
Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 4
Das große Nachspiel zum Projektausflug
(Aus den gedanklichen Memoiren
der Gräfin von Hanau-Münzenberg)
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Als Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg am 16. Oktober 2019 ge-gen 09.30 Uhr ihr brillantbesetztes Smartphone dicht am Ohr tragend unwirsch durch die von zwei, sich untertänigst verbeugende Diener weit geöffnete Eingangstür von Schloss Philipps-ruh hinaus marschierte, wusste sie, dass jener Tag, kaum richtig begonnen, bereits jetzt unwi-derruflich gelaufen war.
Aus dem luxuriösen Château getreten entschied sich Ihre Durchlaucht zunächst für eine zwi-schen unterster Treppenstufe und Brunnenrondell gelegene Stehposition, um von dort aus je-ne zwanzig Meter zu überwachen, welche noch bis zum Haupttor fehlten. Gedanklich unver-sehens emporschießende grässliche Schreckgespenster ließen die Schlechtgelaunte jedoch schaudern. Zitternd den zarten Halsbereich vorsichtig abtastend, wollte sie überprüfen, ob das von einer überdimensionalen Turmfrisur à la Marie Antointette gezierte Haupt noch am richtigen Platz säße. So unendlich tief saß der Schock, dass es trotz erleichterten Aufatmens ratsamer erschien, im balkonüberdachten, mehr persönliche Sicherheit versprechenden Por-talbereich zu verweilen.
Doch wer weiß, vielleicht lag es auch nur am grell von Südosten scheinenden Licht, weswe-gen Hanau-Münzenbergs arg geblendete Herrscherin nach erfolgreich festgestellter anatomi- scher Vollständigkeit blinzelnd beide Hände gegen die Sonne hielt und spontan jene aktuelle, deutlich angenehmere Ausschaugelegenheiten Richtung leicht brunnenverdeckter Philippsru- her Allee präferierte; wobei Zweige des rechts vom gewählten Standort befindlichen Baumes als zusätzlich willkommene Lichtfänger fungierten.
Gleichwohl: Mulmige, geschwollene Halsschmerzen bereitende Gefühlsüberreste steckten an-scheinend weiterhin hartnäckig im blaublütigen Kehlkopfbereich fest. Wiederum musste Ma-dame de mauvaise humeur würgend schlucken, felsenfest davon überzeugt, böse Geister hät-ten soeben Philippsruhs Schlossplatz in die Place de la Concorde verhext und dessen hübsch plätschernde Fontäne in ...
Gottseidank, gerade jetzt blieb null Zeit, dieses entsetzliche Horrorszenario weiterzuspinnen.
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"KLAPPE HALTEN!!!!", unterbrach Bernardette Constanze Amalia recht unhöfisch ihren holden Gatten am anderen Ende, welcher seit rund dreißig Minute in einer wichtigen Angelegenheit sein Glück als erfolgreich überzeugende Endlosquasselstrippe probierte. "Husch, husch, mei-ne Lieben!", galt verbale Aufmerksamkeit vielmehr zwei von den immer und überall wachsa-men Sehorganen der Schlossherrin soeben erspähten Mitarbeitern des mobilen Dienstperso-nals. Ihr Auftrag: Drei bestellte britische Fahnen im Tuchladen abholen. Freilich schien man beim eigenmächtig selbst verordneten Zigarettenpäuschen des absoluten Regenten Ordre als eher undringlich einzustufen. Die Lakaien keines Blickes würdigend, beide Augen ausschließ-lich dem sprudelnden Wasser gewidmet, appellierte sie: "Bitte, ein bisschen mehr Hingabe! Schließlich macht ihr hier einen Job mit Gütesiegel! Wir sind eine Marke! Looos, Abfahrt, oder soll ich euch persönlich chauffieren? Zwanzig Minuten! Ich schau auf die Uhr!"
Erzählrunde 1

Nach ausgesprochener Ermahnung wandte sich fraulicher Unmut wieder dem Ehemann zu, welcher zwischenezeitlich charmant daherplaudernd versuchte, Mitgehörtes für dreiste Um-garnungsversuche zu nutzen. "SEI STILL, DU! WARTE NUR AB, KOMM DU MIR ERST HEIM! DAS NUDELHOLZ WARTET BEREITS!" Rote Taste. Anruf beendet.
Nachdem die Angestellten getrieben von größter Sorge um den Verlust renommierter, leider knauserig bezahlter Arbeitsplätze eilig davongebraust waren, beäugte Madame Noblesse hek-tisch das kostbare Mobiltelefon und widmete danach ihre bange Aufmerksamkeit aufs Neue jenem blutdürstigen Mordgerüst vis-à-vis, welches heimtückisch vorgab, lediglich ein harmlos plätschernder Brunnen zu sein.
Mon Dieu, in knapp vierundzwanzig Stunden, morgen um 09.00 Uhr, würde sie vorfahren, die schwarze Limousine mit Lord Ashley Winston Chesterton Grand Seigneur of Tintagel, frisch akkreditierter Botschafter des Vereinigten Königreiches hier am Main. Hatte doch Premiermi-nister Boris Johnson gleich nach Amtsantritt verlautbaren lassen, Großbritannien pflege künf-tig im Rahmen seiner EU austrittswilligen Ambitionen als weltweit erstes Land diplomatische Beziehungen mit der seit Oktober 2017 absolutistisch regierten, daher von der internationalen Staatengemeinschaft gemiedenen Grafschaft Hanau-Münzenberg, um "for the times after the Brexit" einen in Hessen dem Buckingham Palace äußert gewogenen Herrscher, den "Duke of Hanau-Munzenberg" proudly "beloved friend of Her Majesty" bezeichnen zu dürfen. So Teresa Mays Nachfolger vor Downing-Street Number 10.
But exactly this royal friend machte sich derzeit lieber als berühmter Elefant im Porzellanla-den Rang und Namen. Um beim Seigneur, bereits auf seinen legendären Gartenpartys in der gewöhnlich anmutenden Doppelhaushälfte jederzeit gern gesehener Gast, vor mittlerweile er-heblich veränderter Kulisse un peu plus pompeux aufzutrumpfen, gab nämlich Dennis Kevin Graf von Hanau-Münzenberg nach besagter Pressekonferenz für das umgehend konzipierte repräsentative chambre d'ambassadeur prächtiges Interieur, Originalstil Louis XVI., beim re-nommiertesten Pariser Manufakturbetrieb in Auftrag.
Weil jedoch Seine Durchlaucht bekanntermaßen Politik niemals Fortunas Launen anvertraut, war Bernardette Constanze Amalias Göttergatte samt dreier Diener im großen Möbeltranpor-ter zur persönlichen Abholung solch unerhört kostspieliger Ausstattung an die Seine gefah-ren. Ärgerlicherweise vergaß der Geschichtsunkundige dabei, dass Frankreich dem Absolutis- mus bereits anno 1789 Adieu! zurief, weshalb er auf der Rückreise zwei Bedienungen eines Autobahnrestaurants in guter alter Feudalmanier wie längst überfällige Abgaben schuldende Bäuerinnen behandelte, gepudert und gekleidet nach französischer Adelsmode um 1780. Eine zufällig tankende Polizeistreife eilte den studentischen Aushilfskellnerinnen zu Hilfe, nahm den Zopfperücke tragenden Spinner samt kostümierter Dienerschaft mit auf das nächste Re-vier. Dort Auf mochte sich Hanau-Münzenbergs Graf beredt erklären wie er wollte, nicht alle Wachen besaßen Informationen, dass Hessens Gebrüder Grimm Stadt politisch selbständiges Territorium ist. Und als sie dann endlich gehen durften, hätte des Herrschers gelb rot lackier-ter Lastwagen Kesselstadt inzwischen sicherlich erreicht gehabt.
Seine Gemahlin ahnte von alledem nichts. Aufgrund typischer Angewohnheit lag nämlich ihr brillantbesetztes Smartphone zwischen abends 20.00 Uhr und morgens 09.00 Uhr im obers-ten Kommodenschubfach. Ausgeschaltet. Folglich konnte Dennis Kevin sie um 20.05 Uhr von der Polizeistation nicht mehr erreichen (und vor lauter Peinlichkeit hätte er hundertprozentig keine andere Person angerufen). Daher erfuhr Zuckerhasi, ihn eigentlich mit dem Einrichten des Botschafterzimmers beschäftigt wähnend, schwitzenden Dekorateuren penibelste Anwei- sungen erteilend, erst Punkt Neun bei ihrer Morgentoilette, Hanau-Münzenbergs Vorzeigepaar werde sich gemäß Navigationssystem plus minus 10.00 Uhr MEZ wiedersehen. Seitdem den um keine süße Casanovaausrede verlegenen Angebeteten unablässig zur Schnecke machend sprang Frau Aristokratin alsdann vom samtbezogenen Frisier- und Ankleidestuhl davon. Drei-viertel bekleidet. Unfertiges Make up. Unfertige, physikalisch noch höchst wackelig sitzende Turmfrisur. Gefolgt von mit Kosmetikzubehör sowie Haarnadeln bewaffneten Hofdamen. Zer-mürbt von Visionen, Lord Ashley Winston Chesterton Grand Seigneur of Tintagel werde ange- sichts unfertiger Innenarbeiten folgendes Todesurteil fällen: "The Queen is not amused!"

Knapp zwanzig Minuten bis zur Ankunft des geliebten Mannes. Laut Navigationssystem. Per-fekt! Genug um in die Expertinnentrickkiste professioneller Ehefrauen zu greifen, die ihren Ge-mahl gehörig Mores lehren möchten. Bernardette Constanze Amalia wusste: Mit Durchhalte-vermögen bist du klar im Vorteil. Darin lag das Erfolgsgeheimnis. Die Erfahrene kannte sie, seine betörenden Schliche. Maschen, mit denen der just examinierte neunzehnjährige Kran-kenpfleger 1997 das so hochmütige Herz der drei Jahre jüngeren auszubildenden Fremdspra-chenkorrespondentin für Spanisch und Französisch auf der Rüdigheimer Dorfkirmes wider-standslos erobert hatte.
Ein Rosenkkavalier würde aus dem LKW springen (wie in Rüdigheim aus dem Sportwagen), den am letzten Autobahnrastplatz vor Hanau, Gräfenhausen vermutlich, käuflich erworbenen Notfallblumenstrauß für in Bredouille steckende Ehemänner hier an der Eingangstreppe reue-voll fünf Stufen emporhalten. Treuer Schoßhündchenblick, rhythmisch gepaart mit arrogan-tem Grinsen. Säuselnden Tones vollführte galante Verbeugung edler Kavaliere im 18. Jahr-hundert: "Madame. Excusez-moi. Pour vous!" Dem galt es vorzubeugen.
Generalprobe. Vorwurfsvolles, kindisches Trotzgesicht. Herablassender Schmollmund. Abwei-send verschränkte Arme kleiner bockiger Mädchen. Und als unfehlbare Geheimwaffe: beim Gegner extreme Konfusion stiftende, monoton klackende Schuhabsätze. Während vier Kam-merzofen emsig ihr Bestes gaben, vorhin im Ankleidezimmer begonnene Werke noch vor dem festlichen, Seiner Durchlaucht Ankunft ankündigenden Hupkonzert in D-Dur zu vollenden.
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"Da ist er ja!!!!", zischten ihre Lippen. "Jetzt kannst du was erleben!!!!" Unverzüglich wechselte selbst für Yvette, Veronique, Chantal und Sylvie kaum noch erträgliches Geklacke vom proben-den Allegro zum ernsten Presto. Jetzt die Schnut etwas länger ziehen. Mist! Zu früh gefreut! Es war nur ein adagio molto um die scharfe Kurve vor dem Schlosstor biegender Linienbus der Hanauer Straßenbahn GmbH. Warum musste sein Möbeltransporter ausgerechnet diesel-ben markanten Farben tragen? Warum? Warum?

Und warum um Gottes Willen haperte es seit geraumer Zeit andauernd beim Personal? Jene selbstherrlich bewilligte Raucherpause bewies einmal mehr: In Wahrheit regierte nicht Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg, sondern Herr Schlendrian das Schloss!
Und nein, hier lagen gewiss keine unmotivierten Einzelfälle vor. Die Sache ging beängstigend tiefer. "Zweifellos geplante, großangelegte Verschwörungen, deep state, aus dem Hintergrund gesteuert von fremden Geheimdiensten! Jawohl!", grübelte Bernhardette Constanze Amalia. Erst vergangenen Sonntag waren beim Kontrollieren tags zuvor im immer noch ihnen gehö-renden Doppelhaus durchgeführter Herbstarbeiten Beweisaufnahmen gegen den Gärtnerei-besitzer fällig. Dessen begnadete Koryphäen hatten vergessen, die Thujahecke zu schneiden. Unermüdlich spross diese nach oben. "Auf Schnittlinie!", lautete Ihrer Durchlaucht Auftrag!

