachte wie gehabt vom Geländer die Staustufe.

Karussellpferd Theluma: Ok, bis gleich!     

Karussellpferd Leporello: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhh...herrlich!!!!! Gib zu, Leporello, diese wohltuende Lockdownruhe gleicht das Manko mangelnder Sonnenkraft mehr als aus. Keine ständigen Fahrräder auf der Brücke, keine unentwegt aufkreuzenden Fußgänger. Umso lieblicher dringt unentwegt rauschendes Mainwasser an deine Pferdeohren.

Das Ganze hat hypnotisierende Fähigkeiten. Aaaaaaaaaaaaaahhhhh...ist das schön!!!!!

 

Karussellpferd Theluma: Huhu, Leporello! Huhu!

Karussellpferd Leporello: ÄhwaswiewojaneindochnatürlichSeineDurchlaucht!!!!!

Carla: Hihihihihihihihihi!

Melissa: Eigenartig. Seit Fabi die Jahreszahl '1733' erwähnte, reibe ich mir andauernd die Augen. 

Karussellpferd Theluma: Stelle ich auch fest. Hast du irgendetwas reingekriegt? Ein Insekt vielleicht?

Karussellpferd Leporello: Oder bist du erkältet? Hoffentlich kein Corona

Melissa: Neeeee. Spontanerinnerung. Damals vor dem Rathaus. Puuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhh, bin innerlich voll aufgedreht wie Fabi! Erinnerung pur! Möchte unbedingt reden! 

Karussellpferd Leporello:  Oooooooh, Wahrheit! Oooooooh, Freiheit! Vom Grafen geschmähtes Gut! Oooooooooh, Libertas, Göttin! Zweifelsohne, inmitten des zweiten Lockdowns, im Zeitalter täglich variierender Pandemieregelungen, wo sogar du, kluger Zeus, auf Griechenlands Olymp in planloser Unwissenheit lebst, was morgen verboten, was morgen gestattet, pflügen diverse Botschaften, seien sie aus dem Bewusstsein, seien sie aus dem Unterbewusstsein, stürmisch durch Klein-Krotzenburger Luft, akustisch geschirmt von des Gottes Moenus hinabdonnernden Fluten. Ooooooooooh, Clio, Histories Muse, drei aufrichtigen Achtklässlern gewogen, bereit, frank und frei von eigenen Wahrnehmungen des 30. Oktober 2017 Kunde zu geben. Drei unerschütterliche Heranwachsende, Minderjährige wohlgemerkt, Münder entschlossen, tyrannischen Schweigeerlass zu brechen. 

Karussellpferd Theluma: Redest du neuerdings immer so pathetisch geschwollen daher?

Karussellpferd Leporello: Konträr ihr, Erwachsene, seit dem 06. Januar, Tag der Gesetzesbeschlüsse, unwillig "Tut mir leid, hatte es damals ziemlich eilig!", "Sorry, war damals schon im Büro!" oder "Lasst mal, will mir kein Corona einfangen!" nuschelnd dem Karusselle entfleuchend, sobald das Sujet auf menschenverachtendes Komödiantentum gelenkt. Wer will darüber diskutieren mit Schutzmaske im vorgeschriebenen Mindestabstand, bevors mit wackerem 'Glück auf' im Spessart unter Tage geht, in Ketten, beköstigt von Schmalhans Küchenmeister, für Dennis Kevin I. Graf von Hanau-Münzenberg aus bis 2018 geschlossenen Gruben den unrentablen Rest vom Schützenfest zu fördern? Ooooooooooohhh, Volljährige, hört mich an! Stattdessen hängen eure gierigen Lippen an Verlautbarungen über Infektionszahlen, Regelungen, Impfdesaster, Schnelltests, an offiziellen Pressekonferenzen erfolgter Bund-Länder-Beratungen, deren hessischer Beschlussausführung unser Souverän eins zu eins folgt. Ihr hofft, man kredenzt euch heut Abend heißersehnte Lockerungen, damit zu Ostern überall im Land gute alte Normalität einkehrt. Mallorca wartet. Ihr vergießt Freudentränen, weil seit vorgestern immerhin Coiffeure wieder bedienen. Ihr fürchtet, dass sie bei im Vorfeld geplanten weiteren Öffnungsschritten gleich verzweifelt das Notbremsenruder herumwerfen, damit's Kähnlein nicht sinkt. Amen, Amen, ich sage euch: Zwei Wochen währt seliger Rausch, dann das Orakel von Delphi: "Verlorene, Apollon heißt euch Retour, Click & Collect anstatt Click & Meet!" Ooooooooooooooooooooooooooohhh, Krisengebeutelte, nähmt ihr euch lieber neben Carla und Fabian nun auch Melissa zum Vorbild, am 03. März 2021 vis-à-vis zum wirbelnden Mainwasser memorierend, horcht, als Fünftklässlerin am Freiheitsplatz jenen 30. Oktober 2017 sie erlebte. Ooooooooooooooooooooooooohhhh, sehet schäumende Gischt unergründlicher, Schmutz vom Morast des Grundes empor ans Licht hievender Strudel!

Puuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuh!!!!! Tut mit leid, ihr Lieben, hab mich zu sehr in Rage geredet, muss mich nochmal hypnotisieren, um runterzukommen. Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhh...ist das schön!!!!!

 

Karussellpferd Theluma: Und? Aus der Trance erwacht?

Karussellpferd Leporello: Ja, kann weitergehen.

Melissa: Da hing dieses riiiiiiiiiiieeeeeeseeeennnngroooooooße Tuch hinterm Rathausbalkon, geländerbreit, türhoch, verhüllte alle drei Zugänge! Kanns 2021 immer noch kaum glauben! Also. Mama hatte mich nach Schulschluss ebenfalls abgeholt. Gerade überquerten wir bei dem eklig kalten Wind zügig den Freiheitsplatz zur Bank. Unübersehbar lasen wir in bunten Farben:  

BEWEGUNG 1733

 

Von einem lebensgroß auf den Stoff gedruckten Familienporträt grinsten Kaisers in ihren edlen Kleidern und Perücken, welche sie immer auf Youtube tragen, wie Honigkuchenpferde. Auffällig nur, Alessa Maries Vater hielt sich allein oben auf.

Karussellpferd Theluma: Vorhersehbar. Möchtegernadlige Allüren waren den drei Sternchen irreversibel zu Kopf gestiegen. Zickenkrieg tagein tagaus, tagaus tagein. Selbst Rauhbein Jawlonskji verweigerte den Eltern Garantien, dass sich drei aufeinander eifersüchtige Beauty-Gaken aus boshafter Missgunst nicht öffentlich die extravaganten Turmfrisuren à la Marie Antoinette ruinieren. Auf dessen Ratschlag ließ Herr Kaiser sie deshalb daheim zurück. Und ohne mütterliche Anwesenheit hätte es im Haus Mord und Totschlag gegeben.

Melissa: Uuuups, dringende Korrektur erforderlich. Zunächst fehlte er selbst. Man rief ihn erst aus dem Rathauszimmer.

Karussellpferd Leporello: Von wem denn?

Melissa: Gleich. Da befanden sich elf Verkleidete auf dem Balkon. Dachten zuerst, Elferräte übten fleißig für den 11. November. Zwei trugen Bluetooth-Headsets, hundertpro diese Männer, die bei euch auftauchten, Fabi. Und obwohl dauernd unangenehme Böen wehten, hielten mehr und mehr Menschen neugierig an. Doch Mama bekams allmählich mit der Angst zu tun. "Das sind aber unheimliche Gestalten, da schauderts einen richtig. Von denen möchte ich als Frau keinem bei Dunkelheit alleine begegnen! Nie im Leben sind die vom Karneval!"

Karussellpferd Theluma: Herrn Kaisers harter Söldnerkern! Glühende Verehrer von Bob Denard. Mit ihrer Hilfe gründete er tags drauf das historische Hanauer Bataillon neu. Unseres Machthabers Elitetruppe. Uniformen aus dem 18. Jahrhundert. Wüste Spießgesellen. Teils per internationalem Haftbefehl vergebens gesucht. Schloss Philippsruhes schützende Hand deckt sie. Darum mahnen wir derzeit beim Abschied eindringlich: "Und befolgen Sie unbedingt die aktuellen CoVid-19-Maßnahmen! Ganz, ganz, ganz wichtig: Bei Coronakontrollen sich niemals mit dem Hanauer Bataillon anlegen! Niemals! Bitte, bleiben Sie gesund!"

Melissa: Boah, dann gings ab! Unser Schulchor erschien. Eine Karnevalsband tauchte auf. Mädchen aus der 11 kamen als Funkenmariechen, begannen fröhlich zu tanzen, Jungs  aus der 12 verteilten in Dienerkostümen becherweise roten Sekt.

Karussellpferd Leporello: Hicks! Auf die Russische Oktoberrevolution von 1917!

Melissa: Mama lehnte dankend ab. Ich durfte nicht. Gemein! Ausgerechnet bei Sascha! Stand ihm voll gut. Egal. Hauptsache ausgelassene närrische Stimmung. Alles sang, schunkelte.

Karussellpferd Theluma: Roter Sekt halt.

Melissa: Traum von Amsterdam verstummte. Ein ausgesprochen furchteinflößender Elferrat bekam Zettel und Mikrophon gereicht, bezog am Geländer Position und - haltet euch fest - fing eine Büttenrede an. Tooootaaaaaaaaaaaaaaaal abgefahren!!!!! Zum Schluss zerknüllte er ihn, warf das Papier achtlos runter. "Helau, jetzt regnets Kamellen!", juchzte ich. "Aber, kleines Mäuschen Lillifee! Man hebt doch nicht auf, was andere Leute auf die Straße schmeißen!" Peeeeeeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnnlich in der fünften Klasse Gymnasium!!!!! Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn Mama mich so nennt!!!!! Egal, hobs heimlich auf, vermutete darin eingewickelte Bonbons. In meinem Zimmer Enttäuschung hoch zehn. Keine Ahnung, besitze es aber heute noch. Hier!

