
G a l e r i e r a u m 5
~ Theoretischer Teil - a ~
Punkt und Kontrapunkt, Retrospektive und Prospektive
Im Laufe ihrer Beschäftigung mit bildlichen Beweis-funktionen gelangte Alessa Marie zur festen Über-zeugung, dass Fotos bestimmte Eigenschaften auf-weisen, welche über das bloße Erkennen eines Mo-tivs durch seine Betrachter weit hinausreichen. Unter dem Eindruck produktiver Verwendungsmöglichkei-ten (=Informationspotential) teilweise fünf bis sechs Jahre alter Reisefotos entstand deshalb zunächst die Theorie von den zwei in einem Foto enthaltenen Aspekten. Diese fotografische Annahme basiert auf in der Kulturgeschichte häufig anzutreffende Erklä-rungen für Phänomene, bei denen parallel zu nach außen hin offiziellen Lesarten noch weitere, innere, "inoffizielle" Aspekte existieren, deren Inhalte Au-ßenstehende meistens erst viel später erfahren. Und nicht selten ist gerade jene Parallelseite zum Ver-ständnis kultureller Eigenheiten die wichtigere Kom-ponente.
Island beispielsweise erscheint uns zunächst als ei-ne infolge des im Jahre 1000 gefassten Thingbe-schlusses offiziell vom Christentum geprägte Insel, was wohl auch kein Bewohner bestreiten würde. In Gesprächen verweisen Isländer hierbei aber gleich- zeitig auf spezifische Besonderheiten, welche sie oft als "Das neben dem Glauben" bezeichnen. Ge-meint sind noch aus alter vorchtistlicher Zeit stam-mende Vorstellungen, welche menschliche Denkwei-sen bis heute stark prägen, weshalb dort Christen- tum sowie die Existenz von Trollen oder Feen keinen Widerspruch darstellen. Diese Anderswelt bildet so-gar DEN zentralen Anteil zum Verständnis isländi-scher Mentalität. Ähnliches finden wir in Lateiname- rika, wenn etwa Boliviens Bergarbeiter tief unten im Stollen eine altindianischen Minengottheit verehren, über Tage jedoch offiziell christlich sind.
Solche uralten menschlichen Vorstellungen nebenei- nander existierender Welten, welche sich streng ge-nommen gegenseitig ausschließen, aber trotzdem Symbiosen eingegehen (wobei jedoch ein Teil als offizielle Version fungiert), bilden die Grundlage zu Alessa Maries oben genanntem Ansatz. Ihrer Hy-pothese zufolge besteht jedes einzelne Motiv, das irgendwo auf der Welt fotografiert wird, aus zwei Komponenten: Eine zunächst rein offizielle Aussa-ge zeigt uns alle Dinge, die wir auf dem Bild ob-jektiv erkennen (oder besser gesagt: zu erkennen glauben). Daneben gibt es aber auch jene parallele inoffizielle Seite, um es mit den Isländern zu sa-gen, neben dem Glauben, deren Wesen sich Be-trachtern nicht sofort erschließt, jedoch die eigent-liche Mentalität des Fotos wiederspiegelt.
Selbstverständlich stellt die Formulierung neben dem Glauben nur eine von vielen Möglichkeiten zur Be-schreibungdieses eigentümlichen Bildcharakters dar. Unsere Künstlerin verwendet dafür lieber den aus der Musik stammenden Begriff Kontrapunkt. Eben genau jener andere Fotoaspekt fungiert nämlich je-weils als optisch-visueller Gegenpunkt zum auf den ersten Blick Sichtbaren. Oder ein bisschen vorneh- mer mit Immanuel Kant gesprochen: Kontrapunkte bedeuten Das Ding an sich eines jeden Fotos, also das, was es inhaltlich tatsächlich abbildet.
Sich uns beim Anschauen von Bildern zunächst of-fenbarende Motive wären dementsprechend folge-richtig als jeweiliger fotografischer Punkt definiert, also das, was Fotos inhaltich für Betrachter erst ein-mal zu sein scheinen. Genau genommen stellen sol-che Punkte daher auch gar keine echten Motive im eigentlichen Sinn dar, sondern optische Trugschlüs-se im Sinne einer Fata Morgana.