Eilends drehte sie sich erschrocken nach links. Ein heftiges Rumpeln. Ein lauter Schlag gegen die untere Innenseitenhälfte der massiven Eichentür zum bald seiner Bestimmung übergebe-nen Botschafterzimmer ließ ihren Körper reflexartig zusammenfahren. Vermutlich unachtsa-me Diener beim Bewegen alten Mobiliars. Telefonisch autoritär angetrieben, um verplemperte Zeit aufzuholen. Puuuh, Glück gehabt! Hätten Veronique und Sylvie nicht beherzt manuell stüt-zend eingegriffen, garantiert wäre ihrer Gebieterin unverdrossen unvorteilhaft sitzender Fri-surentorso, auf den zum Eingang führenden gepflasterten Aufweg gepurzelt.
Sekunden lang eisige Totenstille. Dann zeriss Edvard Munchs Der Schrei Kesselstadts zum Bersten angespannte Luft. INCROIAAAAAAAAAAAABLE!!!!! C'EST UN AFFROOOONT CONTRE NOOOUUUS!!!!! Papierfetzen! Papierfetzen! Laubblätter! Seit 08.45 Uhr sollte eigentlich alles picobello sein, obendrein ohne Unterlass bis morgen früh 08.45 Uhr viertelstündlich nachge-reinigt werden. Leckere Fish and Chips sollte Lord Ashley Winston Chesterton Grand Seigneur of Tintagel vom Boden essen können! Yes! So jedoch würde der begleitende Hoffotograf ge-radewegs London melden, im bettelarmen Hanau-Münzenberg fehle obendrein Geld für drin-gend benötigte Putzleute.