Karussellpferd Leporello: Dürfen wir lesen?

Melissa: Klaro! Hab's aber auch als Tonaufnahme, war so doof, wollte es eigentlich als Video machen, aktivierte jedoch vor lauter Aufregung die Voice-App. Ging ja alles ratzfatz. 

Karussellpferd Theluma: Mensch, super, Melissa!

Melissa: Achtung, geht los! Die Stimmen, die ihr zwischendurch hört, sind von Leuten, die direkt neben uns standen. Mama ist ebenfalls drauf. Dreimal. 

"Ich grüß' die Narren uff der Gass

und sage euch, das ist kein Spaß,

der, nach dem ihr grade seht,

macht, dass nur noch Frischluft weht

quer durch unsre liebe Stadt,

die mehr verdient als sie grad hat."

 

(Tusch)

"Er hat Recht!"

"Schaut euch doch mal um! Eine Schande ist das!"

"Huch, was war das? Kam von Marienkirche. Hoffentlich keine Gasexplosion!"

 

"Wenn ich so durch die City geh,

da tun mir beide Äuglein weh,

bin halb blind schon von dem Schrott,

der ganze Schund muss endlich fort!

Versprechs, ich werde Hanau segnen,

auf dich solls rote Rosen regnen."

(Tusch) 

"Bravo! Bravo!"

"Applaus!"

"Genau, klatscht noch viel mehr Beifall! Endlich sagt jemand laut seine Meinung!

"Und so was nennt sich moderne Innenstadtgestaltung, dass ich nicht lache!

"Kein einziges historisches Gebäude originalgetreu rekonstruiert!"

"Das kriegen ja die Frankfurter besser hin, werdets sehen nächstes Jahr!"

"Dafür setzte man uns dieses Einkaufszentrum vor die Nase!"

"Das hats gebraucht!"

"Typisch, für solchen Firlefanz steht immer genug Geld zur Verfügung!"

"Seltsam, nicht wahr? Da sind die Kassen voll!"

"Jakob und Wilhelm würden sich Grabe umdrehen!"

"Eine Zumutung!"

"Hier hilft nur noch eins: wegziehen!"

"Meine Güte, sind die geladen."

Die zuletzt ist übrigens Mama gewesen.

"Doch nicht nur's Forum,

nein, kein Stuss,

seh hier noch viel mehr Verdruss,

weiß, Hanau ist ne harte Nuss,

drum hört die Botschaft, klares Muss:

Schluss mit dem Reichsdeputationshauptschluss!"

(Tusch)

"Hört euch den tosenden Beifall an!"

"Recht hat er!"

"So kann das hier nicht weitergehen!"

"Es muss endlich Schluss damit sein!"

"Allmählich reichts mir mit dem Hauptschluss!"

"Wie lange soll der eigentlich noch weitergehen?"

"Vier Jahre, hab ich gehört!"

"Nicht groß fragen, auf, Leute, zum Shoppingcenter!"

"Ja, wir nehmen das jetzt selbst in Hand!"

"Und vergesst an der einen Baustelle die Pflastersteine nicht!"

"Mir ist bange zumute, kleines Mäuschen Lillifee! Wo bleibt nur die Polizei?"

 

Mama zum Zweiten. Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!!

 

"Schluss! Schluss! Schluss! Schluss!"

Darauf formierte sich eine Gruppe, zog unter lauten Schluss!-Rufen entschlossen los. Die zwei Elferräte mit Bluetooth-Headset reagierten blitzschnell. Auf Handzeichen verschwanden sie vom Balkon, stürzten mit Transparenten bepackt aus der Rathaustür dem aufgebrachten Pulk hinterher, bildeten dessen Spitze und führten den Demonstrationszug an.

Karussellpferd Leporello: Eiskalte Vollprofis. Kanalisierung gewaltbereiter Militanter. Deeskalation. Da seht ihr, was passiert, wenn Menschen von einer Sache absolut nichts verstehen, aber trotzdem glauben, Bescheid zu wissen. Dennis Kevins gewiefte Handlanger waren im Drehbuch wirklich auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet.

Melissa: Hört euch die Pfiffe an.

"Buuuuuuuhhhhh!"

"Aufhören!"

"Wir wollen Fakten sehen!"

"S'wird brenzlig!

"Glaub, die Menge lässt sich nicht mehr lange hinhalten!"

"Leute, seht ihr die Leiter an dem Gerüst da hinten? Die schnappen wir uns und klettern rauf!"

"Und oben kriegt der Laberfritze dann seine Krawatte abgeschnitten!"

"Heeeeelaaaauuuuuu, heute ist vorgezogene Weiberfastnacht!"

"Heeeeeeelauuuuuuuuu!!!!!"

"Gütiger Gott, kleines Mäuschen Lillifee, wenn jetzt nichts geschieht!"

Mama zum Dritten. Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!! Manche Elferräte realisierten drohende Gefahren scheinbar selber. Drehe mal diese Stelle lauter. Normalerweise im Geschrei unverständlich, doch so könnt ihr es deutlich heraushören.

"Dawei, dawei, Schluss, Schluss!"

"Komm, Ende, yallah, yallah!"

"Final, companero, final! Kapierst du?"

 

Karussellpferd Theluma: Söldnersprachen aus aller Herren Länder. Wundert mich, dass sie den radebrechenden Akzent des reimenden Kriegers überhaupt verstanden haben.

Karussellpferd Leporello: Gingen fraglos von einem ulkigen Programmbestandteil aus.

"Drum hört, ihr Leute, seid schön brav,

und klatscht, wenn gleich kommt eurer Graf,

der alles kann, der alles darf,

von Hanau und von Münzenberg,

stets ein Gigant, niemals ein Zwerg,

er weiß, wo hier der Schuh stark drückt,

so manche Frau kreischt bald entzückt.

Ich mach mich fort. Werd sonst verrückt. Helau!"

(Tusch) 

"Hör uff zu babbeln, tu was, sonst hol ich dich nunner!"

"Ja, wir haben die Schnauze voll deinem Geschwätz!"

"Unsere Brüder Grimm wollen keine Märchen hören!" 

"Immer diese leeren Versprechungen!"

"Die Leiter kommt, die Leiter kommt!"

"Wurde auch Zeit, hattet ihr unterwegs noch einen gekippt?"

"Nur fort von hier, kleines Mäuschen Lillifee schützen! Vielleicht schaffen wir es beide unbeschadet zum Parkhaus!" 

Melissa: Upsi, vergaß. Mama zum Vierten. Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!!

Karussellpferd Leporello: Das Helau fiel offenbar wirklich passgenau im richtigen Augenblick. Da hätte wohl keiner mehr Verantwortung übernommen.

Melissa: Der Büttenredner bekam ein Megafon gereicht, schnippte unserem Schulchor zu. Der nahm fein artig Aufstellung.

 

"W O L L E  M E R  I H N  E N A U S L A S S E ? ? ? ? ?"

 

Karussellpferd Theluma: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhh, meine Ohren!!!!! Leiser, leiser!!!!! Wie das dröhnt!!!!!

"Worauf wart'st de noch?"

"Mach dich her!"

 

Melissa: Ihr hörts, die Kapelle spielt den Narhalla-Marsch. Seine acht Elferratskollegen klatschend der mittleren Balkontür zugewandt. Wartet...JETZT! JETZT! JETZT! Aus einem Tuchschlitz tritt Herr Kaiser hervor. In Adelskleidung wie vor 250 Jahren. Dreispitz. Weiße Zopfperücke. Weißes Gesicht. Winkt gnädig herab. Wiiiiiiiiiiieeeeeeeeee von einem anderen Stern!!!!! Toootaaaaaaaaaaaaaaal creepy!!!!! 

"Lang lebe Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden neuer Graf von Hanau-Münzenberg!!!!!"

Karussellpferd Leporello: Ein Glück, normale Lautstärke! Mir wäre der Kopf weggeflogen!

Karussellpferd Theluma: Frenetisches Tohuwabohu. Irrational.

Karussellpferd Leporello: Die Klausel! Herrn Kaisers fürstlich bezahlte Winkeladvokaten hatten sämtliche Willenserklärungen bezüglich des 1643 zwischen dem Vormund von Friedrich Casimir, späterer Graf von Hanau-Lichtenberg, sowie Landgräfin Amalie Elisabeth geschlossenen Erbvertrages erfolgreich angefochten, wobei das Gericht zur Überzeugung gelangte, die frühere Grafschaft Hanau-Münzenberg existiere auch nach Graf Johann Reinhards III. Tod 1736 als eigenständiger Rechtskörper de facto bis heute fort. Allerdings gestattete es wiederhergestellte staatliche Souveränität nur unter Auflagen. Dies betraf unter anderem Modalitäten der Grafenthronbesteigung. Rechtmäßige Nachfolge ja, sofern ihm bei seiner Ausrufung die Landeshuldigung sicher sei. Dem Umstand geschuldet, dass das Ständewesen längst Schnee von gestern war, erachteten die Richter, umgerechnet auf das 18. Jahrhundert, mindestens 500 rein zufällig vor Ort befindliche volljährige Bürgerinnen und Bürger als Huldigende ausreichend. Laut Presse jubelten dank dieses ausgebufften Tricks tatsächlich ungefähr 800 dem Gekürten enthusiastisch zu. Neutrale Vertreter bezifferten deren Zahl sogar mit geschätzten 1000. Fakt: Von überall strömten Passanten herbei, neugierig angelockt vom unechten Prinzen Karneval. Ahnungslose, morgens gegen 10 Uhr auf ihrem Weg zur Arbeit, zum Shoppen, Arzt oder anserswo hin.