Alessa Maries, wir Karussellpferde geben es zu, ge-wagte Theorie entwickelte sich im Kontext retrospek-tivisch erstellter Folgen. Unter den Terminus Retro-spektive fallen hierbei Werke, deren verwendetes Material zum Entstehungszeitpunkt explizit für keine spätere Veröffentlichung vorgesehen war, das heißt sämtliche in ihnen zu sehende Aufnahmen verdan-ken ihren kontrapunktischen Gehalt erst nachträgli- cher künstlerischer Überformung.
Folgende Aufnahme aus dem sechsten Teil von Auf einer großen Busrundreise... erhielt beispielsweise ihre Kontrapunktaussage durch Umkehrung geogra-fischer Fakten. Sie entstand im Herbst 2013 zusam-men mit jenem für Fotoserie 16 verwendeten Son-nenuntergang als Erinnerungsfoto während des er-wähnten Austauschprogramms in Tokio. Vom Aus-sichtsdeck des Mori Tower schauen wir über das Häusermeer in Richtung der sich dahinter weit auftu-enden Bay of Tokyo. Dazwischen liegen künstliche Aufschüttungen, darunter die bereits genannte Insel Odaiba. Soweit zum Punkt.
Alessa Maries Kontrapunkt formt jetzt dasselbe Mo-tiv im Fortsetzungsteil einer viel später, 2017, be-gonnenen Fotogeschichte zur Gegen-Stadt um, wo-bei Gegen keinesfalls als "Gegnerschaft" interpre-tiert werden darf. Gegen bedeutet Kreierung eines fotografischen Zweitentwurfs zum 2013 aufgenom-menen Motiv. Er wirkt unserer zunächst automatisch mit jenem Panorama verbundenen logischen Asso-ziation entgegen. Anstatt Aha, das ist eine Stadtan-sicht Tokios mit Blick auf die Bucht! staunen wir nun: Ach, das ist ja gar nicht Tokio, sondern New York! Aus hier wie ein großer Strom wirkenden Teilen der aufgeschütteten Bucht ist in unserem Kontext plötz-lich der Hudson River geworden, auf dem Jungun- ternehmerin Alessa Marie ihre Reisekunden per Aus-flugsschiff an New Yorks (=Tokios) Skyline vorbei in Richtung Atlantik (=Bay of Tokyo) schippern lässt.

Gleichzeitig ist das Foto aber auch noch Teil eines weiteren Kontrapunktes. Es zeigt nämlich lediglich Ausschnitte des von Alessa Marie damals fotogra-fierten Rundumblickes auf die Metropole. Hierzu ge-hören unter anderem zwei Ansichten, welche den alten Tokioter Fernsehturm in sich nach Süden hin verlagernder Perspektive zeigen (weshalb dessen Position vom Zentrum an den linken Rand wandert). Und schon betrachten wir Tokio aus dem Blick-winkel jener Touristen, welche bei Alessa Marie zwar überteuerte Helikopterflüge über New York hinzubuchen, zu Danny Browns größter Verwunde-rung jedoch nicht einmal spätestens im Hubschrau-ber bemerken, dass sie eigentlich Japans Haupt-stadt besuchen.


Selbstverständlich erschöpft sich das Potential retro-spektivischer Kontrapunkte nicht im Umformen geo-grafischer Tatsachen. Grundsätzlich ist es mit dieser Technik möglich, jedem Motiv entsprechende Ge-genentwürfe zuzuordnen.
Eine (wie wir Karussellpferde finden) ganz beson-ders originelles Beispiel hierfür liefert uns jener Tu-kan, den Alessa Marie 2014 während des Costa Rica-Familienurlaubes auf dem Transferweg von San José zur Playa de Matapalo in einer kleinen Finca fotografiert hatte. Als Punkt betrachtet ein Schnapp-schuss erster mittelamerikanischer Impressionen, ver-ändert dieser 2018 durch Kontrapunktierung sein Wesen völlig. Das galante Hanau, nicht Sachsen! macht unseren sympathischen Pfefferfresser aus dem Volierenkäfig kurzerhand zum Gegen-Tukan des ge-mütlich im Fliederbaum dösenden Herrn Tuki Tukan alias El Desperado, seines Punktzeichens wiederum Alessa Maries Lieblingsstofftier. Die Aufnahme vom Frühjahr 2016 ist eine von zahlreichen ähnlichen Bildern, welche zeigen, wie sich ihr treuer Freund an verschiedenen sonnigen Garten- und Terrassen-plätzen eine riesige Portion Dolce Vita genehmigt. Somit beweist der reale Tukan zugleich auch, dass El Desperado tatsächlich ein absolut echtes Tier ist, präsentiert doch dessen gefiederter Anblick exakt jenen lustig kostümierten exotischen Touristenbespa- ßer, den Hotelchef Pedro de la Páz y del Paso gna-denlos einsperren ließ.