Schon ertastete Madames resolute rechte Hand ihr kaum bezahlbares Kommunikationsgerät. "Jawohl!!!!! Ein Exempel statuieren!!!!!" Doch unerwartet über Philippsruhs Schlossplatz träl-lerndes Pfeifen zerstörte ausgedachte Absichten. "Bonjooooouuuuuur, Madame la mère! Seul-ment deux heures en physique aujourd'hui!" Dieser lockere Spruch einer unbeschwert schlen-dernden Siebzehnjährigen war es, welcher fünf im hinteren Parkbereich schuftenden Vollzeit-beschäftigten 450 Euro Monatsgehalt rettete.
Statt arbeitsrechtliche Konsequenzen einzuleiten unterbrach Fingerdruck die Verbindung, ehe Oberhofmeister Lucien hastig sein summendes Handy dem Hosenbund entkramen konnte. Anstelle dessen visualisierte sich jenes deprimierende Arbeitgeberinnenerlebnis vom 13. Ok-tober umso intensiver in Frau Gräfins Gehirnwindungen. Hypnosezuständen ähnelnd schickte das Unterbewusstsein schlagartig Bild um Bild aus vorgräflicher Epoche herauf. Zügig ent-stand ein Gesamtpuzzle jener Begebenheit, welche sich praktisch genau vier Jahre zuvor, am 10. September 2015, quasi um dieselbe Uhrzeit, circa 12.40, 13.00 Uhr, auf der gleichen Ter-rasse zugetragen hatte; deren Folgen Familie Kaisers Herbsturlaub prägten und 2017 in einen beispiellosen Kirchenskandal mündeten. Momentan jedenfalls hätte wohl mancher Hypnoti-seur Blauklötzchen gestaunt, wie viele Kaninchen seine Künste da bei der Gräfin von Hanau- Münzenberg eines nach dem anderen aus dem Zylinderhut ins Bewusstsein zauberten.
Dieselbe Terrasse. Dieselbe Plattenrampe. Dasselbe Smartphone, damals ohne Funkelacces- soirs. Dasselbe sich unbekümmert näherndee Pfeifen. Dasselbe frühere Heimkommen. Phy-sik. Dasselbe herrliche Herbstwetter. Zugegeben, Garten- sowie Terrassengestaltung sahen 2015 vielleicht etwas anders aus...na ja...dermaßen tiefgründige seelische Einblicke gestattete das Unterbewusstein halt auch nicht immer. Ihm genügten grobe Übereinstimmungen voll-kommen.
Die Teilzeitkraft hatte es 2015 eilig. Modebewusst angezogen. Elegante Handtasche über die Schulter tragend. Smartphone dicht am Ohr. Anruf von Frau Schmidt. Klassenlehrerin ihrer ältesten Tochter. Oh Gott! Alessa Marie! Elterngespräch! Im Rektoriat! Unverzüglich! In heller Aufregung durch die Terrassentür, vernahm sie unerwartet altbekanntes naives Gepfeife. So-eben vom Fahrrad gestiegen trabte das Mädchen verträumt auf den leicht schräg verlegten Steinquadrern vorwärts, alle Zeit der Welt gemächlich im Ausflugsrucksack spazieren tra-gend.
"Frau Kaiser, hören Sie, wenn Sie nicht binnen zehn Minuten anwesend sind, geht diesmal der Schulverweis endgültig raus!" Rote Taste. Anruf beendet.
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"Alessa Marie!", hörte sich die Gräfin von Hanau-Münzenberg als frühere Frau Kaiser laut aus-rufen, während das Hi, Mami! rufende Töchterchen ihr mit zwei für sie jeweils mit dem Noten- prädikat 6- ausgezeichneten unangekündigten Physik-Lernkontrollen zur Begrüßung herzlich zuwinkte. "Was musste ich eben gerade wieder von Frau Schmidt am Telefon über dich erfah-ren? Wieso seid ihr überhaupt schon aus Seligenstadt zurück?"
Alessa Marie schaute erstaunt, wunderte sich wirklich sehr über derart vorwurfsvolle Worte. Warum sollten unschuldig klimpernde Augen irgendwelches Schuldbewusstsein ausdrücken, seit jenem heißen Flirt, den die Dreizehnjährige auf der Rückfahrt mit einem Typen gehabt hatte? Handynummernaustausch inclusive. Längst gehört da die eigentliche Schulveranstal- tung jüngster, lückenlos ausgeblendeter Vergangenheit an.
Schnell musste die vom weiblichen Erziehungsberechtigten barsch Angesprochene allerdings realisieren, dass sie jetzt von aus dieser Zeit stammenden dunklen Schatten unbarmherzig auf der Terrassenrampe eingeholt wurde. "Fräuleinchen! Nur zur Information. In deiner Schu-le steht das Lehrerzimmer Kopf! Alle sind völlig außer sich über solch grob fahrlässiges Ver-halten!, Oh, Kind! Wie konntest du es als verantwortungsbewusste Klassensprecherin einem unverschämten Scharlatan und Betrüger gestatten, achtundzwanzig Schüler, zwei Lehrkräfte mit Zweitem Staatsexamen sowie eure neue Referendarin plump übers Ohr zu hauen?"
"Ey, sag mal, was willst du eigentlich von mir??????", verteidigte sich Trotzköpfchen gegen ge-rechtfertigte Vorwürfe. "Sind mit dem Zug zurückgefahren. Irgendwelche Tussis aus Aschaf-fenburg hatten Pascal, Benjamin und Jonathan die Reifen plattgestochen. Außerdem konnten wir doch im Traum nicht ahnen, dass Herr Leier-Kastenmann die Gelegenheit heute gemein ausnutzen würde, um endlich Fräulein Treue-Istweg rumzukriegen. ER hat die ganze Klasse total fies getäuscht und uns um sämtliche hoffnungsfrohen Erwartungen an diesen Projekt-ausflug betrogen. Hatten uns soooooooooo sehr auf das Thema >Klosterleben im Mittelalter< gefreut! Waren echt schon totaaaaaaaaaal gespannt!"
"Alessa Marie, sag, wie dumm können Mädchen mit fast 14 eigentlich noch sein? Verstehst du immer noch nicht: Ihr seid heute allesamt dem, den Zeitungen und Nachrichten nur Täuscher nennen, vollständig auf den Leim gegangen! Weltweit treibt dieser Unhold jetzt schon seit län-gerer Zeit sein schändliches Unwesen und ist einfach nicht zu fassen. Aber was rege ich mich auf...woher soll es auch kommen, wenn das junge Ding sich täglich mit Jungs trifft, anstatt ak-tuelles Weltgeschehen zu verfolgen. Schäm dich, Gymnasiastin! Hätte fürsorglichen Klassen-sprecherinnen nicht wenigstens etwas komisch vorkommen müssen?"
"Was denn, Mama?"
"Schau, Bienchen: Herr Ungelernt geht zur Kasse. Kaum weg, hüpft mir nichts dir nichts eine barocke Steinfigur daher, um euch diese unangekündigte Physik-Lernkontrolle aufzuschwät-zen. Verdääächtig, nicht wahr? Dass da etwas faul zu sein scheint, sagt einem gesunder Men-schenverstand! Ebenso wäre zutiefst Misstrauen angebracht gewesen, als euch zur Krönung des Ganzen eine goldene Kuppelfigur vollends der Lächerlichkeit preisgab. Astro-Blumenphy-sik, da lachen ja die Hühner! Hat man jemals dermaßen hirnrissigen Quatsch gehört? Hahaha! Raketenforscher und Prediger will er gewesen sein? Durch Zufall fanden Gärtner im hinters-ten Eck auf dem Beet ein Schutzschild, unter welchem Pinsel, zwei Eimer Goldfarbe, ein Ham-mer, zerbrochener Granit sowie ein über zwanzig Jahre altes, inzwischen überholtes Astrono-mielehrbuch lagen. Daneben drei offenbar beim Schrotthändler erworbene Scheinwerfer, vom Gebrauch ganz warm. Dazu drei Lautsprecheranlagen. Der Täuscher muss sich nach seinem ersten Auftritt rasch weiteres billiges Halbwissen angeeignet, selbst leuchtend angemalt und den Farbeffekt durch Anstrahlen intensiviert haben, um in luftiger Höhe naiven Achtklässlern simple Regietricks als Achtes Weltwunder zu verkaufen. Den Riesenknall verursachte allem Anschein nach Granit zerschlagender Hammerschag, über Lautsprecher massiv verstärkt."
"Mensch, Mami, woher weißt du denn das alles?"
"Hanaus stille Post. Und jetzt pass gut auf, Bienchen: Nur deshalb weil einige von euch ihre zu Fächern gefalteten Testblätter achtlos unter einem Baum liegenließen, wobei der Schrift nach eine besooooonders kluge Schlaumeierin unbedingt die Schuladresse draufschreiben musste, zusätzlich fein säuberlich bekritzelt mit frechen Wörtern wie Gefängis oder Diktatur, nur des-halb rief die Parkverwaltung im Sekretariat an. Man dachte, eure Theater AG hätte geprobt und die Requisiten vergessen. Nur so kam alles ins Rollen. UNFASSBAR! Warum hast du nicht mit Leonie den Kerl verscheucht? Sie ist deine Stellvertreterin! Immerhin seid ihr Kolleginnen! Zusammen seid ihr stark!"
"Aber Mama", versuchte Unschuldslamm Alessa Marie die Wucht der Schelte durch geschick- te rednerische Einwände, Wellenbrechern gleichend, ihrer Kraft zu berauben, "Leonie musste doch gleich nach unserer Ankunft unbedingt aufs Klo und lief schnellstens zum Toilettenhäus- chen am Mainufer. Als die angehopste Barockfigur uns anquatschte rief ich sie natürlich so-fort an: Du, Le, benötige brennend deinen Rat, voll verrückt, hier steht so ein sprechendes We-sen aus Stein, sieht aus wie diese Statuen hier überall, trägt ein ziemlich schweres Schild, du, es sagt, wir schreiben jetzt eine... Doch Leonie ließ mich ja leider nicht ausreden: Ähm, sorry, Lessa, dauert bei mir lange, entscheide du! Ich antwortete: Oki, mach ich! Und überlegte: Hm-mmmmmmm...ööööööööhhh...schwierige Frage...aaaaaaaaaallllllssssooooooooooo...irgendwie voll cool der Typ...logisch, darf weitererzählen. Außerdem, Mama, selbst wenn Herr Ungelernt wirklich der Täuscher gewesen sein sollte, waren das doch endlich mal echt voll geniale phy-sikalische Effekte. Kein Schwachsinn wie beim richtigen Herrn Ungelernt-Arbeiter als er beim Aufbau zweier Schaltkreise einen im gesamten Schulgebäude qualmenden Kurzschluss ver-ursachte, woraufhin sämtliche Raucher einzeln zum Rek..."
Soweit la Comtesse de Hanau-Muenzenbergue weiter memorierte, konterte Frau Kaiser: "Bist du mir still!" Versierte Rhetorikerin ahnten, dass durch den seingesetzten Vergleich potentielle taktische Nachteile drohten. Zur Vermeidung wählte sie ihrerseits geschickt das Stilmittel der Komparation: "Gravierendes Unterrichtsversagen ist für einen beamteten Studienrat schlimm genug. Schlimmer ist es jedoch für soziale Verantwortung tragende Klassensprecherinnen, statt einen öffentlich auftretende Trickbetrüger durch sofortiges Herunterreißen seiner Maske als Möchtergerntäuscher zu blamieren, die eigene Klasse zu spalten. Stell dir bloß vor: Kurz nach der Gartenverwaltung riefen prompt die Mütter von Pascal, Jonathan und Benjamin im Schulsekretariat an, wollten unverzüglich euren Rektor kontaktieren. Außer sich vor Empö-rung schilderten sie, wie alle drei ihre nigelnagelneuen platten Fahrrädern schiebend weinend nach Hause gekommen waren und ab heute nur noch mit alten Stofftieren kuscheln wollen. Astronomie? Modelleisenbahn? Fußball? Computerspiele? Uninteressant!!!!! Jonathan sitzt in seinem von innen verschanzten Zimmer, sagt, er habe Cola und Chips für sechs Monate, will sein ganzes Leben lang mit Schnuffel, Kuschel und Flocki von morgens bis abends ununter-brochen Die Biene Maja sehen. Alles andere sei ihm wurscht. Die Familie tut einem leid. Was in Gottes Namen hast du ihnen angetan? Mitten in der Puberträt befindliche Teenager, durch dich seelisch gebrochen, weisen extremste kindliche Verhaltensweisen auf. Und das ist an der ganzen Sache am schlimmsten. Hörst du mir überhaupt zu???? Deine Schuld!!!! Was für ein schrecklicher, nie wieder reparierbar Entwicklungsschaden. Zeitlebens unschuldig fürs Leben gestört! Oooooooooh, wie konntest du nur drei liebe, sympathische Jungs von nebenan der-maßen asozial aus eurer soliden Klassengemeinschaft ausschließen?"
"Mensch, Mama, versteh doch, Benjamin, Pascal und Jonathan sind Götzen!", wollte die Klas-senvorsteherin daraufhin mit Hilfe an den Haaren herbeigezogener theologischer Argumente die Hanauer Disputation zu ihren Gunsten drehen. "Wenn Herr Ungelernt-Arbeiter wirklich der Täuscher gewesen sein sollte, dann ließ sich unser Geschichtslehrer zuerst hinters Licht füh-ren. Hätte er nicht am Treffpunkt vor der Schule merken müssen, dass ein Schwindler anra-delt? Also sind wir nur dank grob vernachlässigter Aufsichtspflichten zu Witzfiguren gewor-den, über die ganz Hanau garantiert im nächsten Karneval lachen wird. Falls man überhaupt von Witzfigruen sprechen kann, wurde meine Klasse doch vielmehr dank der Täuscherpredigt zu eifrigen Bekämpfern jenes Götzendienstes, gegen den unsere Pfarrerin vorletzten Sonntag von der Kanzel wetterte. Glaub mir Mama, Gott höchstpersönlich stellte dem Gauner im Klos-tergarten ein Bein, indem er dessen Ziel, uns in Finsternis zu sperren, ins genaue Gegenteil verkehrte. Du weißt doch, was sie predigte: Ich lese Erster Korinther, Kapitel 10 Vers 9: Da-rum, meine Geliebten, flieht vor dem Götzendienst! Hab es mir gemerkt, weil nämlich..."
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"Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht, worauf mein Bienchen damit hinauswollte!", überleg- te Dennis Kevins feudale Autokratengattin (und am liebsten hätte sie zusätzlich bekräftigend verständnislos ihren Dez geschüttelt, wenn da nicht diese unfertig sitzende Turmfrisur gewe-sen wäre), nachdem Madames Erinnerungen jener Stelle erreichten, als es Frau Kaiser 2015 auf der sonnigen Terrasse ratsam erschien, pubertierendem Mädchengeschwätz über irgend-welche Götzen als informierte Mutter nüchterne, knallharte Fakten entgegenzuhalten.
"Aber Mäusekindchen! Was denn für Götzen? Was reeeeedest du da? Hast du deine Tage? Soll ich dir Tee und Wärmflasche bringen? Alle wissen doch, Herr Leier-Kastenmann. wandelt der-zeit wie Romeo auf Freiersfüßen, besitzt nur Augen für Fräulein Treue-Istweg. Du etwa nicht? Unsterblich verliebt ist er, sein Wahrnehmungsvermögen daher enorm eingechränkt. Männer ticken halt so, Bienchen! Wart's nur ab, bis bei dir später mal einer auf der Matte steht! Aus diesem Grund wäre es deine besondere Pflicht als hingebunbgsvolle Klassenvertreterin ge-wesen, dem blind Verliebten bereits kurz vor eurem Aufbrechen diskret anzudeuten, Herr Un-ge-lernt-Arbeiter. könne niemals Herr Ungelernt-Arbeiter. sein, weil Herr Ungelernt-Arbieter heute seltsamerweise heute keine seiner typischen Schirmmützen mit dem unübersehbaren Aufdruck NICARAGUA trug, für die er in deiner Schule berühmt ist. Erst nach eurer Rückkehr kam der Betrug auf blamable Weise ans Tageslicht. Herr Unglernt-Arbeiter, Herr Leier-Kas- tenmann. sowie Fräulein Treue-Istweg gingen ins Lehrerzimmer, wo sie dem richtigen Herrn Ungelernt-Arbeiter. begegneten. Jemand hatte ihm gestern eine Notiz mit Herrn Leier-Kasten- manns Handschrift ins Lehrerfach gelegt, nicht er sondern Referendarin Treue-Istweg käme als zweite Begleitsperson mit. Woraufhin Herr Ungelernt-Arbeiter morgens normal Unterricht hielt; ahnunglos, dass eine Fahrrad fahrende Imitation am Treffpunkt auftauchte. Und so inte-ressierte es natürlich den Neugierigen die ganzen Stunden über mit verschmitztem Grinsen, ob in Seligenstadt alles roger in Kambodscha war.
Jetzt kannst du dir sicher vorstellen, wie der Arglose grauenvoll aufschrie, als plötzlich neben dem geschätzten Kollegen ein Klon seiner selbst den Raum betrat. Hahahahaha, ääääääääää-äääätsch! Sie Depp sind auf mich hereingefallen! Ich bin der Täuscher!!!, zeigte der Böse spot-tend sein wahres Gesicht, drehte ihm sogar dazu frech eine lange Nase: Bääääähäääääää!!!!! Bääääähääääää!!!!! Fang mich doch, du Eierloch!!!!! Und jetzt der Gipfel. Er belästigte Fräulein Treue-Istweg: Naaaaaaaa, Süße, wie wär's denn mit uns zweien? Du machst`s doch eh mit je-dem! Beide zwei stürzten los, wollten ihn packen, doch jener Kerl sprang höhnend aus dem weit geöffneten Fenster und suchte das Weite.
Oh, Gott! Vor sämtlichen Kollegen bis auf die Knochen gedemütigt! Befand sich doch zeitgleich eine hochrangige Begehungskommission im Lehrerzimmer, sich sichtlich erfreut von eurem Direktor verabschiedend. Wir möchten Ihnen im Namen des Kultusministers nochmals aus-drücklich auf das Herzlichste unser Lob und unsere Anerkennung für ein unglaublich enga-giertes, motiviertes, kompetentes, jung-dynamisches Team aussprechen! Chapeau! Das ver-diente Qualitätszertifikat kommt per Post. Machen Sie weiter so! Alles nur wegen deiner ge-wissenlosen Nachlässigkeit!"
Bernardette Constanze Amalia sinnierte: "Ich frage mich allerdings ernsthaft, woher solch ein Verantwortungsbewusstsein 2015 auch hätte herkommen sollen. In der Fürstenloge tippt un-ser Prinzesschen ja noch immer während des Gottesdienstes auf dem Smartphone herum."
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"Ach Mama, hab ich dir eigentlich schon erzählt? Mein Traumtyp steht doch lääääängst auf der Matte. Wir sind uns heute beim Einstieg in den Zug begegnet. Er heißt übrigens Yannick. Sein Vater ist reicher Zahnarzt. Fahre nachher gleich zu unserem ersten Date am Goldschmiede-haus. Ooooh, mein Goooooooott, bin tooootaaaaaaaaaal aufgeregt. Was meinst du soll ich an-ziehen?", knüpfte Frau Kaisers verknallte Tochter gewitzt an deren wenig vorher verwendete Redensart an, um sie glühender Wangen über fest geschmiedete Zukunftspäne mit dem frech lächelnden Dentistensprößling aufzuklären: Sag bitte Papa heute Abend, er soll mir den Bau-sparvertrag auszahlen! Wir ziehen nämlich nächste Woche zusammen, brauchen logischer-weise Geld für die Miete und unser süßes Baby, das ich bekommen werde. Es wird ein Mäd-chen sein. Sophie. Und frag Oma Elisabeth, ob sie uns die Babykleidung bezahlt! Und wenn Yannick und ich in der Schule, sind übernimmt Oma Anna..."
"GARNICHTS ÜBERNIMMT OMA ANNA!!!!!", schrillte es über den mit Pflasterstein zementierten Anstieg zum künftigen Diplomatenempfangquartier. Die Zofen erzitterten. Eine dramatischer Umschwung im Disput zu Ungunsten der trommelndes Tam-Tam veranstaltenden Rebellin vollzog sich. Sprachliche Brachialgewalt stellvertretend für mühsame Rhetorikkniffe lautete Frau Kaisers kommunikative Strategie. Vernimmt sie aufmüpfiger Nachwuchs, erscheint wei-teres Aufbegehren zwecklos. Folglich musste auch die Aufmüpfige realisieren, zwar evange-liumsgemäß Jesu Liebesbotschaft verbreitet, im missionarischen Eifer dagegen nicht deren Folgen abgewägt zu haben.
"ALESSA MARIE!!!!! ES REICHT!!!!! DAS ZIEHT KONSEQUENZEN NACH SICH!!!!! ICH HABE OH-NEHIN VOR LÄNGERER ZEIT MIT PAPA SOWIE DER PFARRERIN GESPROCHEN. WENN WIR IM OKTOBER WIEDER NACH BAD REICHENHALL FAHREN, WIRST DU DORT STATT IN DER THERME HERUMZUFAULENZEN TÄGLICH MIT DER ERSTEN SEILBAHN ZUM PREDIGTSTUHL HOCHFAH-REN UND DORT BIS ZUR LETZTEN TALFAHRT EIFRIG EINE GLAUBENSPREDIGT AUSARBEITEN SOWIE DIESE NACH DEN FERIEN EINER KIRCHENSPRUCHKAMMER VORTRAGEN, UM DEINE GOTTESFÜRCHTIGKEIT ZU DEMONSTRIEREN. BESTEHST DU, IST DEIN PLATZ FORTAN OHNE SMARTPHONE IN DER ERSTEN REIHE, DIREKT UNTER DER KANZEL, DAMIT DU GOTTES WORT GLASKLAR VERNIMMST. FÄLLST DU BEANSTANDET DURCH, WIRST DU DIE KONFRIMATION ZWEIMAL HINTEREINANDER MACHEN. OHNE GESCHENKE. SOOOOOOOO GEHT'S JEDENFALLS NICHT WEITER, MADAMECHEN!!!!! HABE ICH MICH KLAR GENUG AUSGEDRÜCKT???? AUF DEIN ZIMMER!!!!! SOFORT!!!!!"
Tippte Alessa Marie anfangs auf traditionelle harmlose Pokerbluffs, denen abgezockte Drei-zehnjährige keine Bedeutung beimessen, durfte sie leidvoll erfahren, dass dummerweise kein einziges Wort von Mamas Ankündigung auch nur ansatzweise spaßig gemeint gewesen war. Dergestalt zogen weiterhin eindrucksvolle Kulissen an Bernardette Constanze Amalias Augen vorüber, jener zweiwöchige Herbstaufenthalt 2015 im Kurort Bad Reichenhall, welcher Kai-sers erstmalig in ihrer Urlaubsgeschichte getrennte Wege gehen ließ.
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Sprachtechnisch verklausuliert brachte Hanau-Münzenbergs Edelfrau unterschiedliche Pfade auf folgenden langen Nenner:
Während Herr und Frau Kaiser, Charlotte Janine und Johanna Jennifer gemeinsam vor St. Ze-no drohend ihre geballten Fäuste ausstreckten, wütende Blicke vereint nach oben gerichtet, weil ausgerechntet während dieser Tage der Kreuzgang, welcher ein Relief Kaiser Barbaros-sas birgt, nicht zugänglich war,
Erzählrunde 2

Herr Kaiser am alten Salinengebäude tobte, weil ausgerechnet zum Aufnahmezeitpunkt von rechts kommendes intensives Sonnenlicht für gelingende Bilder ausschließlich Kamerauslö-sungen aus schräger Position gestattete, er aber partout Direktansichten wollte, und schließ-lich wegen Beschimpfung des unschuldigen Himmelskörpers samt seiner Lieben einjähriges, bei Verstoß lebenslanges Platzverbot erhielt,