Karussellpferd Theluma: Wen verwundert es daher, dass Karneval vielen Menschen suspekt ist. Dennis Kevin hätte nicht mal Betrugsversuche nötig gehabt, indem er beispielsweise zu diesem Zweck busweise bezahlte Pseudo-Treueschwörer ankarren ließ.

Karussellpferd Leporello: Was von den überall im Stadtgebiet versteckten internationalen Beobachtern sowieso beanstandet worden wäre. Weil aber besagter Prozess aus Angst vor Nachahmern, die liebend gerne auch mal 'Fürstabt von Fulda' spielen würden, medial unter den Teppich gekehrt wurde, dachte natürlich jedermann, jedefrau gutgläubig, einer Probe für den Rathaussturm beizuwohnen. Bis abends Tagesschau und anschließender Brennpunkt, durch welchen sich nachfolgende Sendungen um circa eine Stunde verschoben, die in ihrer Tragweite unabsehbaren Konsequenzen von "Er lebe hoch, hoch, hoch!", "Lang regiere unser Graf!", "Vivat!", "Bester Mann!" oder "Mögest du 10.000 Jahre herrschen!" bekanntgaben. Zu spät. Seine Durchlaucht, Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg, vormals Krankenpfleger auf der Intensivstation, dann mehrfacher Glückspilz, siebenmal in Folge den 90-Millionen-Jackpot abgesahnt, sowie seine holde Gattin Jessica, nunmehr Gräfin Bernardette Constanze Amalia, gelernte Fremdsprachenkorrespondentin für Französisch und Spanisch, regierten bereits seit Stunden gekleidet à Louis XVI. et à la Marie Antoinette legitim die Stadt, ihre gekauften Adelstitel bereits seit 2013 in der Tasche. Man war gegen 10 Uhr morgens einfach zur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen.

Melissa: Deeeeeeeeeeeessshaaalb Mamas Zweifel!!!!! Statt Herrn Kaiser wild zu applaudieren, als er sich umständlich hinter dem Tuch hervorzwängte, nahm sie verängstigt meine Hand, flüsterte ahnungsvoll: "Komm, kleines Mäuschen Lillifee, lass uns besser ganz schnell von hier verschwinden, mir ist das Ganze nicht geheuer!" Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!! Egal. Nun danket alle Gott erklang.

Karussellpferd Theluma: Zynischer gehts nimmer.

Melissa:"Neeeeeeeeeeeeeiiiiiiiinnnn, Mamiiiiiiiiii, ich will hierbleiben!!!!!", bettelte ich kläglich. "Ich will hierblieben!!!!!!! Ich will Herrn Kaiser sehen!!!!!!! Ich will Karneval feiern!!!!!! Ich will unseren Schulchor das Kirchenlied singen hören!!!!!" Zwecklos. Energische mütterliche Kräfte bewegten meinen widerspenstigen Körper unerbittlich weg. Und ich Naive wollte damals bleiben. Fand das einfach nur hip.

Fabian: Ich Idiot doch auch vor dem Forum, Meli, ich Idiot doch auch!!!!!

Melissa: Nachdem Mama genügend Geld abgehoben hatte, ordnete sie ursprünglich einen gewaltigen Bogen ums Rathaus an. Doch am Freiheitsplatz herrschte neuerdings regungslose Stille. Von weitem der Balkon verwaist.

Katussellpferd Leporello: Unseres frischgebackenen Staatsoberhauptes schmetternder Megafon-Schlachtenruf: "Im Schlosspark Philippsruhe drei Tage lang Essen und Trinken umsonst!!!!!"

Karussellpferd Theluma: Ein Straßenfeger. Seither in Hanau-Münzenberg geflügeltes Wort für 'Auf anderer Leute Kosten leben'.

Melissa: Sind da vermutlich gerade ins Foyer rein. Mama, sprunghaft wie eh und je, änderte jedenfalls ihre Meinung, schleppte mich zurück. Wir guckten perplex zum Balkon. Vom Ort heiteren Faschingstreiben verkommen zur gähnenden Ödnis. Herr Kaiser samt Elferräte und Tuchlaken spurlos verschwunden. Als wäre droben nie was gewesen.

Ein älterer Herr trat hinzu, innerlich kochend, starrte zeitgleich hinauf. Irgendwann sprach Mama ihn an. 

"Na, die sind ja rasant wieder in der Versenkung verschwunden! Wissen Sie Näheres?"

"Tuch weggerissen, Tür zugeknallt, Vorhänge zu, tschüss. Zum Glück hat dieser Gestörte aus dem Internet unsre schönen Gebrüder Grimm Fahnen ned angetatscht. Ei, stellt euch bloß emol vor, wollt der ahle Dummbatz die forttun!!!!!"

"Die schönen Brüder Grimm Fahnen? Ist nicht Ihr Ernst!!!!!"

"Ei, wenn ich's doch saaaaaach! Kemmt der adlige Monsieur enausgerennt wie'n wilder Ochs, brüllt rum, wenn er kein Graf wär, würd er persönlich schnurstracks das flatternde Zeug nunnerreißen und die Fahne der Sowjetunion enuff tun, passend zu den von seinem Gärtner hingestellten roten Blumen."

"Unglaublich!!!!!" 

"Vollkommen meschugge!!!!! Ich schwör's Ihnen, der Kerl ist Kommunist!"

Ich schaltete mich lernwillig ins Gespräch ein:

 

"Du, Mami, was ist ein Kommunist?"

"Ach, das ist einer, der fest an die rote Fahne glaubt."

"Und die Sowjetunion?"

"Ei, Mädsche, gibts ewig ned mehr."

"Na gut."

Der Mann zog murrend von dannen. Wir schritten näher heran, putzten gehörig unsere Augen, um vorhin Erlebtes zu begreifen. Guckten abermals baff.

Mit einem Mal schlurfte Tom an, unfassbar, unfassbar, unfassbar, dieser süße Handyverkäufer! Der Arme, sichtlich fertig, telefonierte verwirrt. Zückte meins. Statussymbol. Habe auch hier jeden einzelnen Satz gespeichert. Aktivierte offenbar wiederum unbemerkt die Voice-App.

"Ey, Alter, das gibt's noch nicht, Alter!"

"Wieder hier, Alter! Direkt am Balkon! Wo denn sonst, Alter?"

"Bitte, Alter, du musst mir glauben!"

"Ey, Alter, ich red keinen Schxxx!!!"

"Ey, versteh doch, Alter: Laura hat Schluss gemacht!"

"Ey, red ich Chinesisch, Alter? Laura hat Schluss gemacht!"

"Keine Ahnung, Alter! Einfach so! Ey, kneif mich mal durchs Smartphone, Alter. Kommt oben ein kostümierter Witzbold raus, weißes Gesicht, weiße Perücke, lässt sich feiern, macht auf Kong Kong, zerbricht nebenbei mühelos Hufeisen wie Salzstangen."

"Ey, Alter, zwölf hintereinander. Ich schwör, Alter, der geht jeden Tag in die Muckibude!"

"Ey, hör mal zu, Alter, weißt du, was Laura diesem Typen zugeschrien hat, Alter? Dass sie von ihm ein Kind will! Das ist doch nicht mehr normal, Alter!"

Karussellpferd Theluma: Der Hufeisentrick! Von August dem Starken abgekupfert! Damen sol-len angesichts solch männlicher Kraft reihenweise in Ohnmacht gefallen sein. Wir hielten das stets für Legenden aus dem galanten Sachsen. Dafür also Herrn Kaisers schweißtreibendes Extremtraining im privaten Fitnessraum.

Melissa: Noch immer fixierte ich gebannt die unten am Balkonwappen angebrachte Jahreszahl '1733', da würfelte die Glücksgöttin unverhofften Körperkontakt.

Karussellpferd Leporello: Die Glücksgöttin?

Melissa: Ja, Fortuna. Oh Gott, Tom stieß unbeabsichtigt mit mir zusammen, was mir DIE Chance bot, als Mädchen mutig den ersten Schritt zu wagen."Eeeeeeeeyyyy, kannste nicht besser aufpassen? Mich einfach so anzurempeln!" Oh Gott, Tom antwortete. "Tschuldigung, Lady, äääääääääääääh, haste zufällig Laura gesehen?" Jetzt frech daten. "Nö. Aber vielleicht..." "Komm, kleines Mäuschen Lillifee", funkte Spielverderberin Mama routiniert dazwischen,"wir müssen zum Parkhaus, du hast Mathenachhilfe!" Oh Gott, Tom grinste amüsiert, wie peeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiinlich!!!!! Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee, wenn sie mich so nennt!!!!! Doch jetzt, Theluma und Leporello, geschah das Verrückteste an diesem Morgen überhaupt

Karussellpferd Leporello: Was denn, Melissa?

Melissa: Meine zerstörte Ehemannhoffnung verschwand. Wir wollten uns ebenfalls vom Rathaus verabschieden, als aus unmittelbarer Nähe unerklärliches Geratter entsprang. Unwillkürlich wandte ich mich um, geriet völlig aus dem Häuschen."Duuuuuuuuuuuuuu, Mami, waaaaaaaaaarte mal", schrie ich, "eine golden glänzende Riesenkutsche biegt von der Hammerstraße in die Krämerstraße ab! Schaaaaaaaaaaaaaaauuuuuuuuuuuuuuu, Mami, die Karussellpferdchen sind auch dabei! Aaaaaaaaaaaaaaaaaawww, wie süüüüüüüüüüüüüüüüüß, überall mit langen bunten Schleifchen behangen!!!!! Und siiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeehhhh nur, Mami, die stylischen Mähnen!!!!! Duuuuuu, die waren beim Pferdefriseur!!!!!"  Sie würdigte die überschwängliche Entdeckung keines Blickes, bevorzugte schmerzhafte Druckausübung auf mein Handgelenk, drängte zum überstürzten Aufbruch: "Nicht bummeln, kleines Mäuschen Lillifee, komm, lass uns einen ordentlichen Zahn zulegen, sonst werden nochmal 1,50 Euro Parkgebühr fällig! Das willst du doch nicht, oder?" Typisch, nichts gönnt sie einem. Und ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich so nennt!!!!!