Streng genommen liegt sogar ein Vierfachkontra-punkt vor. Von der Logik her repräsentiert Herr Tuki Tukan auf seinem heiß geliebten Fliederbaum natür-lich umgekehrt seinen gefiederten Artgenossen aus der Finca. Es handelt sich nach wie vor um densel-ben Tukan, nur sehen wir El Desperado eben jetzt ohne sein damaliges "echtes" Tukankostüm. Sie se-hen, liebe Seitenbesucher, ein als Tukan verkleideter Tukan...sowas finden Sie nur in Costa Rica! Da La-teinamerikas schlimmster Gangster aber punkttech-nisch ja weiterhin Alessa Maries Stofftier bleibt, er-halten wir folglich Kontrapunktnummer 4. Im verein-fachten Überblick zusammengefasst:
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Stofftier > El Desperado (Kontrapunkt 1) >> Tu-kan aus der Finca (Kontrapunkt 2)
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Tukan aus der Finca > El Desperado (Kontra-punkt 3) >> Stofftier (Kontrapunkt 4)


Alessa Maries Technik gilt selbstverständlich auch für Aufnahmen, denen ein genau entgegengesetzter Blickwinkel zugrundeliegt, von ihr Prospektive ge-nannt. Prospektivischen Bildern liegen bereits zu de-ren Entstehungszeitpunkt inhaltliche Skizzen zugrun-de. Hier liefert sozusagen erst künstlerische Inspira-tion den Anlass zum Fotografieren, was dann stets im Rahmen geplanter Touren geschieht. Salopp aus-gedrückt: Ohne Künstleridee kein Foto.
Besagte Kontrapunktprospektive entwickelte sich aus der retrospektivischen Methode heraus. Anfänglich gab es in Alessa Maries Schaffen nur diese Form. Von den Innovationsproblemlösungen einmal abge-sehen war sie als Intermezzo konzipiert. In der ak-tuellen Gegenwart spielende Fotogeschichten sollten mittels witziger, grotesk anmutender sowie bereits längere Zeit zurückliegender Handlungen aufgeloc-kert werden. So beginnt Auf einer großen Busrund-reise... bekanntlich mit dem Eintreffen des Reisebus-ses am Grand Canyon, woraufhin enthusiastische Vorfreude bald schon erstem Frust weicht. Um jetzt nicht die gesamte Erzählung einzig und allein beim Colorado River zu belassen, erfand unsere Künstle-rin dank ihres Fundus älterer Fotos mehrere heitere Einschübe. Der Retro-Kontrapunkt war geboren.
Nun ist es aber so, dass einem selbst mit dicksten Tomaten auf den Augen trotz lustiger Zwischen- spiele gleich zu Beginn ernsthafte Zweifel an der Glaubwürdigkeit jener uns hier vorgestellten Natur-kulisse kommen. Das soll der Grand Canyon sein? Im Leben nicht!
Auch Alessa Marie war sich dieser Problematik be-wusst. Allerdings lüften wir Karussellpferse jetzt kein weltbewegendes Geheimnis: Die Chancen, jemals im US-Bundesstaat Ariozona einen die berühmte Schlucht bis fast obenhin flutenden Fluss zu sehen, stehen denkbar ungünstig. Dennoch wollte unsere Künstlerin unbedingt an ihrer Hochwasseridee fest-hal-ten und übertrug deshalb das retrospektivische Kontrapunktkonzept 1:1 auf prospektivische fotogra-fierte Ansichten.
Schauen wir uns folgendes Beispiel aus Folge 1 an. Es entstand im Frühjahr 2016. Kontrapunktierung schafft hier ebenfalls neue geografische Realitäten. Welche Betrachter würden auf dem Motiv eines sich im Naherholungsgebiet von Mühlheim am Main be-findenden Steinbruchsees ernsthaft vermuten, unter anderem klägliche Relikte im überbordenden Son-nenlicht strahlender Steilklippen des Grand Canyon zu erspähen, welche vom Colorado River bislang glücklicherweise verschont blieben? Und eben nicht den Oberwaldsee!