Furie Charlotte Janine während des gemeinsamen Spaziergangs übers Kurparkgelände mit zarten Füßchen trampelnd lautmalerisch klangvoll unablässig "Eyyyy, ich will nicht länger hier im blöden Bad Reichenhall sein!!!!! Ich will wieder nach Bad Driburg!!!!! Sofort Papa!!!!!! So-fort!!!!!" skandierte, im Brunnenhaus tatkräftig unterstützt von Furienschwester Johanna Jen-nifers Theaterinszenierung "Bääääääääääähhh!!!!! Igiiiiitt!!!!! Pfuiiiiiiiii!!! Wie ekelhaft schmeckt DAAAAAAAAS denn????? Da stirbt man ja!!!!!, der Familienvater schier unerträgliches Zicken-gezeter durch machtvolles "CHARLOTTE JANINE!!!!! JOHANNA JENNIFER!!!!! EIN FÜR ALLE MAL!!!!! DER HERR IM HAUS BIN IMMER NOCH ICH!!!!! WER BRINGT DAS MEISTE GELD HEIM? ICH!!!!! DRUM ENTSCHEIDE AUCH ICH, WO'S HINGEHT!!!!! KAPIERT?????" mundtot machen wollte, während sie es vorzog, angesichts schlagartig verstummter, eben noch flotte Walzer aufspielender Musiker die ihrigen diskret Richtung Hotel zu lotsen, ehe hier allen das-selbe Los drohte wie vorhin am historischen Salzbergwerk,




im Hotelzimmer angekommen er zunächst zwei klatschende Ohrfeigen kassierte, gefolgt von ihrer klaren Ansage "ICH HABE DIR DOCH GLEICH GESAGT, LASS UNS WEGEN DER KINDER NOCHMAL WIE IM JANUAR NACH BAD DRIBURG FAHREN! SEIN GRÄFLICHER PARK HAT IHNEN SO GUT GEFALLEN! UND WIE SIE HERZHAFT VOM QUELLWASSER GETRUNKEN HABEN! ABER NEIN, HERR DENNIS KEVIN MACHT IMMER NUR DAS, WOZU ER GERADE LUST HAT...WIE...WIE BEIM SEX...OHNE RÜCKSICHT!!!!!, an dieser Stelle kurz unterbrochen von prustendem Mäd-chengekicher, UND MERK DIR EINS - OOOOOOHHH, WAG ES JAAAAAAA NICHT, DEINEN MUND AUFZUMACHEN!!!!! - OHNE MEIN TEILZEITGEHALT KÖNNTEN WIR UNS BAD REICHENHALL JA GAR NICHT LEISTEN!!!!! WAS VERDIENST DU SCHON IN DER KLINIK????? WERD DU ERST MAL GRAF MIT SO NER FEINEN ANLAGE WIE DER VON OEYNHAUSEN-SIERSTORPFF, DANN REDEN WIR WEITER!!!!!", so klar, dass Kaisers beim ersten Wandklopfen, geprägt vom Salinenerleb- nis, zusammenzuckten in banger Erwartung, man werde sie gleich hinauskomplementieren,


Kaisers gescholtener Haupternährer zum krönenden Abschluss in Berchtesgadens Stadtzent- rum mit zwei blauen Veilchen Richtung Stiftskirche zurückblinzelnd "Pfüati Gott!" ächzte, wo er während seiner leidenschaftlichen Künstlerkritik "WELCHER IDIOT MUSSTE AUSGERECH-NET DORT SEIN DÄMLICHES AUTO ABSTELLEN!!!!! VERSCHANDELT MIR DIE GANZE SCHÖNE BILDANSICHT MIT SEINER BLÖDEN KARRE!!!!! ALS OB BERCHTESGADEN SONNTAGS NICHT GENUG PARKPLÄTZE HÄTTE!!!!! ÜBERALL, WIRKLICH ÜBERALL IST RINGSUM FREI, NEEEEEE-IIIIIIINNN, DAAAAA MUSS ER STEHEN!!!!! DAS WAR VOLLE ABSICHT, UM FOTOGRAFIERENDE TOURISTEN ZU ÄRGERN!!!!!!!!!!!! WART'S AB FREUNDCHEN, WENN ICH DICH SE..." zwei Löwen-pranken eines gestandenen bayerischen Mannsbildes von hinten auf den Schultern spürte,


und die Gräfin von Hanau-Münzenberg in einem akuten Schub emotionalster Anwandlung die Steinrampe mit exakt jenen Klagelauten "Oooooh, Herr, du strafst uns hier mit Recht! Hätte ich doch bloß auf meine weibliche Intuition gehört! Ach, schon am allerersten Tag hätte es mir im Wald von Bayerisch Gmain dämmern müssen, dass dieser Urlaub nur Pech und Unglück brin-gen wird! Die ganze Zeit über nur herrlicher Sonnenschein, kein Wölkchen trübte den Himmel, ach, wie wir uns voller Vorfreude ranhielten, um endlich Schnappschüsse des blauumrahm-ten Hohenstaufen zu posten, doch ach, was für ein Reinfall beim Erreichen der Lichtung!


Und das nach dem Streich dieses kleinen Wasserfalls. Absoluter Tiefschlag! Musste er unbe-dingt am Wegrand mit der starken Sonnenseite liegen? Oh, wie gerne hätten wir das vom lieb-lichen Berghang fließend Bächlein mit aufs Bild genommen, DAS wäre so richtig klasse geworden! Warum bloß nur gegen das Licht? Warum nicht mit dem Licht?



Jaaaaa, Herr, dafür führtest du uns als Irrlicht hunderte Kilometer von Hanau hierher, um uns im Berchtesgadener Land zu züchtigen, jaaaa zu züchtigen, weil uns Bad Driburg nicht gut ge-nug war!" tränenüberströmt anschluchzte wie 2015 Berchtesgadens Kirchplatz, nachdem des grantigen Lederhosenträgers scharfe Gegenkritk "HOAST GROAD MIT MI GEREDT, DU PREISS DU, DU DAMMISCHER!" erfolgt war, führte der Kreuzweg die älteste Tochter jeden Morgen un-willig vom Hotel zur Talstation und von dort noch missmutiger mit der ersten Bergfahrt zum Predigtstuhl hinauf, um sich durch fleißiges Arbeiten vor dem Prüfungsausschuss von ihrer besten Glaubensseite zeigen zu können.


Und immer wenn die angehende Predigerin während des Einübens auf Bad Reichenhalls Frei-luftkanzel spätnachmittags zur Feststellung gelangte, dass selbst die letzte Gondelfahrt auf-wärts noch gut mit kamerabehangenen Urlaubern gefüllt war, alle das eine Ziel vor Augen, mit der weltweit ältesten in Betrieb befindlichen Kabinenseilbahn zum gemütlichen Tagesaus- klang mutig den Berg zu bezwingen, nur um hoch über der alten Salzstadt furchtsam zitternd den letzten im Wind verhallenden, Umkehr sowie Buße anmahnenden Auslegungen knallhar- ter zeitgenössischer Raptexte lauschen zu dürfen, wertete Alessa Marie dies beim Zurück-kehren in Kaisers Unterkunft unentwegt als Wink Gottes, er werde am 21. 11. vor dem unbe-stechlichen Tribunal wohlwollend Partei für sie ergreifen.

So hatte es zumindestens stets den Anschein, wenn Papa oder Mama, je nachdem wer fuhr, die Juniorin morgens vor der Talstation ablud, samt Ehepartner sowie den übrigen Nachkom-minnen weiter ins spannende Ferienvergnügen düste, um die vom Urlaubsspaß Ausgeschlos- sene, grießgrämig aufs Auto wartend, nach erfolgreich absolviertem Familienprogramm bes-ter Laune spätnachmittags an selbiger Stelle wieder einzusammeln.
In Wahrheit dagegen keineswegs gewillt, am Prüfungstag ernsthaft persönlich zu erscheinen, schmiedete das nicht auf den Kopf gefallene Früchtchen hoch oben nebenbei listige Pläne, wie ungeliebte Pflicht eventuell trickreich umgangen werden könnte. Denn nicht anders ver-mochte eine allmählich Lunte riechende Mutter gewisse Verkettungen anfänglich unbeabsich- tigt anmutender, infolge zunmehmend eklatanter Häufung jedoch unter Garantie künstlich herbeigeführter Umstände zu deuten, welche Termin um Termin kurzfristig platzen ließen.
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"Huch!" Ihre Durchlaucht öffnete weit ihre gedankenversunkenen Augen. Als sei sie über ihre eigenen Worte erschrocken, welche am 10. August 2017 Gelnhausens im prallen Sonnenlicht liegenden Untermarkt aufhorchen ließen. Die Marienkriche unruhig im Fokus. Das humpelnde Mädel unerbittlich hinter ich her ziehend. "LOOOS, VORWÄRTS, UNGEZOGENE TOCHTER! ODER WILLST DU ZU SPÄT KOMMEN? AUF, AUF, EIN BISSCHEN BEEILUNG, WENN ICH BITTEN DARF! ALLE ANDEREN SIND BESTIMMT SCHON DA! MACH! DALLI DALLI! TEMPO!"
Erzählrunde 3

Nein, am drückend warmen Donnerstag war die schlaue Mama nicht mehr drauf reingefallen, hatte sich nicht von ausgebufften Taschenspielerinnenmethoden austricksen lassen, dank de-rer es der pfiffigen Schülerin seit November 2015 erfolgreich gelang, den Termin regelmäßig hinauszuzögern. Haaaaaaaaaaaa, doch heute hatte sie unten an der Gelnhausener Kaiserpfalz am Parkplatz fix aufgepasst. Ausgerechnet beim Aussteigen brach Töchterchens linker High Heel Absatz. Waaaaaas für ein Zufall!
"Autsch, Mamiiiiiiiiiii, hab mir den Fuß weh getan, oooooohh, wie das weeeeeehtut, muss unbe-dingt hier zum nächsten Arzt! Dringender Notfall!"
"Zeig mal deinen Schuh!"
"Geht nicht, Mami, mein Fuß tut so weh!"
"Schuh her! Sofort!!!!! Aha, ich wusste es! Und woher stammen die Klebstoffspuren? Das zieht Papa dir alles vom Taschengeld ab!"
Dementsprechend lachte die Triumphierende auch innerlich von ganzem Herzen, als sie über-listeten Nachwuchs bald nach Passieren des Untermarktes ins Kircheninnere schubste: "Hi-nein mit dir!" Von der Kanzel grüßte Oberkirchenrat...äh...irgendwie war ihr sein Name entfal- len...freundlich: "Sieh einer an! Die letzte Schlafmütze hätte sich dann also auch aus den Fe-dern bequemt. Alessa Marie, nehme ich stark an! Du kannst gleich vor kommen! Und Ihnen da in der Mitte sage ich es wiederholt zum dritten Mal: Keine Blitzlichtaufnahmen, Sie stören das Procedere! Blitzlicht aus!"