Karussellpferd Leporello: Sei froh, dass du weg musstest, Melissa, sei froh! 

Karussellpferd Theluma: Ooooooohhh Gooooooooooott, was uns am eigenen Leibe widerfuhr wäre für Graf Wilhelm IX., Errichter des Staatsparks, erklärtermaßen Tabu geblieben! Der Horror brach gegen 8 Uhr los. Wir frühstückten gerade gemütlich, um perfekt gestärkt bald ersten Besuchern Wilhelmsbads gefragtes Fahrgeschäft näherzubringen. Auf einmal stutzte Spartacus: "Komisch, Freunde, vom Comoedienhaus holpern zwei Pferdetransporter heran." "Was wollen die denn?", grübelte Missi. "Jetzt stoppen sie am Karussellhügel!", murmelte Nela.

Karussellpferd Leporello: Dann ging alles rasend schnell. Türen flogen auf. Heraus sprangen Jawlonskji und drei weitere Söldner, stürmten, warum auch immer in Elferratskostümen, den Weg hoch. "Genug geprasst, ihr Faulenzer ihr! Auf, auf, alle rein in die Anhänger, das ist ein Befehl!!!!!", rasselte seine militärische Stimme, die keinerlei Widerspruch duldet. "Ich zähle von 10 runter, sonst gibts heute Abend Pferdefleisch vom Grill!!!!!"

Carla, Melissa, Fabian: NNNNNEEEEEEEEEEIIIIIIIIIINNNNN!!!!! 

Karussellpferd Theluma: Mit Müh und Not bei '1' drinnen. Ziel: stadteinwärts. Zwanzig Minuten darauf scheuchte uns Jawlonskji unsanft hinaus. Wir befanden uns in der Fahrstraße. Mein Verstand piepte: Eine glamouröse Prachtkutsche, bespannt mit acht großkotzigen Rappen, erwartete baldige Abfahrt. Mit unzähligen Utensilien fummelten wichtigtuerische Angestellte, angezogen wie früher Wilhelms Schlossbedienstete, überall an uns herum. Anderthalb Stunden dauerte das lästige Getue. Schließlich durfte jeder im Spiegel seine neue Identität bestaunen. Vor Schreck wären Hatatitla und Simon beinahe umgekippt.

Karussellpferd Leporello: Kitschig aufgedonnerte Mähnenfrisuren. Affige Schleifchen, gekringelt, knapp bis zum Pflaster reichend. Zur Krönung über und über mit grässlichen Schellen versehen. Peeeeeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiinnnnlichhhh!!!!! Erdboden, verschluck mich!!!!!

Karussellpferd Theluma: Gerade protestierte Ascana empört, was diese Show bitteschön soll, als des Weiteren eine dem 18. Jahrhundert entwichene Figur, schuhklackernden Schrittes andüste, fieberhaft ihre diamantbesetzte Breitling beäugend.

Karussellpferd Leporello: "Wilhelm IX., aaaaaaaaaber wie daaaaaaaaaaaaas?????", schreckten wir geschockt zusammen. 

Karussellpferd Theluma: Der Graf von Hanau winkte geringschätzig ab. Untypisch. Erst dadurch registrierten wir die Fata Morgana. Einer der beiden gleichfalls zeitgenössisch herausgeputzten Kutscher stieg ab, öffnete demütig verbeugt das Gefährt. Kaum hingesetzt, riss Alessa Maries Vater die Fensterscheibe runter: "À Steinheim!" Okay, überlegte ich, wie es ausschaut findet dort eine geschichtliche Veranstaltung statt, und er erscheint als protziger Rokoko Adliger. Kann er sich ja jetzt leisten mit unzähligen Lotto-Millionen.

Karussellpferd Leporello: Die Karosse raste los. Unsere Aufgabe bestand darin, nebenher zu galoppieren, je vier auf einer Seite, dabei unentwegt unisono "So machet denn Platz für Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden neuer Graf von Hanau-Münzenberg!!!!!" wiehernd. Jeder wähnte sich im falschen Film. Vor allem gerieten Wilhelmsbads beliebte Sehenswürdigkeiten umgehend außer Puste. Karussellpferdchen sind zierliche Wesen, ihre Beinchen können mit denen richtiger Artgenossen niemals konkurrieren.

Karussellpferd Theluma: Wen kümmert's? Oberangeberrappe Auguste schnaubte hochmütig: "Naaaaaaaaaaaaa, Messieurs-dames, geht heute nicht so schnell wie üblich, n'est-ce pas? Schon ordentlich auf unseren neuen Landesherrn angestoßen?"

Karussellpferd Leporello: Frechheit!!!!! Dann der traurige Höhepunkt. Ungehalten über unser Tempo flog wiederum das Fenster auf. "Los, los, ihr lahmen Ackergäule!!!!! Anderenfalls lasse ich euch aus dem Karussell werfen!!!!!" 

Carla, Melissa, Fabian: NNNNNEEEEEEEEEEIIIIIIIIIINNNNN!!!!!

Karussellpferd Theluma: Ingeborg platzte daraufhin der Kragen: "Jetzt hören Sie mal gut zu! Immerhin sind wir rund 230 Jahre älter als der Herr Graf!!!!! 

Fabian: Äh...und seine Reaktion?

Karussellpferd Theluma: Heftigen Schlages krachte die Scheibe zu. Hanau-Münzenbergs unumschränkter Regent drückte sein weiß gepudertes, zopfperückenverziertes Antlitz zornig ans Glas. Tja, seitdem hasst er uns endgültig.

Karussellpferd Leporello: Ja, Seine Durchlaucht quälen schlaflose Nächte, weil wir beim Volk bereits vor dem 30. Oktober 2017 hoch angesehen waren. Der Wiederöffnung des ältesten Karussells der Welt im Juli 2016 kam bekanntlich größte regionale Bedeutung zu. Eine Herzensangelegenheit. Viele Menschen besuchen nur deswegen den Staatspark, wir erklären es gerne fachkundig. An Fahrtagen fühlen Erwachsene sich in glückliche Kindheitstage zurückversetzt, Kinderaugen leuchten, sobald die eleganten Kutschen anfahren, Gesichter strahlender Kinder, wenn kleine Besucher uns streicheln dürfen und Süßigkeiten erhalten. 

Karussellpferd Theluma: Wir sind eben volksnah. Im Gegensatz zum abgehobenen, aufgeblasenen Philippsruhe, welches das vornehme Versailles ungehobelt imitiert.  

Karussellpferd Leporello: Daher Dennis Kevins absolutistische Demütigungsaktion, Hanaus Lieblinge an jenem Tag als Lachnummern auftreten zu lassen.

Carla: Oh, dieser miese Graf!!!!!

Melissa: Und weiter?

Karussellpferd Theluma: Ingeborgs Protest zeigte Wirkung. Die Pferdelimousine fuhr nunmehr in angepasster Galoppgeschwindigkeit über die Steinheimer Brücke, bog an der Großkreuzung links ab, gleich nochmal links, erreichte den Mainuferweg, rumpelte auf Steinheims Altstadt zu.

Karussellpferd Leporello: In Höhe Theodor-Heuss-Schule bedankte sich Herr Kaiser sogar bei uns mit einer wirklich amüsanten Stehgreifkomödie als kleine Wiedergutmachung.

Karussellpferd Theluma: Hahahaha, ach, diese Story. Fensterlärm Teil 3. Sich wegen des Fahrtwindes die standesgemäße Zopfperücke haltend steckte Herr Kaiser sein adliges Haupt heraus, krakehlte: "Heinrich, der Wagen bricht!" Bekanntes Zitat zielte dabei auf postwendend vom Kutschbock vernehmbare "Brrrrrrrrrrr"-Laute. Lustigerweise hieß ein Kutscher nämlich tatsächlich so.

Karussellpferd Leporello: Offenkundig war das Ziel aus irgendwelchen Gründen ungenau bezeichnet worden. Heinrichs Namensvetter, keinen blassen Schimmer, was Seine Durchlaucht wünschte, vermutete einen Bildungstest, parierte zitierend: "Nein, Herr, der Wagen nicht! Es ist ein Band von meinem Herzen, das da..." Weiter kam Heinrich nicht. "Waaaaaaaaasss?????" Neuer Anlauf: "Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen, als..." Unser Souverän: "Blödmann!!!!! Sein Hirn schmerzt!!!!! Er ist an der Wegbank vorbeigefahren!!!!! Los, anhalten!!!!! Kehrt!!!!! Dalli, dalli!!!!! Sonst kracht's!!!!!"

Carla, Melissa: Hihihihihihihihihihihi!

Fabian: Muuuuuuuaaaaahahahahahahahaaaaaa!!!!!

Karussellpferd Theluma: Nach Herrn Kaisers, bravourösem Intermezzo, frei Haus geliefert, wendeten Heinrich und Stefan den Prunkwagen quer übers Mainwiesengras, stoppten, damit wir uns vor ihm von neuem formieren konnten. Angesichts pompöser Breitenmaße war nämlich der Uferweg für einen Galopp nebenher zu schmal. Ich positionierte mich zur Abwechslung ganz vorne rechts neben Ingeborg, Blick feste geradeaus. Vom nahen Spielplatz links eine fröhliche Mädchenstimme. "Eine Goldkutsche, eine Goldkutsche!" "Dort, wo's weiße Schild steht, dahin gehts, ihr Deppen!!!!!", erwiderte hinten das Echo.