Und wer verfiele gleichzeitig dem Gedanken, hin-ter der Strömung könnte sich in Wirklichkeit dessen infolge mehrer leichter Windbrisen gewellte Ober-fläche verbergen?


Alessa Maries Werke zeigt allerdings, dass außer Die Karussellpsychose keine einzige fotogeschicht-liche Kontrapunktserie als reine Retrospektive bezie-hungsweise Prospektive aufgebaut ist. Auf einer gro-ßen Busrundreise... startet wie wir wissen prospekti- visch, spielt entsprechend zum Entstehungszeitpunkt des hierfür aufgenommenen Bildmaterials im Früh-jahr 2016, um im zweiten Teil einen Zeitsprung ins Jahr 2014 zu vollziehen, wenn die junge Touristin ungefragt mit Erinnerungen an den übrigens authen-tischen Tagesauflug in Costa Ricas Parque Nacional Rincón de la Vieja als Vulkanologin auftrumpft.
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Das große Nachspiel zum Projektausflug (Aus den gedanklichen Memoiren der Gräfin von Hanau) folgt zunächst demselben Muster. Nach prospektivi- scher Eröffnung mit Bernhardette Constanze Ama-lias Blick auf den Philippsruher Schlosshof am Mor-gen des 16. Oktober 2019 nimmt eine zeitliche Zu-rückversetzung den Leser mit hinein in Frau Gräfins Gedanken an jenen Herbsturlaub 2014 ganz im Süden Bayerns sowie die sich 2016 anschließende Kirchenprüfung zu Gelnhausen.
Dann jedoch wird es in Folge 4 erst so richtig inte-ressant. Die Ansicht des links vom Haupteingang gelegenen Nebengebäudes ist als Aufhänger der Episode prospektivisch. Alessa Maries Motive der zum damaligen Aufnahmezeitpunkt im Spätsommer 2018 zum Leidwesen ihrer Mutter tatsächlich dauer-haft geschlossenen Wirtheimer Landsknechts Schen-ke sowie des Sie, liebe Seitenbesucher, jetzt garan-tiert an Die Karussellpsychose erinnernden Regio-nalbahnzuges in Hanau-Wilhelmsbad sind hinge-gen Retrospektiven. Gleiches gilt für unseren Wald-weg bei Lettgenbrunn im schönen Spessart, welcher dort von einem holprigen Miniparkplatz zur Ruine Beilstein führt. Wir wir haben es also mit einer Kom-bination beider Techniken zu tun.




Nebenbei bemerkt entstanden alle drei Retro-Bilder lustigerweise prospektivisch. Als Überschuss- oder Sekundärfotos, Begriffe, welche Galerieraum 5 wie oben schon erwähnt näher erläutert, fanden sie je-doch in den vorgesehen Geschichten keine richtige Verwendung.
Treue Mitverfolger unserer kleinen Webseite wissen ja als versierte Kenner, dass bereits Paula Gerhardt (oder Das große Nachspiel zum Projektausflug), bis zu ihrer kompletten Neuüberabeitung im Februar 2019 die ursprüngliche Kernerzählung von Alessa Maries heutiger vierter fotogeschichtlicher Kontra-punktserie, eine methodische Mischform darstellte. Drei im Herbsturlaub 2014 entstandenen Schnapp-schüssen von Bad Reichenhalls Hausberg wurden knapp zwei Jahre später sowohl eine Außen- als auch Innenansicht der Marienkirche, Gelnhausens weithin sichtbares Wahrzeichen, prospektivisch hin-zufotografiert.