Betreten vor dem etwas erhöht stehenden Herrn Prüfungsvorsitzenden angelangt, überreich-te Alessa Marie diesem ihre mühevoll ausgearbeitete Predigt, eisige Mienen elf weiterer Gre-miumsmitglieder, Pastorinnen und Pastoren, im Nacken spürend, zu denen ferner ein zwölf-tes, ein geistig gänzlich abwesender junger Vikar gehörte. Keiner wagte zu atmen, als besag-ter Kirchenbeamte ihr Skript auf etwaige Regelverstöße hin durchforstete, welche vorzeitige Abfahrt bedeuteten.
"Nun, ehrlich gesagt erwarten Kirchengerichte anderes als in Sprechgesangsform verfasste Predigten zu Rapstücken. Denn sei gewiß: Straßenlieder der Gosse werden wir im Hause Got-tes unter keinen Umständen dulden." Offenkundig stieß ihm bereits der gewählte Überschrif-tentitel Rapper Morlockk Dilemma und Hiob - Die Messiasse sind da! gewaltig auf. Im Nu je-doch nahmen missmutig Nase rümpfende, Heimreise ankündigende Gesichtszüge wider Er-warten deutlich zustimmendere Konturen an.
Der vorsitzende Richter zitierte unmerklich aus Hiobs Apokalypse jetzt!. "Hmmmmm...
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Die Zeit ist reif.
Ihr alle werdet Zeuge sein.
Es kommt das Ende aller Heuchelei.
Hörst du die Engel lauter "Freude" schreien,
wenn all die Sterne aus den Wolken fallen?
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Das ist gut!", erhob er angetan, richtig euphorisch seine Stimme. "Hmmmmmm...
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Das ist der Zorn des Lebens,
ihr habt zu Götzen gebetet.
Hast du den Hals gewaschen?
Heute trittst du dem Schöpfer entgegen.
Das ist sogar sehr gut! Klare, präzise, treffende Aussagen! Ich sehe also: Die junge Dame ging nach ihrem entsetzlichen Fehltritt ernsthaft in sich und tat viel Buße. Deshalb wollen wir bei solch einem theologisch interessanten Opus Großzügigkeit walten lassen. Doch denk blooooß nicht, dass du damit dein Examen eventuell leichter schaffst, unser Merkblatt hierzu hast du ja sicher vorher gut studiert. Dasselbe hoffe ich übrigens auch für die anderen Kandidaten. Denkt daran: Keine improvisierten Witze! Keine improvisierten Scherze! Keine improvisierten Andeutungen! Keine Improvisationen, aus denen der Papst in Rom Nutzen für seine Herr-schaft ziehen könnte! Keine Improvisationen, die nur ansatzweise Missverständnisse erzeu-gen!", erklärte der Leiter eindringlich jeden Jugendlichen einzeln durch seine große schwarze Gelehrtenbrille musternd.
"Vor allem", wandte sich der Belehrende neuerlich Alessa Marie zu, "gelten für dich spezielle Hinweise, deine ausgewählten Zeilen moderat zu rappen, damit ältere Menschen vom für sie ungewohnten Krach keinen Schock bekommen. Piano, bitte! Piano!"
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"Und vor allem, Alessa Marie, hör", flehte die auf Frau Kaisers inständiges Bitten mitgekom-mene Pfarrerin des Mädchens von der zweiten linken Kirchenbank (erstere hatte man dem gestrengen Konsistorium frei gehalten) händeringend ergänzend herüber, "sprich ja nicht ge-gen Calvins Reformierte mir!"
Postwendend nahm der Kanzelredner diesen gutgemeinten Hinweis dankbar auf, um auf Vor-gänge hinzuweisen, die in ihrer erschütternden Tragweite den Prozess erheblich tangierten: "Kinder des Herrn! Uns erreichte die unfassbare Kunde, dass der von Interpol zur Fahndung ausgeschriebene Täuscher - ooooooooohhh, dieser Grässliche! - bereits sogar in unserer Lan-deskirche Sabotage betreibt. Vorgestern erst erschien er in Nordhessen mehreren, vor dem Gemeindehaus ihre Vikarin erwartetende Konfirmanden. Förmlich aus dem Nichts trat plötz-lich eine historisch gekleidete Gestalt an die Arglosen heran, gab sich als Paul Gerhardt aus, behauptete, Gott hätte ihn gerade vom Himmel gesandt, um mit ihnen Geh aus mein Herz an-zustimmen. Allerdings waren Pauls erbauende Liedstrophen, für Feiertagschristen kaum er-kennbar, zuvor von dem unverfrorenen Lügenbold durch ausgeklügelte antireformierte Aus-sagen verfälscht worden. Nur ein schäbiges Beispiel:
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Narzissus hüpft mit Tulipan voran,
denn Prädestination geht uns nichts an,
nur lutherische Seide.
Blasphemie! Doch gelobt sei der Herr! Fünfzehn Heranwachsende standen dank vorbildlicher Leistung ihrer Vikarin fest verwurzelt im Glauben, entlarvten flink die ungeheuerlichen Stel-len, verweigerten das Singen: Hauen Sie ab! Nehmen Sie Ihre billigen Gesangsblätter, und zie-hen Sie Leine! Im Text heißt es nämlich:
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Narzissus und die Tulipan,
die ziehen sich viel schöner an,
als Salomonis Seide.
Wir sind schließlich nicht blöd!!!!! Sie sind gar nicht Paul Gerhardt, sondern bestimmt dieser Täuscher!!!!!, boten sie furchtlos Paroli. Sich fassungslos am Kopf kratzend floh er im selben Augenblick mit den wutschäumenden Worten: Grrrrrrr, und ich Idiot dachte, auf dem Land sei es ein leichtes Täuschspiel!!!!! Ein wahrer Meister der Verkleidung, Imitation und Verstellung. Niemand kennt seine wahre Identität. Wir in der Kirchenaufsichtsbehörde mutmaßen: Es ist DER, dem Martin, unser wackerer Recke, auf Eisenachs Wartburg mutig das Tintenfass entge-genschleuderte."
"Oder es ist ein vom Papst bezahlter Agent, um pünktlich zum fünfhundertjährigen Reformati- onsjubiläum unseren Protestantismus doch noch spalten zu können!!!!!", schimpfte ein älteres Prüfungsmitglied und pochte wütend mit seinem Stock mehrmals auf den Steinboden, sodass es im Kirchenschiff laut davon wiederhallte.
"WIDER DAS PAPSTTUM ZU ROM!!!!!", schrie hinten ein Aufgebrachter.
"VOM TEUFEL GESTIFTET!!!!!", pflichtete ihm ein ebenso heftig Aufgesprunger bei.
Akut hochkochende konfessionelle Emotionen mit huldvoll hoch und runter gehenden, von ih-rer Kernbotschaft doucement doucement bedeutenden, weit ausgestreckten Armbewegungen mühsam bändigend, setzte der Präses daraufhin seine Kanzelansprache fort. "Wie dem auch sei. Seit dem Vorfall von vor zwei Tagen liegen überall die Nerven blank. Ein kleiner Funke ge-nügt, und das Pulverfass explodiert. Deshalb sind auch laut Reglement frei improvisierte Wit-ze, Scherze oder Andeutungen strikt untersagt, damit keiner unbeabsichtigt der römischen Herrschaft zuspielt beziehungsweise - was wesentlich schlimmer wäre, und der Himmel ver-hüten möge! - den hochverehrten Maître Cauvin und seine Institutio Christianae Religionis in unvorteilhaftem Licht erscheinen lässt. Daher muss nachher jeder vor Predigtbeginn feierlich unterschreiben, nicht ein einziges Wort gegen das Reformierte Bekenntnis sprechen - äh...in deinem Fall, Alessa Marie, rappen - zu wollen, um gläubige Schäflein nicht zu verwirren; und um unsere durch antireformierte Umtriebe des Täuschers attackierte, stets Konsens orien-tierte Kirchenordnung öffentlich mit unerschütterlicher Vehemenz zu verteidigen."
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Nach kurzem Räuspern fuhr der Oberkirchenrat fort: "Ich rufe jetzt die Apostaten Julian, Jo-nas, Lisa, Thimo, Vanessa, Hannah, Paula, Ann-Jathrin, Sebastian und Nadine zur Glaubens-prüfung. Alle positionieren sich in einer Reihe nebeneinander vor dem Lettner. Jonas ganz links, dann Vanessa, Hannah - ja, das Verkündigungspult stellt einfach irgendwo hin beiseite - Julian, Paula, Ann-Kathrin, Alessa Marie, Sebastian - nein, die Orgel bleibt stehen! - Nadine, Lisa. Thimo bildet den Abschluss. Für bessere Konzentration Augen geradewegs zum Chor."
Gesenkten Hauptes, beschämt wegen ihrer eigenen Naivität, traten daraufhin zehn junge Men-schen zwischen 14 und 16 Jahren, einfältige Gemüter, die Satan spielend zum Narren gehal- ten hatte, zaghaft vor. An der Chorschranke bildeten sie unter den wachsamen Augen der Jury wie befohlen eine Linie, aufgeregt jener Dinge harrend, welche nun kommen sollten.
Im Verfahren benotet die Kirchenzucht zunächst euer allgemeines Glaubenswissen, Grundla-gen, welche im Konfirmationsunterricht vermittelt wurden. Folglich sind meine Kanzelfragen keineswegs neu, zeigen jedoch Anwesenden mehr als deutlich, wer einst selbstsüchtig nur für teure Geschenke lernte. Also, Sebastian", dem Armen fingen die Kniee an zu schlottern, "sage uns, was geschah am 10. Dezember 1520?"
"Da...da...da...da...da..."
"Ja, was DA??? Wir sind hier nicht im Dadaismus!", forderte ein Pastor zu mehr sprachlicher Präzision auf.
"Hä? Wo?", rief Paula irritiert.
"Da...da...da...da...hat unser lieber Martin Luther vor dem Wittenberger Elstertor standhaft die Bulle des Antichristen verbrannt!"
"FORT MIT DEM PAPSTTUM!!!!!"
"Super, Sebastian!", honorierte der abermalig um geistliche Glättung aufgewühlter Wogen be-mühte Gottesmann die Antwort. "Lisa, nun zu dir. Nenne bitte den ersten Grundpfeiler Martins herrlicher reformatorischen Lehre!"
"Allein durch die Gnade."
"Das ist ja prima! Und der zweite Grundsatz, Ann-Kathrin?"
"Allein durch den Glauben, Herr Oberkirchenrat!"
"Und auf Latein?"
"Sola fide, Herr Oberkirchenrat, und der dritte lautet sola scriptura, Herr Oberkirchenrat!"
"Summa cum laude, Ann-Kathrin!"
"Deo gratias, Magister Theologiae!"
"Ein feste Burg ist unser Gott. Nadine ergänzt..."
"Ein gute Wehr und Waffen."
"Thimo, jetzt du...
"Er hilft uns frei aus aller Not."
"Julian...?"
"Die uns jetzt hat betroffen."
"Mein lieber Herr Gesangsverein, das läuft ja bei euch wie am Schnürchen! Martin und Käthe sind im Himmel jetzt sehr stolz auf euch! Alessa Marie, sag uns rasch, wie das glaubensstär- kende Lied weitergeht!"
Alsgleich tanzte die freche Kröte wie gewohnt aus der Reihe, hüpfte, statt auf ihrem Stehplatz zu verweilen, mir nichts dir nichts los, positionierte sich mit dem Rücken zum Kirchenvolk in der Mitte vor dem Lettneraltar, sei es, dass das Mäderl dadurch sein Wissen im Angesicht des Weltgerichts besonders gottesfürchtig referieren wollte, erfahrungsgemäß die unwahrschein-lichere Variante, sei es, dass es auf diese Weise dem ganzen Ablauf soeben einfach nur die eiskalte Schulter zeigte, was aus Erfahrung eher anzunehmen war.
"War das denn wirklich schon alles?
Ist dieses Leben nur Fügung und alle Würfel gefallen?
War das denn wirklich schon alles?
Ist diese Welt wie ein Käfig und nur die Vögel sind frei?
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Und jede Nacht spielen die Filme von neuem
Am morgen reißen dich Schläge aus deinen wildesten Träumen
Die Kirche läutet den Sündern, du hast das Frühstück gedeckt:
Ein Kaffee, vier Zigaretten und dazu süßes Gebäck
Du siehst zum Himmel und denkst die Erde zieht ihre Bahn
Gestern die Grippe in Spanien und morgen Krieg im Iran
In China essen sie Hunde, im Handy summt der Alarm
Die Sonne lacht, doch im Schacht steht schon die Untergrundbahn.

Beide Hände dichtmöglichst ans Gesicht gepresst, um das vor Scham glühend rot angelaufe- ne Gesicht dahinter irgendwie zu verbergen, musste sie tatenlos mit anhören, wie die vor Mo-tivation strotzende Hiob-Verehrerin frohgemut Part 1 weiterrappte.
"All diese müden Visagen irren umher
Du könntest jeden hier töten und keiner würde sich wehren
Der eine starrt in die Leere, der andere redet im Schlaf
Im Bahnhof gibt es Gerangel vor dem Kaffee-Automa..."
An dieser Textstelle endlich erbarmte sich eine Pastorin aus dem illustren Zwölferkreis mit ih-rer gedemütigten Geschlechtsgenossin, vom Gesichtsausdruck her zu urteilen gleichfalls leid-erfahrene Mutter, indem sie dezent der Rapperin rechte Schulter antippte.
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"AAAAAAHHH!" Zehn von Kesselstadts Friedenskirche herüberschwingende Uhrenschläge ris-sen Bernhardette Constanze Amalia ruckartig jäh aus tiefsten Gedanken heraus. Schreck lass nach! Beim Rückblick an jene Ereignisse in Gelnhausen musste des Landesherrn Ehefrau tat-sächlich irgendwann stehend eingenickt sein. Und die Folgen dieses Sekundenschlafes hätten fatal enden können. Doch aufmerksame Hofmamsells vereitelten die Tragödie. Geistesgegen-wärtig herbeigesprungen stemmten sie, Wilhelm Hauffs standhaftem Zinnsoldaten gleichend, mutig ausgestreckte Arme gegen das ansonsten vornüber krachende Turmbauwerk.
"Où...où...où..où...suis-je?", stotterte la dame du château augenreibend. "Les...les...les bannières sont là?"
"Non, malheureusement, Constance!"
Daraufin hielt es sie nicht länger aus unter dem balkonüberdachten, schattenspendenden Ein-gangsfoyer. Auf Fingerschnipp folgten die Zinnsoldatinnen gehorsam zum Schlosstor, wo ihre gnädige Herrin das jeden Moment mit dem Union Jack eintreffende mobile Dienstpersonal in Empfang nehmen sowie Oliver, miserabel bezahlter Hof-Flaggenhisser, beim ordnungsgemä- ßen Ausüben obliegender Pflichten begutachten wollte. Hanau-Münzenbergs Fahnen beweg- ten sich schon graziös im Wind. Nur noch die Ihrer britischen Majestät, dann wäre alles per-fekt für diplomatisches Schachern.
Auf erneuten Fingerschnipp stoppte das Gefolge jedoch bereits auf halber Wegstrecke. Ange-widert blickte Frau Gräfin auf jenen Gebäudekomplex, in welchem die Kommandantur unter-gebracht war. Zechlärmen durchdrang mühelos geschlossene Fensterscheiben. Kommandant Heiner Jawlonskji und das berüchtigte Tabakkollegium, vom Grafen entgegen ihres ausdrück-lichen Willens in Anlehnung an "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. von Preußen wiederbe-lebt. Täglich beißender Pfeifenqualm. Täglich randgefüllte Bierhumpen. Täglich eklige Zoten. Allen munter voran: ER! Absolut unsympathisch. Ex-Söldner. Unehrenhafter Rausschmiss aus Frankreichs Fremdenlegion. Danach auf eigene Rechnung tätig. Skrupellos. Eiskalt. Zu allem entschlossen. Unberechenbar. Schwerstes Offenbacher Stadtgrenzentrauma. Schneeweißes Haar. Schneeweißer Bart. Durch begangene Schurkentaten um Jahre gealtert. Dabei keine 40. Ach, jaaaaaa, stimmt, aus Therapiegründen Lokführer, stand im vor Rechtschreibfehlern wim-melnden Bewerbungsgesuch.
"UNGEHOBELTER HAUFEN!!!!! RÜPELBANDE!!!!!" Dadurch hoffte sie, es werde wenigstens für wenige Augenblicke Ruhe einkehren. Doch Haudegen Heiner Jawlonskji, Günstling des Grafen, schien drinnen nichts zu verstehen. Vielmer entlockte er mit einem derben Witz, wirklich obs-zön und selbst im Karneval zensurwürdig, sodass fünf anständige Frauenzimmer vor Scham erröteten, seinen vom Starkbier benebelten Offizieren gellendes Lachen.
Erzählrunde 4