Karussellpferd Leporello: Und weil ihm Dinge nie flott genug gehen, übernahm Mister Emporkömmling von drinnen in höchsteigener Person den Kutscherruf: "Looooooooooooos!!!!! Hüüüüüüüüüüaaaaaaaaaa!!!!! Hüüüüüüüüüüaaaaaaaaaa!!!!!" Woraufhin Wilhelmsbads ehrbare Geschöpfe mit vielfarbigen Kringelschleifchen, gruseligen Mähnenfrisuren, klingelndem Gebimmel, aufgezwungenem "So machet denn Platz für Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden neuer Graf von Hanau-Münzenberg!!!!!" die letzte Etappe ebenso verdrossen bewältigten.

Karussellpferd Theluma: Am erreichten Punkt wurden wir allesamt fassungslose Beobachter eines den Balkonauftritt wahrlich toppenden, schändlichen Schmierentheaters, welches selbst Snob Auguste beschämte. Kaum ausgestiegen stolzierte unser Regent auf erwähnte Ausruhgelegenheit zu, machte sich daran, sie kühn zu erklimmen, ungeachtet für dieses Material eindeutig unpassender Schnallenschuhe. 

Karussellpferd Leporello: Balla, balla! Entsprechend stieß sein rutschiges Vorhaben schon beim ersten von insgesamt sechzehn grotesk anmutenden Soloversuchen auf unüberwindbare Hürden. Erbost seine Kutscher herbeibefehlend erlangte er schließlich dank Unterstützung einigermaßen Standfestigkeit. Politisch betrachtet bedenklich wacklig.

Karussellpferd Theluma: Nichtsdestotrotz imitierte Herr Kaiser die Theodor-Heuss-Schule anvisierend mehr schlecht als recht Ludwigs XIV. berühmte Pose. Geneigt, zwei privilegierte Stadtteile an Hanau-Münzenbergs erster politischer Entscheidung seit 1736 huldvoll partizipieren zu lassen.

Karussellpferd Leporello: "Wir, Dennis Kevin I., à partir d'aujourd'hui von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg", säuselten hochnäsige Laute aus beiden Nasenlöchern, "tun Unseren durchlauchtesten Willen kund, die auch unter den Namen Steinheim, weiterhin Klein-Auheim bekannten Stadtteile ab itzo bis ad finem mundi gar nimmer mehr Unserer Grafschaft trefflich Eigentum heißen zu wollen. Mögen deren Einwohner sich fortan Mühlheim am Main anschließen, Hainburg, Obertshausen oder ad libitum dem Kurfürstentum Mainz. Wisset, es sei Uns bei Hofe einerlei."

Fabian: Und der regiert uns?

Carla: Bingo!

Karussellpferd Theluma: Was für ein arroganter Schnösel! 

Karussellpferd Leporello: Sprachs und kletterte manuell in gleicher Weise gesichert wieder hinab. Widerwillig. Bankbezwinger Kaiser hätte gefällten Beschluss Steinheims Grundschule gerne präziser entgegengenäselt, indes die diamantbesetzte Breitling mahnte Dringlichkeitsstufe 1 an. "Daran seid allein ihr lahmen Esel schuld!", versuchte Graf Kaiser uns tolldreist den Schwarzen Peter zuzuschieben.

Karussellpferd Theluma: Was jedoch im Anschluss folgte, schlug dem Fass endgültig den Boden aus. Zur Bestätigung zog er unversehens seinen am Griff mit kostspieliger Muga-Seide umwickelten, in Toledo angefertigten Degen, verpasste der behaglichen Sitzmöglichkeit wuchtig eine Kerbe ins Holz. Pferde und Pferdchen schäumten. Heinrich schwieg eisern. Desgleichen Kollege Stefan. "Sehet, Unser gräflich Beglaubigungssiegel!", höhnte Alessa Maries Vater und schickte sich an, zur Weiterfahrt einzusteigen.

Melissa: Krass. Dem sind echt seine Jackpots zu Kopf gestiegen.

Karussellpferd Leporello: Kommt noch besser. Zeitgleich gewann im Kampf zwischen Dauerbewölkung und gelegentlich erfolglos durchzukommen versuchender Sonne neuerlich intensiver Lichtschein die Oberhand. Arme weit ausgestreckt strahlte Prahlhans verklärt empor, schwärmte verzückt: "Ooooooooooooooooooooooooh, glückliches Hanau! Merke auf, vernehme die Kunde! Ludwig XIV., le roi du soleil même, segnet vom Himmel aus Unsere unwiderrufliche Grenzfestlegung avec grand plaisir mit hehrem Glanze!" Obwohl er sich hiernach schleunigst zum Gefährt begab, ließ ich es mir als Karussellpferd dennoch nicht nehmen, meine Vorderhufen flink dort aufzusetzen, wo Herr Kaiser eben gestanden hatte. Welch staatsmännischer Dilettant, schwirrte es mir durch den Kopf, gibt rein emotional zwei Stadtteile jenseits des Flusses schwuppdiwupp bedenkenlos auf. Nur weil der hinter der Sitzbank fließende Main ehemals den Grenzverlauf zwischen Hanau-Münzenberg und Kurmainz bildete.

Melissa: Jeeeeeeeeeeeeeeeeeetzt leuchtet mir ein, warum seit 2017 weder Steinheim noch Klein-Auheim zu Hanau gehören! Meine Eltern sprechen zwar oft darüber, richtig erklären können sie es aber nie. Na jaaaaaaaaa, und unsere Lehrer brauchst du erst gar nicht fragen. Die wissen eh nix. 

Carla: Ist aber voll logisch, Meli. Überleg. Außer Herrn Kaiser, Pferden und Kutschern gabs keine Anwesenden.

Fabian: Hofangestellte werden niemals leichtsinnig plaudernd ihre angesehenen Jobs riskieren, besonders jetzt in der Krise! Und, Leute, seien wir gaaaaaaaaanz ehrlich, wer glaubt schon Tieren oder Karussellwesen?

Carla: Heftig. Stell dir vor, du sitzt in der Theodor-Heuss-Schule im Sachkundeunterricht, wirst aufgerufen, gehst nichtsahnend an die Tafel, alles noch ok. Tja, dann beim Kreide nehmen kann Steinheim zusehen, wo es bleibt.

Fabian: Jaaaaaaaaaaaa, genaaaauuuu!!!!! Wie die Zuggäste in Wolfgang!!!!! Mussten auch zusehen!!!!!

Karussellpferd Theluma: Fabian sprüht ja förmlich vor Mitteilungsdrang!

Fabian: Fabian, du dummer, dummer Esel!!!! Dasselbe in Grün. Von wegen neue Videoproduktionen! Aaaaaaaalllllsooooo, Leute. Heimwärts gelang es mir irgendwie, Mama für ein paar Lokomotivaufnahmen breitzuschlagen. Zuerst hieß es nein, wegen des windig kalten Wetters. Ok, Aufdringlichkeit bewirkt bekanntlich Wunder. Obwohl, ihre Bedenken stimmten, trotz überwiegendem Sonnenschein zog es auf dem ungeschützten Bahnsteig unangenehm. Weiß noch, die Zeiger tickten auf 12.23 Uhr. Übergangslos hallendes Schimpfen, hallendes Geklacker in der Gleisunterführung. Als ob jemand panisch fürchtet, seinen Zug zu verpassen. Unverhofft purzelte allerdings Herr Kaiser inclusive ununterbrochen Beifall zollendem Gefolge aus dem Treppengang. 

Karussellpferd Leporello: Seine unterwürfigen Höflinge! In Philippsruhe dem Cateringservice die ersten Biere, Steaks und Bratwürste entreißend von Jessica fort zum Schmeicheln gejagt. Schmarotzer, unablässig um die Gunst Seiner Durchlaucht buhlend. Ludwig XIV. lässt grüßen. Extrem standesbewusste Blaublütler, penetrant arbeitsunwillig, von nostalgischer Sehnsucht nach verblichenem Ruhm ihres Stammwappens nach Hanau gelockt, anstatt weiterhin unehrenhaft Berufe auszuüben. Dafür schlawenzeln Freiherrn, Ducs, Barone, Earls mit Kusshand in überholter Mode herum, dem neuen Sonnenkönig aufwartend. Vom weiblichen Geschlecht ganz zu schweigen. Besonders jetzt im Krisenmodus.

Karussellpferd Theluma: Oder Realitiätsfremde, deren erzkonservative Adelsgeschlechter die 1789 eingetretenen Veränderungen negieren. Kennt ihr doch aus Geschichte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 'Bewegung 1733' prangte keinesfalls grundlos auf dem Demonstrationsplakat.

Carla: Werde Geschichte als Leistungskurs wählen. Fands immer totlangweilig. Aber jetzt!   

Fabian: "Auf den letzten Drücker", schnauzte er, "acht tranfunzelige Karussellgäule haben Uns nur wertvolle Zeit gekostet. In zwei Minuten kommt der Zug!" Mit flacher Hand an der Stirn hielten alle erwartungsvoll Ausschau Richtung Niederrodenbach. Mir nichts dir nichts jedoch verfinsterten sich sämtliche weiß gepuderten Mienen. Alessa Maries Vater trampelte mit seinen Glanzschuhen herum, bedrohte die Anzeigetafel.

Karussellpferd Theluma: Lass mich raten. Deutsche Bahn. Verspätung. Nach oder von Wächtersbach?

Fabian: Von. Laut durchlaufender Textinformation neuerdings voraussichtlich 30 Minuten. 12.55 Uhr statt 12.25 Uhr.

Karussellpferd Leporello: Immerhin. Kannst froh sein, wenn dein Zug überhaupt anrollt. Und unser toller Graf?