Zum letzen Bild exisitert eine eine recht ulkige Anek-dote. Das an jenem heißen Augustvormittag mit vol-ler Wucht auf Gelnhausens Untermarkt scheinende Licht erschwerte Alessa Maries fotografische Orien-tierung auf dem Platz dermaßen, dass sie zunächst enttäuscht abbrechen wollte, so stark blendete alles ringsum. Was also tun? Enttäuscht wieder mit ihrer Mutter heimfahren? War doch das Motiv als fester Bestandteil längst eingeplant gewesen! Dann die Rettung! Unsere Künstlerin entdeckte direkt an der südlichen Häuserfront einen kleinen, höchstens 50 Zentimeter schmalen Schattenstreifen, zwängte sich förmlich in ihn hinein und machte so ihre Aufnah-men. Anders als es das Bild vermuten lässt, stand unsere Fotografin also nicht mitten im, sondern mit dem Rücken fest an die schattige Fassade gepresst "vor" dem Sonnenlicht. Dessen intensive Strahlen gehen wirklich direkt haarscharf am Kameraobjek-tiv vorbei und scheinen dadurch irgendwie auf der Gesamtkulisse zu "liegen". Eine wirklich kuriose, mehrere merkwürdige Blicke auf sich ziehende Kör-perhaltung.
Bestimmt reibt sich jetzt so mancher Seitenbesucher verwundert beide Augen und stellt Hanaus Karus-sellpferden die berechtigte Frage, welche Ausrich-tung Das große Nachspiel zum Projektausflug (Aus den gedanklichen Memoiren der Gräfin von Hanau) jetzt tatsächlich besitzt. Zumal die fotogeschichtliche Kontrapunktserie in Teil 5 ja wieder munter ins Re-tro-Muster wechselt.
Worin also besteht nun genau der rote methodische Leitfaden innerhalb des erzählerischen Gesamtge-schehens? Liegt der Handlung ingesamt eine retro-spektivische oder prospektivische Herangehenswei-se als gemeinsamer Nenner zugrunde? Oder arbei-tet Alessa Marie eher willkürlich?
Für Möglichkeit 1 spräche etwa das im ursprüngli- chen Collagenkonzept bis zum Februar 2019 vor-liegende 3:2 Zahlenverhältnis zugunsten der Retro-spektive. Im Rahmen seiner vollständigen Umgestal-tung konnte diese ihre bestehende Dominanz infol-ge jetzt noch zusätzlich eingebauter, ebenfalls aus dem Herbsturlaub 2014 stammender Motive sogar erheblich ausbauen. Prospektivische Motive nahmen dadurch prozentual gesehen mehr oder wenig Sta-tistenrollen ein. Alessa Maries im Oktober 2019 aufgenommene Prospektiven des Schlosshofes von Schloss Philippsruh sowie der tatsächlich auf fach-kundige Gärtner wartenden heimischen Thujahecke änderten an diesen Mehrheitsverhältnissen kaum et-was. Dennoch muss Das große Nachspiel zum Pro-jektausflug (Aus den gedanklichen Memoiren der Gräfin von Hanau) insgesamt voll und ganz als pro-spektivisch angesehen werden.
Entscheidend bei solchen Überlegungen ist die Fra-ge nach dem Kausalzusammenhang zwischen Foto und künstlerischer Inspiration: Welche Motive liefer-ten letztlich die zündende Idee zur jeweiligen foto-geschichtlichen Kontrapunktserie, trugen zu deren Gestalt maßgeblich bei? Im konkreten Fall waren das bereits in der Urspungscollage trotz Unterzahl jene zwei Fotos aus Gelnhausen. Kurz nach Fertig-stellung von Der Projektausflug kamen Alessa Marie nämlich Einfälle für eine baldige Fortsetzung des denkwürdigen Klassenausfluges.
Als Handlung schwebte ihr von Anfang an die The-matik mit dem vor ehrwürdiger Kulisse stattfinden- den Kirchenexamen vor. Zu diesem Zweck fuhr un-sere Künstlerin also 2016 mit klar umrissenen foto-grafischen Plänen in die nahegelegene Barbarossa-stadt, weshalb der Plot trotz zahlenmäßiger Überle-genheit retrospektischer Ferienbilder prospektivisch war. Deren Aufstockung im Februar 2019 sollte le-diglich das Präludium zum eigentliche Geschehens-ablauf im Kircheninneren detailreicher ausschmüc-ken.
Allein daraus ergibt sich aber noch nicht zwingend eine methodische Dominanz. Praktisch nämlich sind Alessa Maries Predigtstuhl-Aufnahmen allesamt Va-riablen. Ihre Vorbereitung auf die Glaubensprüfung hätte überall stattfinden können, zum Beispiel in den Dietesheimer Steinbrüchen.