Heiner Jawlonskji. Bisweilen genannt Der Hitzkopf oder Heiner der Hitzkopf. Am 12. Septem-ber 2018 hatte sich Bernhardette Constanze Amalia von Spuren seiner Rücksichtslosigkeit persönlich überzeugen können. Gemeinsam mit Dennis Kevin in den Spessart unterwegs, wo sich das blaublütige Paar die Ruine Beilstein völkerrechtsnonkonform unter Hanau-Münzen-bergs Nagel zu reißen gedachte, musste ihr dunkler, baldige gräfliche Durchfahrt hupend an-kündigender Rolls-Royce Phantom VIII, EWB Version, hinterm Ortseingangsschild von Bieber-gemünd in Höhe einer Gaststätte bremsen, weil dort ein Gestikulierender mitten auf dem As-phalt stand, unablässig beide Zeigefinger flehentlich auf das burgähnliche Gebäude richtend. Zunächst befahl le Comte, ausweichend weiterzufahren. Am Kleidungstil Louis Seize samt Pe-rücke erkannte er jedoch alsbald keinen Geringeren als den Amtmann von Bieber.
"Ca c'est Holger! Stop!" Nachdem Chauffeurin Sabrina teures Gefährt auf anliegenden Parkflä- chen professionell zum Stehen gebracht hatte, stapften sie empört schnurstracks dem Beam-ten entgegen. Sogleich wollte der Souverän wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenver-kehr dienstlich abmahnen. Amtmann Holger kam ihm rhetorisch zuvor, sprach untertänig ver-beugt bedacht folgende Worte: "Oh, allergnädigster Herr! Meine geringste Absicht besteht da-rin, Euch hier im Ortsteil Wirtheim unnötig aufzuhalten. Mögt Ihr vielmehr mit Gottes Hilfe Eu-er angestrebtes Ziel rasch erreichen. Doch sah ich nach zwanzig unbeantworteten Schreiben leider keine andere Wahl, um Euer Gnadens Gehör zu finden. Oh, trefflichster Herr, die Situa-tion drängt! Wenn Ihr im Biebertal drohende Aufstände vermeiden wollt, welche, was Gott ver-hüten möge, sogar das Amt Lohrhaupten erfassen könnten, so hört mich unbedingt an!"
Auf huldvolle Handbwegungen hin führte Holger sie näher ans Gebäude heran. Sämtliche Rol-läden des im Parterre gelegenen Gastronomiebereichs heruntergelassen. Überhaupt wirkte das Anwesen ziemlich trist, heruntergekommen, wie dauerhaft geschlossen.
"Apropos. Auf eine gar ehrliche réponse, Kerl! Woher hat Er eigentlich l'information, dass Wir heute une petite passage durch Biebergemünd machen?" Schlitzohrig grinsendes Schweigen. Irgendwann wurde es ihrem ungehalten seine Chopard L.U.C Perpetual T 43 taxierenden Zu-ckiputzi zu bunt. "Schelm, Er weiß sicher gut, dass Wir jetzt nicht die geringste Zeit für einen Frühschoppen haben. Peut-être une autre fois. Allez Madame, à Lettgenbrunn!"
Biebers mahnender Amtmann fuhr unbeeindruckt fort: "Oh, vorzüglichster Herr, Misjöh, silwu-plä, bleibt! Ihr ahnt nicht, was sich im Biebertal zusammenbraut."
"Alors, so spreche Er ohne zu heucheln, frei und ungezwungen, doch präzise und dezidiert, da-mit Wir ihn auch verstehen!"
"Oh, gerechtester Graf! Große Wut gärt unter Wirtheims Bewohnern. Volkszorn kocht, seit Ihr unsere liebliche Gegend am 3. Juli altangestammter Hanauer Herrschaft zuführtet. An jenem glorreichen, gottgeschenkten Datum, als Ihr exakt hier, hoch zu Ross, bejubelt, beklatscht vom fröhlich herbeigströmten Volk, das Ancien Régime beendetet. Doch Freude darüber währte nur kurz. Euer Durchlaucht waren kaum weitergeritten, gab Obrist Jawlonskji den gemütli-chen Gasthof zur Plünderung frei. Oh, bestester Herr, gar Entsetzliches sah Wirtheim nun! Gröhlend randalierte Euer Landsknechtshaufen im Inneren, machte sich über sämtliche Vor-räte her, gab Bier, Wein, Schnaps, Whisky, Wodka, Likör, Schnitzel, Steaks, Pommes Frites und prallvolle Spielautomaten den Trossjungen als reiche Kriegsbeute zum Abtransport. Überall Kleinholz. Gewaltige Fahnen hissend, zog die Horde im Suff pöbelnd durchs schmucke Ört-chen. Euch hinterher. Seitdem rennt mir Wirtheim die Amtstür ein, unterstützt von den Neu-wirtheimern, Kasselern, Lanzingenern sowie, Gott stehe uns bei, neuerdings den Roßbachern, fordert bis spätestens 30. 09. Schadensersatz in zweistelliger Millionenhöhe für erlittene Un-bill."
"Was will Er Uns damit sagen, Schuft?"
"Euer Gnaden unterschätzen gewisse lokale Breitenwirkungen. Wir leben in einer eher länd-lich geprägten Gegend. Die Leute halten noch fest zusammen. Vereinsleben blüht. Nachbar-schaft wird groß geschrieben. Biebergemünd ist gegen Euch aufgebracht. Denkt an jenen ge-selligen Bedeutungswert von Kneipen für Ortsgemeinschaften solcher Regionen. Mit unserer Schenke nahm Obrist Jawlonskij dem Landvolk nicht nur das leckere kühle Pilsner, den Skat-tisch, den Würfeltisch, die Stammtische, das Automatenspiel, den Versammlungsraum, son-dern stahl zugleich Herz, Seele und Heimat. Die hiesige Bevölkerung lastet das allein Phi-lippsruh an, droht damit, die Plünderung über soziale Medien als Kriegsverbrechen publik zu machen. Bitte, bedenkt auch hier, unumschränkt Waltender: Wirtheim hatte sich kampflos er-geben. Am Ortseingangsschild empfingen Euch Blaskapelle plus Kirchenchor. Verzeiht mir da-rum, oh, allergütigster Herr, ich will das Kind jetzt einfach mal frank und frei beim Namen nennen: Solltet Ihr nicht einlenken, planen die Wirtheimer 2019 nebenan auf den Kinzigwiesen eine zweiwöchige Jubiläumskirmes, dankbar darüber, dass ihre Ortschaft 1649 ans Kurfürs- tentum Mainz zurückfiel."
Widerwillig kramte Zuckiputzi in seiner rechten Jackentasche. Pech! Ausgerechnet heute lag der Block Verrechnungsschecks im Schloss.
"Onlinebanking übers Smartphone?"
"Osteuropäische Hacker reich machen? Was bildet Er sich ein, Halunke!"
Doch fieses Schicksal ließ wenig Spielraum. Wenn man Tumult verhindern wollte, blieb nichts anderes übrig, als mit dem gerissenen Amtmann am Platz zu verweilen, wo dieser zur Kurz-weil einem plumpen Dorfwitz nach dem anderen zum besten gab, aber nur selbst darüber lachte. "Gottchen, neeee, wie peinlich!" Narturellement ignorieren vornehme Herrschaften von Stand solche Darbietungen, wie sie auf dem Land gerne Brauch, gucken dafür in der Vormit-tagssonne voller Anteilnahme unentwegt den Tatort an. Bis endlich das heißersehnte schwar-ze Auto vom mobilen Dienstpersonal ums Eck bog; dem begonnenen Scherz vom Schweine-hirten Willi und der Schneidersfrau Margot in des alten Johanns Kinzigmühle, bäuerisch, Ad-ligen entwürdigend, vorzeitig ein Ende bereitend.


"Muss reichen! Und trete Er mir nie mehr mit solchen Anliegen unter die Augen, Kerl!"
Unwirsch drückte Dennis Kevin dem lächelnden Amtmann Holger von Bieber den Scheck in die Hand. Wieviel ihr Göttergatte jedoch bereit war, an Wirtheim zu zahlen, wird vermutlich bis zum Ende beider Tage strengstens gehütetes Staatsgeheimnis bleiben.
"Meine Güte, was für ein ungebildeter Paysan!" Bernhardette Constanze Amalia schüttelte es bei der Vorstellung. "Ein Jawlonskji auf seine Weise. Dennoch gut, dass Wir auf ihn hörten, an-sonsten gäbe es vielleicht diese Woche an der Kinzig Halligalli."
Und wem verdankten sie die ganze Misere? Alessa Marie! Wem sonst! "Unsere Tochter hatte ja auch im Leben wirklich keine anderen Sorgen als mit völlig bescheuerten Plakaten am Wil-helmsbader Bahnübergang Eremiten anzuwerben. Ich mag gar nicht mehr dran denken!" Je-den Tag die gleiche Theateraufführung. Springen. Hüpfen. Winken. Trillern. Schwenken. Rufen. Schreien. Schimpfen. Tränen.
Wie in der Rückschau an jenem 10. August 2016. Hanaus legendäres Wildwestduo Die 2 Kai-serinnen im Bestform. Mamas traditioneller Part als Erziehungsberechtigte: Auf besorgte An-rufe/Kurznachrichten zufällig an den geschlossenen Schranken wartender Bekannter, Freun-de, Nachbarn oder Lehrer hin, welche analog zum Stummfilm The Great Train Robbery einen bevorstehenden großen Eisenbahnüberfall argwöhnten, per Familienkutsche schleunigst zur Stelle, schlich sich Indianerhäuptling Dennis Kevins tapfere Squaw von hinten heimlich heran. Welch freudiger Anblick für Karl May! Alsdann packten fünf Finger adlerflink die stümperhafte Jung-Gangsterin, untermalt mit schrillem Angriffsgeschrei: "SOFORT AB MIT DIR NACH HAU-SE, FRÄULEIN! SONST RAPPELT'S IM KARTON!!!!!" Überrumpelung geglückt. Fehlte nur noch das Einbeziehen des Lokführer ins Westernspektakel. Häuptlingsfrau Kaiser drehte ihren stol-zen Kopf zum Zug, stieß siegreiches Indianderinnengeheul aus: "TSCHULDIGEN SIE, UNSERE TOCHTER IST HALT MANCHMAL SO!" Und der freie Arm winkte dazu: Weiterhin gute Fahrt!

Am 22. September 2017 unterbrach die Junior-Banditin jedoch wider Erwarten ihre Sieges- strähne, wie auch immer Indianermädchen "Die, die den großen donnernden Zug sieht" es an-gestellt haben mochte. Und als der mächtige Häuptling nach dem 30. Oktober 2017 tapfere Krieger zum Schutz der brandneu gegründeten Grafschaft Hanau-Münzenberg suchte, erin-nerten sich Berater sofort jenes Namens aus den Wilhelmsbader Segeberg Spielen: Ja, Heiner der Hitzkopf, Männer solchen Kalibers brauchte Hanau-Münzenberg!
In Offenbach aufgestöbert, bot Versailles' Imitator ohne Zögern sofortigen Wiedereinstieg ins gelernte Metier an. Der erkannte DIE Chance seines Lebens auf eine steile militärische Kar-riere, kündigte, trommelte via alte Seilschaften vierhundert verwegene, teils steckbrieflich ge-suchte Söldner zusammen, stellte mit ihnen ein Regiment auf, ruhmreiche Zeiten beschwö-rend von Zuckiputzi Hanauer Bataillon getauft. "Ach, mein fescher Graf! Dem eigenen Oberst verdankten wir unsere einstündige Verspätung am Beilstein."