Fabian: Verschränkte beide Arme wie ein trotziges Kind, blaffte: "Phhhhhhh! Dann knöpfen wir uns eben den Zug nach Wächtersbach vor! Mir doch wurscht! Vorwärts!!!!! Marsch!!!!!" In der Unterführung abermals Hochbetrieb. Soldaten tauchten auf, Uniformen aus dem 18. Jahrhundert. Eine Fastnachtsgarde! Die Bahn fuhr ein. Ihre Lok damals standardmäßig eine Baureihe 114. Jetzt setzt man zwischen Frankfurt und Wächtersbach nur...

Carla, Melissa: Faaaaabiiiii, du nervst!

Karussellpferd Theluma: Bitte, Fabian, bitte, bitte, klatsch dir doch nicht andauernd an den Kopf. Junge, unberechtigte Selbstvorwürfe bringen doch nichts! Bitte, bitte, hör auf damit! Da freut er sich doch drüber! Fühlt sich in seinem adligen Hochmut volle Kanne bestätigt!

Fabian: Fabian, du dummer, dummer, dummer Esel!!!!! Schwurst Stein und Bein, dass Herr Kaiser mit dieser Faschingsnummer definitiv Influencer wird!!!!! Was für ein Wahnsinns Erlebnis!!!!! Das Militär enterte die Waggons. Kurz darauf protestierten zahllose Darsteller auf dem zugigen Bahnsteig. "Das wird ein Nachspiel für Ihren Verein haben! Auch für den Karneval gelten Regeln, merken Sie sich das gefälligst!", vernahm ich. Oder: "Finger weg! Was fällt Ihnen ein!" Oder: "Wer sind Sie überhaupt? Können Sie sich ausweisen?" Zum Schießen! Einer nach dem anderen verschwand der wirr durcheinander mit Verwandten, Freunden, Taxifirmen telefonierende Strom exzellenter Laienschauspieler im Unterführungstunntel zum Bahnhofsvorplatz. Szenenwechsel. Ein Diener hüpfte auf verächtlichen Fingerschnipp herbei, reichte tief verbeugt Pfeife und Kelle. Herr Kaiser trat links neben mich, spielte Schaffner. "Aaaaaaaaaaaaaaaabfaaaaaaaaaaaaaaahhhreeeeeen!!!!!" Mega cool, wenn die Lok schiebt!   

Karussellpferd Leporello: Herrn Kaisers Aktion kursierte lauffeuerartig. Nachmittags kam eine Mutter zum Karussell gerast, stinksauer, berichtete uns, kaum am Hauptbahnhof eingestiegen hätte ihr Sohn in Wolfgang irgendwelchen Karnevalsgardisten unter Gewaltandrohung den nicht vorhandenen Reisepass vorzeigen müssen. EU-Außengrenze. Personalausweis unzureichend.  Ernsthaft: Welche siebzehnjährigen Verliebten stecken zum allerersten Date nach Gelnhausen Pässe ein? Für Jonas bedeutete es folglich unfreiwilligen Rausschmiss. Geistesgegenwärtig rief er vom Gleis umgehend Hannah an, bat um Verschiebung, argumentierte, doch die servierte ihn gnadenlos ab, fühlte sich verständlicherweise verschaukelt .

Karussellpferd Theluma: Absolutistische Willkür! Außer Gott ist der Herrscher niemandem Rechenschaft schuldig. Laut Gerichtsurteil entsprach Hanau-Münzenbergs Staatsgrenze anfänglich exakt der Hanauer Stadtgrenze. Ergo befand sich dieser aufgeplusterte Pfau formal bedauerlicherweise im Recht, Niederrodenbach liegt bereits hinter Hanau.

Karussellpferd Leporello: Weißt du noch, Herrn Kaisers hirnrissige Schnapsidee mit dem sofortigen EU-Austritt entstand reflexartig an der Wegbank.

Karussellpferd Theluma: Und ob! Beim Einstieg in die Kutsche hielt er abrupt inne, hob seinen rechten Zeigefinger gleichsam einer genialen Eingebung. Entgegen ursprünglicher Pläne, im Philippsruher Schlosspark als charmanter Grillmeister und Bierzapfer in Erscheinung zu treten, befahl Seine Durchlaucht: "Henri! Stéphane! À Wolfgang maintenant! J'ai une idée!"

Fabian: Auch ne Unlogik bei ihm, einerseits disst Herr Kaiser auf Youtube in französischer Sprache unsere Mundart, anderseits schwätzte er mit Melissa und mir Hessisch. Während ich der entschwundenen Regionalbahn träumend hinterherschaute, tippte mich Alessa Maries Vater, übrigens genauso glühender Eisenbahnfan, kumpelhaft von hinten an: "Ei, sind se auch was geworn? Zeisch emol her!"

Ich zuckte zusammen, wendete mich zögernd um, stotterte schüchtern: "Hier. Leider nur ein paar." Er nickte anerkennend. "Klasse, Bub. Wenn du mol Zeit hesst, kemmste mit deinen ganzen Bildern ins Schloss. Da tun mer dann fachsimpeln!" Verwirrt wollte ich fragen, wie das mit dem Schloss gemeint war. Allerdings stapfte er da bereits samt Gefolge zum für Züge in Richtung Hauptbahnhof Hp0 anzeigenden Hauptsignal, erkennbar an zwei roten Lichtern waagerecht nebeneinander. Ist aber nicht immer der Fall. Manchmal wird Hp0 auch nur durch ein rotes  Li... 

Carla, Melissa: Faaaaabiiiii, du nervst! 

Fabian: Fabian, du dummer, dummer, dummer, dummer Esel!!!! Dachtest, die drehen weiter. "Mit dem Video wird er doppelt und dreifach Influencer!", entfuhr es mir sensationsgierig. Herrn Kaisers Einsatz war dermaßen gewagt, dermaßen halsbrecherisch, dass einer der Schleimer versuchte, ihn vom Irrsinn abzuhalten! Vergeblich. "Écoutez-moi bien, Vitus Emmanuel, le comte ici c'est encore moi!", wies dieser den Kriecher schroff zurecht, kletterte, ich konnts nicht fassen, verbotenermaßen aufs Gleisbett, vorsichtig, damit bloß seine noble Grafenkleidung sauber blieb, stolperte in spiegelglattem Schuhwerk über Schotter, Schwellen und Schienen zum Signalmast, trat rasend vor Zorn dagegen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Vitus Emmanuel händeringend: "Ihro Gnaden, mit Verlaub, bei Grün könnten Wir Euren Unmut verstehen. Bitte bedenkt, Rot hingegen steht als Farbe gar vortrefflich!" Es klingelte im Oberstübchen. "Freundschaft, Genossen! Ach, führe doch die 114 von eben passend zur Lackierung mit roten Sowjetfähnchen geschmückt gen Wächtersbach, das Logo verziert mit Hammer und Sichel!" Zwanzig widerliche Speichellecker in Rokokokleidung reagierten umgehend mit kommunistischer Faust.

Karussellpferd Leporello: Mit solch deplatzierten Possen nahm Seine Durchlaucht im Grunde genommen am selben Tag Abschied vom eigenen neoabsolutistischen Konzept, welches er großspurig der Region überzustülpen beabsichtigte.

Karussellpferd Theluma: Wobei rohes Malträtieren 'Halt!' vermeldender Signale schwere tiefenpsychologische Störungen aufweist.

Karussellpferd Leporello: Du meinst unverarbeitete Aggressionen? Angestauter Ärger angesichts jahrelang erduldeter Verspätungs- und Zugausfallerlebnisse, als Herr Kaiser im Krankenhaus arbeitete? Er im Winter zur Frühschicht bei Dunkelheit regelmäßig mit weit ins Gesicht gezogener Kapuze auf Wolfgangs eisigem Bahnsteig ausharrte? Von einem Fuß auf den anderen tretend? Hände tief in Jackentaschen vergraben? Die Regionalbahn nach Frankfurt manchmal mit mehr, meistens mit weniger Erfolg bibbernd herbeibetend?

Karussellpferd Theluma: Genau. Erleichtert, gelöst, berauscht vom Erfolg, einen skrupellosen Coup derart spielend gelandet zu haben, schoss beim Signalanblick verdrängtes Pendlerelend ungebremst hoch.

Fabian: Wollte ja unbedingt live dabei sein, wenn Alessa Maries Vater jeden Moment den überfälligen Zug filzen würde. Unvorhergesehen durchkreuzte jedoch Frau Spaßbremse meine Absicht. Reichte ihr wohl, länger im Auto zu warten. "Zehn Minuten noch, biiiiiiiiiiiiiiiiitte, Mami, komme gleich, versproooochen!", versuchte ich sie fix zurück zum Parkplatz zu lotsen. "Das ist ja unerhört!" Mama in Action. Einer wilden Furie gleichend stürzte sie auf Herrn Kaiser los, der tatendurstig Hände reibend eilends aufs gegenüberliegende Bahnsteigende zusteuerte, hin zu Jawlonskjis gedrillt in Reih und Glied angetretener Truppe. "Wenn Sie das auf Ihrem Youtubekanal bringen, Herr Kaiser, melde ich Sie! Nur damit Sie Bescheid wissen!" Der hat geglotzt.

Karussellpferd Leporello:  Lob an deine mutige Mutter, Fabian, dem unverschämten Kerl offen vor seinen Schranzen gehörig die Leviten zu lesen!

Fabian: Fabian, du dummer, dummer, dummer, dummer, dummer Esel!!!!! Heiß auf Action startetest du geradewegs neuerliche Versuche, sie abzuwimmeln. "Maaaaaamaaaaaaaaaaaa, keine Panik, ich kooooooooooooomm doch gleich! Veeeersproooooooochen!"