Zugegeben: In gewisser Weise gilt das natürlich für die Marienkirche genauso. Dennoch. Selbst mit Ent-scheidungen für Darmstadts Stadtkirche oder Frank-furt am Mains Alte Nikolaikirche würde wiederum ein (konfessionsbedingt) evangelisches Gotteshaus Schauplatz sein. Und dieser stand ja keine Sekunde zur Debatte.
Völlig anders sah es beim Naherholungsgebiet von Mühlheim am Main aus.

Verständlicherweise besaß hier Bad Reichenhalls Predigtstuhl mit seinem sogleich an den Begriff Kir-chenkanzel erinnernden Namen bei der Auswahl unschlagbare Vorteile gegenüber potentiellen Mitbe-werbern. Es wäre künstlerisch mehr als töricht ge-wesen, sich jenen auf goldenem Tablett servierten Kontrapunkt einfach so mir nichts dir nichts entge-hen zu lassen. Womit wir Karussellpferde natürlich auch dessen Grundeigenschaft als eine im Gegen-satz zum fest vorgegebenen Ort "Kirche" letztlich austauschbare Variable X grundsätzlich nicht be-streiten.
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Achtung! Für all jene, denen angesichts von so viel Retrospektive und Prospektive inzwischen gehörig der Schädel brummt, haben wir Karussellpferde lei-der schlechte Nachrichten: Es wird noch komplizier-ter! Im Januar 2020 erfuhr Paula Gerhardt (oder Das große Nachspiel zum Projektausflug) durch den Einbau jener drei Monate zuvor entstandenen Auf-nahmen des Philippsruher Schlosshofes eine zweite grundlegende Bearbeitung und damit ihre heutige Gestalt.
Aufhänger ist seitdem nicht mehr Gelnhausens Ma-rienkirche, sondern der weiträumige Vorplatz, wie er sich Bernhardette Constanze Amalia im grellen Morgenlicht des 16. Oktober 2019 präsentiert. Ihre mit dem Umrunden des Brunnenrondells verbunde-nen Gedanken und Erinnerungen unterschiedlichster Art bilden den eigentlichen Handlungsrahmen, wo-bei Alessa Maries Glaubensprüfung zwar weiterhin einen zentralen Teilauschnitt, jedoch nicht mehr das aktive Erzählgeschehen bildet. Gelnhausen tritt in den Hintergrund, die Marienkirche wird zum Imper-fekt, teilt nunmehr mit dem Predigtstuhl das Schick-sal der Variablen, schließlich hätten Frau Gräfins morgentliche Memoiren gänzlich anders gelagert sein können.
In die neue federführende Rolle schlüpft dafür ein vom Datum her kaum zufällig gewählter Gang um den Schlossbrunnen. Sämtliche Kirchenaufnahmen verlieren dadurch ihren prospektivischen Charakter, werden retrospektivisch. Philippsruhs Hofareal avan-ciert zur vom Tag her historisch fest vorgegebenen Prospektive. Wenn man denn Bernhardette Constan-ze Amalia dramatisch über den 16. Oktober 1793 sinnieren lassen möchte. Konsequenterweise erfolg-te im Kontext dieser Neuausrichtung zeitgleich eine Überschriftänderung.
Damit erhalten wir zwei Definitionen:
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Fotogeschichtliche Kontrapunktserien sind im-mer dann Prospektiven, wenn künstlerisch be-wusst aufgenommene Fotos als Festvorgaben das zentrale Thema (Aufhänger) bilden, aus welchem sich im weiteren Verlauf variable re-trospektivische Ereignisse ergeben können.
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Fotogeschichtliche Kontrapunktserien sind im-mer dann Retrospektiven, wenn ursprünglich für keine künstlerische Verwendung entstan- dene ältere Aufnahmen als Festvorgaben das zentrale Thema (Aufhänger) bilden, aus wel-chem sich im weiteren Verlauf variable pro-sepktivische Ereignisse ergeben können.
Alessa Maries Innovationsproblemlösungen wären demnach eine solche Gesamtretropsektive. Unsere Künstlerin könnte noch fünfzig prospektivische Fort-setzungen erstellen, deren Aufhänger bliebe mit sei-nen Impressionen aus Osaka stets vergangenheits-bezogen.
Galerieraum 4