"Dabei ist Zuckiputzi doch eh schon immer so ungeduldig. Hihihihihihi, ein richtiger Heißsporn! Stets voller Tatendrang. Nie geht's schnell genug."
"Hach!", träumte sie weiter. "Allzu gerne würde ich mich mit ihm einmal in dieser Schenke bei einem romantischen mittelalterlichen 5 Gänge Menü verwöhnen lassen. Ohne Kinder. Lukulli- sche Genüsse, krendenzt von züchtigen Burgfräuleins sowie Frau Minne huldigenden Rittern. Schalmeienklang im dunklen, nur vom dezenten Licht lieblichen Lavendelduft verströmender Kerzen erhellten holzmöblierten Schankraum. Südfrankreichs Star-Troubadoure beim Vortra-gen selbst verfasster provencalischer Liebeslieder. Haaaaaach, dabei blicken sich unsere Au-gen total verliebt an. Haaaaaaaaach, wie damals, als wir uns beim Rüdigheimer Kirmestanz kennenlernten. Gibt's den eigentlich noch? Haaach, jaaaaa, das wäre sooooooo schöööööööön! Oh, Gott, mir ist's schon als hörte ich Roland de Montpellier sich räuspern, seine unübertrof-fen schmachtende Reibeisenstimme anheben. Und dazu dieser freche Hüftschwung!"
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"JETZT SCHLÄGT'S ABER 13!" Marienkirchens dumpfer dreizehnter Glockenhall katapultierte unausstehlichen Morgenweckern gleichend Bernhardette Constanze Amalia aus süßen Mittel-alterträumen ins Hier und Jetzt zurück. Wahrlich, kein zur Frühschicht lärmendes Weckgerät könnte dermaßen herzlos sein. Ausgerechnet jetzt! Gerade hatte Oberkellnerin Eleonore von Aquitanien das als Beatrix von Burgund und Friedrich Barbarossa gewandete Grafenpaar per Glöckchen um geschätzte Aufmerksamkeit gebeten, den phänomenalen Großmeister, "le plus grand artiste lyrique mondial, le maître Roland de Montpellier lui-même", angekündigt, ani-mierten südfranzösische Weisen Hanau-Münzenbergs Illusionistin auf dem mit Muschelseide bezogenen Sitzkissen, infolge des Genusses köstlichen Krimsekts leicht beschwipst, zum Mit-klatschen. Verflüchtigt!!! Zerstoben!!! Stattdessen wechselte das Trugbild, hoben unerkärliche, sämtliche physikalischen Schwerkraftgesetze aufhebende Mächte Dennis Kevins strampelnde Holde vom südlichen Kirchplatz empor, über die Westturmspitze hinaus in Gelnhausens Lüfte.
Erzählrunde 5

Nach Paris!!! Schmiss sie 1793 äußerst unsanft inmitten der Place de la Concorde auf den Bo-den der Tatsachen, verschwand, und überließ so die unfreiwillige Zuschauerin sich selbst dem Hier und Jetzt. Logenplatz!!!!! Direktsicht auf die jeden Moment spritzende Blutfontäne!!!!! Oh, Gott...die Arme...wenigstens ein letztes: "Au revoir, ma chère!" Letzter irdischer Trost! Ehe sich Bernhardette Constanze Amalia jedoch schaurige Anblicke frisch vergossenen Blutes boten, kündigte plätschernder Trommelwirbel baldige Urteilsvollstreckung an. Nein, diesen Gefallen würde eine Gräfin von Hanau-Münzenberg dem Pöbel niemals tun!!!!! Sie musste das Antlitz abwenden, verhindern, Zeugin fürchterlicher, messerscharfer Abläufe zu werden. Es blieben vielleicht zwanzig Sekunden. Höchstens. "Das ist es", flüsterte deus ex machina, "du wirst wie der Vikar damals mit dem Kopf weit nach oben schauen!" Kaum zuende gedacht, wollten adli-ge Augen auch schon den herbstlichen Morgenhimmel absuchen.
Doch wiederum handelten vier standhafte Zinnsoldatinnen vorbildlich, stemmten vereint acht Hände der zu kippen drohenden Turmfrisur unerschrocken entgegen, drückten den Koloss si-cher ins richtige Lot zurück. "Ach, tugendhafte Jungfern", jammerte Bernhardette Constanze Amalia, "ihr verkennt völlig den bitteren Ernst unserer Lage, wähnt euch in verspielter Unbe-darftheit noch in Hameau. Haltet Augen und Ohren geschlossen!!!!! Bevor's zu spät ist!!!!! Tout suite!!!!! Da!!!!! Der Schatten des Todes berührt bereits die Schreckensrequisite!!!!! JETZT!!!!! JETZT!!!!! JETZT!!!!! JETZT!!!!! MAINTENANT!!!!!"
Beispielhaft vorangehend plante Philippsruhs Schlossherrin irreparable psychische Schäden verheerenden Ausmaßes von ihren empfindsamen dames de la cour abzuwenden, wollte mit fest verschlossenen Seh- sowie nicht minder fest zugehaltenen Hörorganen warnen: "YVET-TE!!! VERONIQUE!!! CHANTAL!!! SYLVIE!!! ATTENTION!!! VITE!!! VITE!!! FAITES COMME MOI, MES FILLES!!!" Spontanes Infragestellen eigener Zurechnungsfähigkeit verhinderte das Vorhaben.

Sekundenbruchteile ehe Paris' grimmiger Scharfrichter seinen schicksalshaften Handgriff tun würde. In größter Not sah Bernhardette Constanze Amalia geistesgegenwärtig nur noch einen einzigen Ausweg. "Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Ich will nicht länger im revolutionären Frank-reich sein! Nein! Nein! Nein! Nein! Nein! Ich will nicht länger auf der Place de la Concorde sein! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ich wünsche mich hiermit wieder in Wirtheims Schenke zurück! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ich will sofort den sonnengebräunten Roland de Montpellier singen hören. Ich will sei-nen gewagten Hüftschwung sehen! Ihm außerdem während seiner Darbietungen unüberseh-bar frech zuzwinkern! Ja! Ja! Ja! Ja! Ja! Ich will dadurch in Dennis Kevin wildes südländisches Liebesfeuer entfachen, in ihm den temperamentvollen, ungestümen, eifersüchtigen Okzitanen wecken! Ich will! Ich will! Ich will! Ich will! Ich will! Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt!"
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Die Fluchtwillige überraschte es am meisten: Unter waghalsiger gedanklicher Zuhilfenahme sich selbst erfüllender Einredungen gelang auf den buchstäblich letzten Drücker zunächst ein Entkommen aus der Seinestadt. Doch Revolutionsspürhund Varennes heftete sich kläffend an frische Kutschenspuren. Im Handumdrehen scheiterte spektakuläres träumerisches Fliehen in altvertrauter Kulisse - Gelnhausens Marienkirche. Die Kanzel. Dahinter jene Sitzgelegenhei-ten für mit ihren Prüfungskindern unpünktlich Eingetroffene.