Karussellpferd Theluma: Hoffentlich wirkungslos.

Fabian: Keine Sorge, Theluma, blieb hart wie Stein. "Unfassbar!!!!!", tobte sie, "Siiiiieeee... Siiiiieeeee....unverantwortlicher Internetrowdy!!!!! In Anwesenheit Minderjähriger aus Jux und Tollerei Gleise zu betreten!!!!! Fabi-Liebling!!!!! Auf!!!!! Wir gehen!!!!! Ich warne dich, keine Widerworte!!!!! Genug fotografiert!!!!!" Ich haaaaaaaaaaaassseeeeeeeeeeee es, wenn sie mich Fabi-Liebling nennt!!!!!

Karussellpferd Leporello: Das heißt, für dich war die Party vorzeitig zu Ende.

Fabian: Najaaaaaaaaaaaa, wenn Mama loslegt. Wenigstens gelang es mir, haargenau an der Stelle, wo Herr Kaiser von blinder Erinnerungswut gepackt gewaltsam am Degen gerüttelt hatte, abschließende Impressionen des unbeirrt Ausfahrten verbietenden Signals zu erhaschen; bevor ich beleidigt schmollend in den muffeligen Treppenabgang folgte. 

Karussellpferd Theluma: Eh fraglich, ob diese Bahn jemals eintraf. Häufig erlebst du, dass sie nach zuerst vertröstenden Verpätungsinformationen gerne noch eins draufsetzen und unzähligen treu Ausharrenden als Dankeschön den Zugausfall mitteilen.

Karussellpferd Leporello: Jedenfalls riss um 13 Uhr Seiner Durchlaucht Geduldsfaden, und wir, das schillernde Begleitkommando, wurden im finalen Akt für die triumphale Rückkehr zur Doppelhaushälfte ausgenutzt. 

Karussellpferd Theluma: Ihr Lieben, kurzer Break. Wiederholt viel zu lange Konversation gepflegt. Allerhöchste Eisenbahn für Tarnpause 2. Viertelstunde diesmal. Unauffällig verteilen! Jeder am gewohnter Platz!

    

Karussellpferd Leporello: Das sind Zeiten. Wenn du geschlagene fünfzehn Minuten abseits am Geländer verbringst, aus Nichtstuerei Selbstgespräche führend Großkrotzenburgs Schleuse beguckst, zugleich das unaufhörlich schäumende und wirbelnde Mainwasser anhimmelst, als wärs von nem anderen Stern, bloß um nicht den Anschein einer unerlaubten Ansammlung zu erwecken, ist irgendetwas faul im Staate Dänemark. Inhalieren typischen Flussgeruchs gegen Bußgeld wegen Coronauflagenverstöße.

"Aaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhh, herrlich hier am Main, Leporello, hast sowas vorher noch nie im Leben gesehen! Die Niagarafälle und die Schleuse von Sault St. Marie ähneln Witznummern dagegen. Willst gar nimmer weg!"

Karussellpferd Theluma: So, alle wieder vollzählig da. Es kann weitergehen.     

Carla: Jetzt eine ganz wichtige Frage, Theluma und Leporello, bitte seid ehrlich. Okay, wir besitzen Insiderkenntnisse über den 30. Oktober 2017...aber meint ihr, das genügt, um Papa rechtzeitig vor dem Spessart zu retten? Oh Goooooott...fünf Tage...oh Goooooott...dann muss er seine Strafe antreten...ein Jahr...oh Goooooooott...bestimmt stürzen Stollen ein...ich werde Papa nie wieder sehen...nie...nie...nie....niiiiiiiiiieeeeeeeeee...!!!!!

Melissa: Nicht weinen, Süße, wir finden hundertpro eine Lösung, ich drück dich gaaaaanz fest!

Karussellpferd Theluma: Was blickst du mit so ernster Pferdemiene drein, Leporello?  

Karussellpferd Leporello: Schwierig, schwierig, schwierig. Wir bewegen uns beweistechnisch auf hauchdünnem Eis. Wie Fabian vorhin treffend bemerkte, Zeugen werden kaum Aussagen tätigen, sprich, viele bekamens mit, keiner bekräftigts. Selbst wenn Wilhelmsbads einzigartige Glanzstücke offiziell Beschwerde einlegen, als Argument übereinstimmend anführen, gewisse Sprüche, Verhaltensweisen et cetera gäben tatsächlich berechtigten Anlass zur Spekulation, wird Seine Durchlaucht ihm Unliebsames unter Hinweis auf anno dazumal in Adelskreisen übliches Scherzen federstrichartig beiseite schaffen, rotverdächtiges Benehmen als Pillepalle abtun.

Karussellpferd Theluma: Künstlich aufgebauscht von Hanau-Münzenbergs Hatern. Zu denen demnach Carlas Vater zählt.

Karussellpferd Leporello: Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. 

Karusselklpferd Theluma: Unser Herr Souverän hat seit jener Schreckenstat vom 19. Februar 2020 aufgrund zuvor der marxistisch-leninistischen Requisitenkammer bedacht oder unbedacht entnommenen Utensilien immense Imageprobleme. Zuverlässige Quellen belegen, dass dieser heikle Punkt am 06. Januar 2021 auf einer außerordentlichen Geheimkonferenz zwar erörtert, infolge ungeheurer Brisanz aber bereits am Folgetag von Bernhardette Constanze Amalia beim Morgenspaziergangs eigenhändig aus dem Protokoll entfernt wurde. Gravierende Vorwürfe können Kaisers im Coronazeitalter alles andere als gebrauchen. Ausgerechnet Dennis Kevin, der seit dem 30. Oktober 2017 frühere Territorien ins ancien régime zurückkatapultieren will.

Karussellpferd Leporello: Ernüchterndes Zwischenresultat: Knapp zweieinhalb Jahre später, am 25. März 2020, mitten im Lockdown 1, blieb Bernardette Constanze Amalia während ihres gewohnten morgentlichen Promenierens kurz vor Passieren des Hauptgebäudes auf dem Uferweg stehen, ließ sich von Hofdame Yvette das Fernglas zur Gänsebeobachtung reichen, beäugte vergrößert die auf Dennis Kevins Geheiß gehisste achtwöchige Trauerbeflaggung. Hierbei resümierte Frau Gräfin desillusioniert: "Tiefschlag. Ein Aushängeschild par excellence für Unser strahlendes Versailles am Main! Riet seinerzeit eindringlich davon ab. Quelle idée farfelue! Zuckiputzis Rathausauftritt hätte es bestens getan." 

Erwähnte Begebenheit beruht zweifelsfrei auf sehr glaubwürdiger Berichterstattung, von allmählich aus tiefem Dornröschenschlaf erwachenden dames d'honneur kurz nach Ende des ersten Lockdowns unabhängig voneinander uns gegenüber mehrfach am Karussell hinter vorgehaltener Hand geäußert.

Karussellpferd Leporello: Bei Hofe freilich spielt man die Angelegenheit als mehr oder weniger gelungene Späßchen Seiner Durchlaucht zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution herunter. Das Übrige klärt Justitia. Verständlich. Welcher Vertreter der feudalen Ausbeuterklasse erstrebt den Ehrentitel Der neue Herr Lenin im Volksmund?

Karussellpferd Theluma: Selbst wenn wir Wilhelmsbader Autoritäten standhaft auf Gehörtes und Gesehenes pochen, wird Herr Kaiser unweigerlich Alessa Marie, die einzige seiner vier Grazien, die überhaupt ansatzweise einigermaßen Grips in der Birne hat, beziehungsweise deren selten dämlichen Tukan bemühen.

Fabian: Hahahaha, Tuki Tukan Seigneur de Beilstein!

Karussellpferd Theluma: Geadelte Tiere - solchen Schwachsinn findest du nur in Dennis Kevins und Jessicas neuer Grafschaft Hanau-Münzenberg! Als er 2014 mit Kaisers aus Costa Rica nach Deutschland reiste, bekannte sich unser Mittelamerikaner felsenfest zu Fidel Castro, pries pathetisch die Kubanische Revolution.

Karussellpferd Leporello: Und genau die werden zugunsten Seiner Durchlaucht behaupten, in der Stadt brodele die Gerüchteküche. Beide werden darlegen, Herr Kaiser sei allein deswegen kein im Mausoleum auferstandener Lenin, weil er beim Heimkommen vom Bahnhof Wolfgang sogleich den auf der Balkonbalustrade Commandante Che Guevara trällernden Tropenvogel veralberte. Bei jeder Gelegenheit drängt Alessa Marie gähnenden Zuhörern diese längst ausgelutschte Anekdote auf.

Karussellpferd Theluma: Demzufolge ertappte Mademoiselle ihr Maskottchen in flagranti beim strikt verbotenen Politgesang, witzigerweise just im selben Augenblick als Papi samt ergebener Schar Lobhudler unten über die Wegplatten wetzte.

2019, bei einer exklusiven Karussellfahrt mit ihrer allerbesten Freundin Caislin, beschrieb sie die folgende Episode dahingehend, unmittelbar nach Erreichen der Terrasse wäre väterlicher Spott vernehmbar gewesen: "Ooooohooooooooooo! Wen haben Wir denn daaaaaaaa? Genosse Straßenmusikant lungert oben faul in der Sonne rum! Er braucht gar nicht stolz belcantieren! Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg tut ihm kund, dass la revolución heute kläglich gescheitert ist. Nix mit hasta siémpre commandante! Nix mit kubanischer Zigarre! Terminado! Schluss mit lustig! Auf, Strauchdieb! Packen! Umzug! Philippsruhe! Abflug! Adelante, bandito!"

Karussellpferd Leporello: Anschließend zu Tränen gerührt hinuntergestürmt, kündet der Mythos, hätte sie den siegreichen Triumphator im weit geöffneten Terrasseneingang mit einem dafür eigens geflochtenen Lorbeerkranz ehrfürchtig als Pater Laureatus bekränzt.

Karussellpferd Theluma: Welcher unverzüglich und in gewohnter Manier eigene Frechheit überbot. Unter Caislins kreischendem Gelache gab Fräulein Schwatztante jene unwürdige Szenerie zum Besten, in welcher Superman dem sich erwartungsvoll zu seiner Linken hinstellenden Nachwuchstalent gleich mal vorbildhaft demonstrierte, wie lorbeergekrönte Profigrafen jahreszeitlich rot gefärbten Fächerahorn, für den Costa Ricaner Symbol einer klassenlosen Gesellschaft, blaublütig erniedrigen.

Karussellpferd Leporello: Indem er Japans beliebtem Ziergewächs niederträchtig Eselsohren zuwedelte, ad hoc begleitet vom ergänzend garstig die Zunge heraustreckenden gelehrigen Marquiselein. Angespornt von einer dahinter im Wohnzimmer dutzende Male "Supèrbe! Supèrbe! Formidable! Encore une fois!" sülzender Claqueure.  

Karussellpferd Leporello: Seit an Seit mit Herrn Papa gings dann zwei Meter weiter, direkt vor des Lateinamerikaners im Sonnenstrahl leuchtendes Revolutionszeichen, wo Supergirl die vorangegangene schäbige Doppelvorstellung zum freudigen Entzücken aller bravourös alleine beherrschte. Soweit das geschilderte Wiedersehensereignis in bewusst gekürzter Fassung.

Karussellpferd Theluma: Bedenklich, bedenklich für eine Vierzehnjährige, mittels infantilem Grimassenschneiden eigenes Selbstbewusstsein auf Kosten unschuldiger Pflanzen aufzuwerten.

Melissa: War die nicht mal beim Psychiater?

Karussellpferd Leporello: 2016 bis 2019, in Zusammenhang mit dieser durchgeknallten Plakataktion am Wilhelmsbader Bahnübergang. Sollte man aber empfehlenswerterweise seit Januar genauso wenig in der Öffentlichkeit anschneiden. 

Fabian: Wo hielten sich nachmittags eigentlich Alessa Maries Mutter und ihre beiden jüngeren Schwestern auf? Logischerweise nimmt man ja stark an, dass nach so einem Sensationsereignis, dessen farblich markierter Eintrag in den Geschichtsbüchern bis zum Weltuntergang feststeht, dem strahlend heimkehrenden Macher von seinen gerührten Lieben ein gemeinschaftlich herzlicher Empfang bereitet wird.

Karussellpferd Theluma: Richtig, Fabian...normal schon. Aus berechtigter Furcht, beim Anblick des siegertypmäßig abwechselnd beide Ellenbogenfäuste hebenden Vaters könnte unter den feindlichen Grazien akut wüster Zank um die für sie gleichermaßen käuflich erworbenen Adelsprädikate ausbrechen, mit unabsehbaren Folgen, befürwortete Jawlonskji vor Verlassen des Wolfganger Bahnhofs wohlweislich abermalige örtliche Trennung. 

Karussellpferd Leporello: Der Seigneur de Beil...

Karussellepferd Theluma: Sorry, kannst du das bitte lassen, Leporello!

Karussellpferd Leporello: Hast Recht, also, der Tukan weiß zu solcherart gelagerten Vorfällen weitaus mehr, bekam er doch 2015 das kaiserliche Urlaubdrama in Singapur federnah mit.

Karussellpferd Theluma: Weshalb Dennis Kevin unterwegs von Wolfgang seine holde Jessica telefonisch anwies, vorsorglich mit Charlotte Janine und Johanna Jennifer nach Kesselstadt zum Schloss vorauszufahren.  

Carla: Okay, ist ja alles schön und gut, aber Papa bringt das keinen müden Cent ein. Ohnehin aussichtslos. Oh Gooooooooott...aus den Bergwerken kommt er nie mehr raus!!!!!

Melissa: Nicht weinen, Süße, ich drück dich gasaaaaaaaaanz dolle!

Fabian: Hmmmm...auuuuußer...er kommt gar nicht erst rein.

Carla: Wie...wie...wie...meinst du das?

Fabian: Erinnert ihr euch an Herrn Kaisers helle Begeisterung für meine Zugaufnahmen? Gleich nachher lass ich mir zeitnah eine Privataudienz geben. Trotz Lockdown 2 wird er das niemals ablehnen. Eisenbahnfanehre. Ferner besuchen Charlotte Janine und meine Schwester denselben Ballettunterricht. Derzeit nur zu zweit, wisst ja, die aktuellen Coronaregeln für Freizeit- und Amateursport. Na jaaaaaaaaaaaa, und so gaaaaaaaaaaaanz nebenbei beim Fachsimpeln, okeeeeeeeeeeeee, kleine Gefälligkeit unter Experten für den Erhalt perfekter Lokfotos.

Carla: Das...das...das...das...würdest...du...du...du...wirklich...für...für...für...uns...tun??????

Fabian: Versprochen ist versprochen. Großes Indianerehrenwort!

Karussellpferd Theluma: Super Plan, Fabian! Mach das! Wilhelmsbads Karussellpferdchen sind megastolz auf dich!

Karussellpferd Leporello: Frag Herrn Kaiser dabei aber zwischendurch bloß nicht, auch nicht scherzhaft, ob Seine Durchlaucht eventuell verkappter Kommunist sei. 

Bitte bis hier übernehmen

Eigentlich vorsehbar, dass es so kommen würde, dozierte Geschichtsprofessor Fabian gelas-sen. Der Sturm auf die Terrassentür war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Auch Alessa Maries Tukan ist auf Sergeji Eisensteins Fake hereingefallen. Diese stürmenden Massen, wie sie Oktober suggeriert, hat es 1917 in Wirklichkeit nie gegeben. Genau genommen lässt sich die Aktion im Winterpalast als Staatsstreich einiger weniger definieren. Erst nachträglich ver-kaufte man sie dem Volk als heldenhafte Erstürmung durch das Proletariat. Somit geht der Punkt ganz klar an Herrn Kaiser, denn unter Historikern gilt Lenins Machtsicherung in Moskau als ebenbürtiges, vielleicht sogar wichtigeres Ereignis.

 

Gleich nachher lasse ich mir zeitnah eine Privataudienz bei ihm im Schloss geben. Das wird er niemals ab-lehnen. Fabian grinste selbstbewusst. Dafür ist Alessa Maries Vater viiieel zu sehr Eisenbahn-fan. Außerdem besuchen meine Schwester und Charlotte Emilie denselben Ballettunterricht, perfekt, zur Zeit sogar gemeinsam, nur zu zweit, ihr wisst ja, die aktuellen Coronaregeln für den Freizteit- und Amateursport. Na jaaaaaaaaaaa, und so ganz nebenbei beim Fachsimpeln... okeeeeeeeeeeeee...kleine Gefälligkeiten unter Experten.

Das...das...das...das...würdest...du...du...du...wirklich...für...für...für...uns...tun?, stotterte Carla zu Tränen gerührt. Auf jeden Fall! Versprochen ist versprochen! Ehrenwort!

Super Plan, Fabian!, lobte Theluma den stolz aussehenden Geschichtslehrer in spe. Mach das!

Frag Herrn Kaiser dabei aber zwischendurch bloß nicht, auch nicht scherzhaft, ermahnte ich abschließend eindringlich, ob Seine Durchlaucht eventuell überzeugter Kommunist sei.

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 8

Unsere Annahme trog. Die Konsistenz des Mains erzielte nicht den Wunscheffekt. Vielmehr traten kontraproduktive Wirkungen ein. Unaufhörlich huschten ängstliche Äuglein zum Ufer-weg. Trotz mühevollster Anläufe, brachte Carla keinen einzigen Ton hervor, zu tief, zu fest saß jener Kloß, welcher dem Mädchen befreiendes Sprechen verwehrte.

Endlich. Ungezählten Versuche später hauchte sie mit sämtlichen Nerven sichtlich am Ende: Du, Leporello, wollen wir vielleicht lieber mehr da drüben reden, wo das Wasser rauscht? Hier ist alles so entsetzlich still. Oh, mein Gott! Garantiert werden wir vom Hanauer Bataillon be-lauscht. Oh, mein Gott! Sie sind überall im Gebüsch versteckt. Und in Hanau werden wir dann alle verhaftet. Oh, mein Gott! So wie Papa!!!!! Liebevoll trat Ingeborg an Carla heran. Schutz suchend schmiegte diese sich an meine Kollegin. Das tat sichtlich gut.

Wenn es für dich ok ist, Carla, schlug Missi daraufhin vor, gehen wir direkt zur Staumauer, das Wasser strömt dort laut genug, sodass du furchtlos berichten kannst. Dankbares Lächeln. Als fielen tonnenschwere Lasten von ihr ab. Ohjaaaaaa, bitte, bitte!!!!! Ähm...übri-gens...Lukas und Marietta möchten gern ebenfalls mit euch sprechen...auch nicht hier. Geht das?

Selbstverständlich, Carla. Achtung, Karussellpferde! Lagebesprechung!

So beschlossen wir einstimmig: Theluma und ich würden mit Carla, Fabian und Melissa zum nahen Wasserfall laufen, Ingeborg und Spartacus mit Lukas sowie Marietta parallel dazu den nach Großkrotzenburg führenden Steg hinaufsteigen. Der Rest hingegen sollte währenddes-sen am Aufgang Schmiere stehen, um den Teens ein zusätzliches Sicherheitsgefühl zu ver-mitteln.

An der schäumenden Gischt angelangt, zeigte Theluma mit ihrem rechten Huf auf die tosen-den Fluten.

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