Zuckungen des rechten Auges, hervorgerufen vom kräftezehrenden Stress, hatten die Adlige in Wirtheims Schenke verraten, wie tragisch, mitten im bereits sicher erreichten Ziel!
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Und das geschah so. Ungeduldiges Flüstern machte sich dort allmählich am üppigen Bankett breit. Wo blieb Roland de Montpellier? Wo? Wo? Gerüchte kursierten. Eleonore von Aquitanien trat parlierend heran. Scherzte. Ermutigte. Nein, Roland wurde nicht kurz hinter Wächters-bach von lösegeldgierigen Raubrittern entführt. Nach heißem Intermezzo des Liebestollen in Langenselbold stürme Rappe Bertrand "en moment" vielmehr "galopant" durch Gelnhausen-Höchst Richtung hierher. Jubelgeschrei. "Oh my God, oh my god, oh my goooooooooooooood!" Bernhardette Constanze Amalia durchfuhr heftigstes Gehirnpochen. "Gleich werde ich Roland de Montpellier vernehmen. Rasch die paar Minuten nutzen und meinem schon zu Schulzeiten berühtmen Wimpernschlag spezielle letzte Schliffe verpassen. Ihm wird mein Idol niemals wi-derstehen können. Hahaha, ebensowenig wie Herr Kaiser, von uns Mädels stets leicht um den Finger zu wickeln, beim mündlichen Chemieabitur; als es einzig und allein darum ging, DEN rettenden 1 Punkt zu schinden."
Doch man schrieb nicht mehr das Jahr 2000. Am 16. Oktober 2019 versagte besagter Trick im schummrigen Kerzenlicht angesichts dramatischer Umstände "Mist! Es klappt nicht! Neeeee-iiiiinnnn! Biiiiiiiitteeee! Nicht deeeeeeer wieder!" Erinnerungen an 2017 zerstörten schlagartig überbordende Vorfreude auf des Trobadors schmachtendes Lied Je cherche Aline, bei wel-chem begleitende Schalmeienspieler regelmäßig tränenüberströmt aus dem Takt geraten:
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"Mon amour s'appelle Aline,
ma belle,
mais, malheureusement,
fortune cruelle,
je ne peux plus trouver leur château, le grand
-oh ciel!- detruit jusqu'aux fondations,
en Yvelines."
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Beatrix von Burgunds anmutiges Lid brachte trotz aller erdenklichen Gegenmaßnahmen an-stelle kessen Getues ausschließlich jene pathologischen Dauerzuckreaktionen des jungen Vi-kars am äußersten Ende der vordersten linken Bankreihe zustande, schräg gegenüber ihres exklusiv verspätet Eingetrudelten vorbehaltenen Platzes hinter der Kanzel. DER VIKAR!
BAUZ! Da flog die Türe auf, wütenden Gebells sprang Varennes herein, Verräter mussten sie einen Spalt offen gelassen haben, biss zähnefletschend ins Burgunderinnenkleid aus Vikunja- wolle, zerrte Friedrich Barbarossas verzeifelt zappelnde Angebetete die gesamte Wegstrecke von Wirtheim quer durch Höchst zum dreizehnmal die Sturmglocke läutenden Gotteshaus zu-rück.
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Ihn hatte sie längst fest ins mütterliche Visier genommen. Alessa Marie! Deren Karten stan-den nach Zitaten aus Rapper Hiobs Oeuvre Alles denkbar ungünstig. Ungünstiger als wegen mangelnder Vorbereitung ohnehin schon. Also rechtzeitig charmante Kontakte zu männlichen Kommissionsmitgliedern zwecks positiver Beeinflussung späterer Benotungen knüpfen. Selt-samer Zeitgenosse! Sorte "hagerer Asket". In sich versunken. Teilnahmslos. Weltabgewandt. Den anbaggern? Wie soll frau da unmissverständliche Hey, du! Ich mag dich total! Mitteilun- gen senden? Ganz zu schweigen von beiderseitig erheblich eingeschränkten Sichtverhältnis-sen zueinander infolge der denkbar ungünstig platzierten Kanzel. Gekrümmte optische Linie. Dennoch: Ein entsprechend angepasster, weit vorgebeugter Oberkörper, unter besonderer Be-rücksichtigung des üppigen Oberweitenbereiches, Blickkontakt, kokettierendes Zwinkern, zag-haftes scheues Winken, all jenes optimierte Erfolgsaussichten weiblicher Flirtbereitschaft bei Entsagenden beträchtlich.
Hurra! Endlich! DIE Gelegenheit! Ann-Kathrins glaubenseifrig "HÖRT! SIE LÄSTERT LUTHER!" tosender Vater pustete ihm Lebensodem ein. Alles planmäßig. Sie schaute ihn an. Er schaute sie an. Zack! Lidaufschlag perfekt!!!! Perfekter sogar als im Millenniumsjahr. "Oh Gott...musste Herr Kaiser unbedingt so wie ich heißen?" Halt! Stopp! Hm...etwas war anders. Kein eindeu-tiges Zurückzwinkern! Vielmehr permanentes hektisches Zusammenkneifen, mit ihren Avan-cen in keinster Verbindung stehend. "Egal, noch ein Versuch. Aller Anfang ist schwer. Gib al-les! Du schaffst das!" Zack! Zu spät. Soeben begann der eingeflößte Vitalitätsgeist volle Wirk-kraft zu entfalten. Und sämtliche Teilnehmer, Ordinierte, Nichtordinierte, Prüfer, Prüflinge, An-gehörige, überlegten ernsthaft, ob sie sich fälschlicherweise im Lichtpielhaus befanden.
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Umständlich stand der Mann auf, ergriff zittrig den mitgebrachten Koffer neben sich. "Blödes Ding!!!!!" Bernhardette Constanze Amalias Erinnerungen echauffierten sich 2019 immer noch darüber. "Dieses riesige Teil blockierte den halben Gang!!!!!" Heraus kramte er unter allgemei-nem Raunen einen schaurigen Totenschädel. Anschließend irgendeinen dicken Wälzer. Depo-nierte beides vor sich auf der Holzfläche. Dann verschlug es rund hundert Anwesenden end-gültig die Sprache. Zuletzt zog der komische Vogel eine schlichte, abgenutzte Mönchskutte hervor, schlüpfte vor äußerst irritiertem Publikum hinein, zwängte seinen Körper knieend in die Kirchenbank, verharrte dort in einer Haltung, welche gleichfalls an glorreiche Abiturzeiten erinnerte.
"Gibt's doch gar nicht!" Ungläubig rieb sich Frau Kaiser beide Augen. "Kann doch nicht sein!" Misstrauisch wiederholte sie den Vorgang. "Ich glaub, ich spinne!" Vergewisserung Nummer 3 brachte Klarheit: Der heilige Franz von Assisi von Francisco de Zurbarán, dargestellt in me-ditativer Betrachtung. Wie er leibt und lebt! Als hinge das 1639 entstandene Gemälde dort als lebende britische Leihgabe. Exakt 1:1 jene Körperhaltung wie damals auf dem Spickzettel für die Kunstklausur. Unverkennbar! Dieselbe Knieposition. Derselbe leicht rechts empor gerich-tete verklärte, ins Ekstatische gesteigerte Gesichtsausdruck. In seiner rechten Hand mahnte menschlicher Knochenüberrest. Mit dem anderen Ellenbogen am Buch aufgestützt. Die linken Finger wegen des Wundmales unvollständig gespreizt. Um das lebendige Szenario zu vervoll-ständigen, flüsterte Sankt Franziskus hauchzart, innige Zwiesprache mit Gott haltend.
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Obwohl in einer evangelischen Kirche unterbrach dennoch niemand solch offen praktizierte, Luther stark widerstebende Heiligenverehrung. Franz von Assisis religiöse Inbrunst überwäl-tigte. Verströmte ringsum unwiderstehliche fromme Mystik. Bildete einen intensiven Sogef-fekt. Sogar sie als Ehefrau und dreifache Mutter konnte sich dem nicht entziehen. Schonungs-los realistische Stimmung. Gebannt, ergriffen wollte jeder schwärmerisch ins Charisma ein-tauchen. Vom Heiligen ins geheimnisvolle Ringen gleichsam mit hineingenommen werden. Verzückt Anteil an dessen seelischer Situation erhalten. Spiriuell aufgelöst im Auraglanz jener unergündlichen malerischen Atmossphäre Zurbaráns. Ok, ok, ok, oder ihre Mienen bezeugten einfach nur die lapidare Tatsache, dass keiner auf derart unerwartete Vorkommnisse vorbe-reitet war.
Wie dem auch sei. Anfänglich unternahm der Oberkirchenrat nichts. Fünfzehn Minuten Verklä- rung verstrichen. Hiernach stand Franziskus zeitaufwendig wie er sich vorhin hingekniet hatte wieder auf. Marschierte stracks zur Kanzel. Rumgemurmel. Unverständlich zwar, dessen un-geachtet inhaltlich nachvollziehbar. Kein Zweifel. Assisis populärer Heiliger erbat Predigter-laubnis, ein Herzenswunsch, von höherer Stelle abschlägig beschieden.
Doch Gottes Geist weht dort, wo's beliebt, und wenn himmlischen Sprachrohren irdisches Ge-hör versagt bleibt, martern Engel auserwählte Werkzeuge länger, indem zuvor befestigte Dau-menschrauben fester angezogen werden.
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GONG! Erster Zwölfuhrschlag. Ein unvermittelter kurzer, heftiger Stoß. Zurbaráns Protagonist schrie auf, als sei gerade etwas mit voller Wucht in ihn hineingefahren.
GONG! Zweiter Zwölfuhrschlag. Wie auf militärisches Kommando knallte er daraufhin seine Hacken zusammen, salutierte vor jemandem, anscheinend irgendwelche Befehle erhaltend.
GONG! Dritter Zwölfuhrschlag. Ruckartig griff seine rechte Hand in die Kuttentasche, über-prüfte, ob sich dringend Benötigtes auch tatsächlich darin befände.
GONG! Vierter Zwölfuhrschlag. Nun hob der Heilige den Kopf weitestmöglich in den Nacken, suchte mit flach vorgehaltener linker Hand blitzartig das gotische Gewölbe ab.
GONG! Fünfter Zwölfuhrschlag. Nadines kleine Schwester schluchzte: "Mami, ich hab solche Angst!"
GONG! Sechster Zwölfuhrschlag. Franzens Vollbart wüst zerzaust. Bernhardette Constanze Amalia überlegte: "Wie groß kann Verzweiflung sein?"
GONG! Siebter Zwölfuhrschlag. Aus der hintersten Kirchenbank dreifaches Niesen.
"Gesundheit!"
"Danke!"
GONG! Achter Zwölfuhrschlag. Verdächtig unheiliges Stampfen mit dem rechten Fuß zeugte von religiöser Selbstunzufriedenheit.
GONG! Neunter Zwölfuhrschlag. Ann-Kathrins glaubenseifriger Vater: "JETZT SCHMEISSEN SIE DEN KERL DOCH ENDLICH RAUS!"
GONG! Zehnter Zwölfuhrschlag. Nur nichts hören! Nur nichts hören! So konnte man das fol-gende Ohrenzupressen interpretieren. Um Himmels Willen, was war los mit Franziskus?
GONG! Elfter Zwölfuhrschlag. Abruptes zu Boden Senken des Kopfes sollte akute Taubheits- sehnsucht gestisch verstärken.
GONG! Zwölfter Zwölfuhrschlag. High Noon. Showdown. Gestammel. Aufbäumen. Vergeblich.
GONG! Er schrie: "J E T Z T S C H L Ä G T ' S A B E R 1 3 ! ! ! ! ! ! !"
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"Die müsste wohl auch mal driiiiiingendst repariert werden!", tuschelte Frau Kaisers Mitbüße-rin. Deutlich als drückten sie auf Kesselstadts herbstlichem Schlosshof wie im Sommer 2017 Seit an Seit jene Zuspätkommern exklusiv vorbehaltenen Sitzgelegenheiten. "Wissen Sie, von daher stammt sicher diese Redewendung. Da war irgendwo vor ewig langer Zeit die Kirchuhr kaputt. Ulkig, fin..."
"ENTWEDER BEFÖRDERT MAN DEN SPINNER JETZT AUF DER STELLE HINAUS", machte ein alter Bekannter erneut auf sich aufmerksam, "ODER WIR TRETEN NOCH HEUTE ALLESAMT AUS DER KIRCHE...AAAAAAAAAAAAAAAAHHHH!!!!! VADE RETRO, SATANA!!!!!"
Wie lichtscheue Vampire wütend vor dem Kreuz unseres Erlösers weichen, fuhr Ann-Kathrins glaubenseifriger Vater beide Hände abwehrend vors Gesicht haltend zurück, so weit ihm die Kirchenbankreihe Spielraum bot. Beim Vernehmen des dreizehnten Schlages hatte nämlich Franz von Assisi seinen Rosenkranz aus der Kuttentasche gerissen, diesen sich zwölfmal im Kreis drehend den Versammelten wie einen letzten Rettungsanker entgegegehalten. Offenbar wollte er sicher gehen, dass wirklich jeder ihn zu Gesicht bekam.
"Maria ist unsere einzige Zuflucht!", röchelte Zurbaráns Heiliger käsebleich wie in den letzten Atemzügen liegend. "Oh, ihr Mädchen! Werdet Nonnen! Entsagt dieser törichten Welt! Betrach-tet den Lettner! Glaubt ihr, unseren Heiland interessieren beim Jüngsten Gericht eure Erfolge als Marketingmanagerinnen, Fotomodelle, Influencerinnen, Expeditionsforscherinnen, Klimak-tivistinnen oder Popsängerinnen? Einzig und allein eure Seelen gilt es zu retten!!! Nur dafür seid ihr auf der Welt! Bedenkt: Eine gewaltige, unverhofft über unser hochmodern durchorga- nisiertes Deutschland schwappende Krise genügt, um alles bisherige komplett in Frage zu stellen! Der Tag naht, an dem sich keine mehr geschminkt nächtelang in sündigen Clubs rum-treiben kann, Kinos, Schwimmbäder, Thermen für euch und eure Flirts zum lüsternen Anban-deln geschlossen sind. Da könnt ihr auch zusehen, wo ihr shoppen geht, denn mehr als eure konsumgierigen, verwöhnten Näschen an Kaufhaus- und Ladenscheiben plattzudrücken wird nicht drin sein. Haaaaa! Sogar die Stunde wird man herbeibeten, wenn Frisöre endlich zum Beheben ungepflegter, verwahrloster Mähnen öffnen dürfen! Gott der Allmächtige wird's noch zeigen, was er vermag! Oh, ihr Jungen, hört mich an! Im Namen der Jungfrau beschwöre ich euch: Heiße weibliche Reize, Ziel eurer elenden Begierden, vergehen schneller als Kirschblü-ten benötigen, um vom Baum zur Erde zu fallen, glaubt es mir. Werdet Priester! Ja! Heilig-mäßige Priester! Priester, die sich selbst geißelnd aufopfern für das Retten ansonsten auf ewig Verlorengehender. Eifert dem Pfarrer von Ars nach!" Und so ging es weiter.
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"Sagen Sie..."
"Kaiser mein Name."
"Müller, angenehm. Schön, dass wir nebeneinander sitzen. Sagen Sie, Frau Kaiser, wissen Sie zufällig, was dieser Typ vorhat? Der ist doch nicht mehr ganz sauber! Macht einen völlig me-schugge mit seinem Geschwätz!"
"Vielleicht gehört das irgendwie mit dazu."
"Sie meinen, eine Art Stresstest?"
"Schließlich sind die Kinder hier in der Glaubensprüfung!"
"Hmmm, durchaus denk..."
"EIN SKANDAL!"
"PFUI!"
"UND DAS IM HAUSE GOTTES!"
"ES IST UNGLAUBLICH!"
"JETZT TUN SIE GEFÄLLIGST WAS!"
"WER IST DIESER IDIOT ÜBERHAUPT?"
"BESTIMMT EIN VERKAPPTER JESUIT!"
"DIREKT AUS DEM VATIKANSTAAT. DER SOLL UNS ALLE KATHOLISCH MACHEN!"
"MIT EINEM DIESER JESUITENDRAMEN AUS DER BAROCKZEIT. ICH HABE LITERATURWISSEN-SCHAFT STU..."
"SEID DOCH MAL STILL HIER!"
"Jetzt geht er langsam in die Hocke."
"Ja, das Gesicht nach oben."
"Und die Linke zur Faust geballt am Mund."
"Schauen Sie, der beißt mit den Zähnen drauf."
"Und seine Rechte hält er wie irrsinnig vor sich."
"Merkwürdig, als ob er mit letzter Kraft etwas abwehren möchte."
"Was soll das eigentlich bitteschön geben, wenn's fertig ist?"
"Gute Frage. Sehen sie sich mal seine Schreckensblicke an!"
"Als ob Graf Dracula höchtpersönlich vor ihm stände."
"Hört, er krächzt wieder los."
"Er...er...er...ist...überall. Er...er...er...weiß, wo wir sind. Er...er...er...ist über jeden unserer Gedan-ken vorab genauestens informiert. Er... er...er...ahnt unsere Schwächen. Er...er...er..."
"Jetzt reißen Sie sich endlich zusammen, Herr Vikar. Natürlich ist Gott überall. Als omnipoten-ter Creator von Himmel und Erde kennt er jeden unserer Schritte. Welch fantastische Vorstel- lung. Sich von des Schöpfers fürsorglich liebenden Armen wundersam getragen fühlen." Flink blätterte der Examensleiter in seiner Bibel. "Ich lese dazu Psalm 23:
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Der Herr ist mein Hirte,
nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen
und führt mich zum Ruhe..."
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"BEI LUKAS 9 VERS 54 STEHT GESCHRIEBEN:
HERR, WILLST DU, DASS WIR SAGEN, ES SOLLE FEUER VOM HIMMEL FALLEN UND..."
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Wiederum mit väterlich gütigen, doucement doucement andeutenden Armgesten verwies der Prüfungskommissär Ann-Kathrins glaubenseifrig emporgeschnellten Vater sanft aufs unbe-queme Sitzholz zurück.
"Neeeeiiiinn. Den meine ich nicht." Röcheln wich gequältem Wimmern. "Und wir Erstsemester waren damals im Proseminar einhellig davon überzeugt, Martin Luther hätte das in Von der Winkelmesse und der Pfaffenweihe frei erfunden. Neeeeeiiiiiinnn!!! Neeeeeeeeiiiiiinnn!!! Jedes verbum doctoris Lutheri ist gewisslich wahr."
"Was sollte unser unbezwingbarer Martinus denn erdichtet haben? Wovon reden Sie? Ich kann Ihnen ehrlich gesagt nicht ganz folgen. Sie klingen äußerst verwirrt."
"Oh, er geht raffiniert vor! Oh, er ist schlau! Oh, er ist listig! Oh, er ist gerissen! Oh, er ist tüc-kisch! Oh, er ist garstig!"
Den Schwerhörigen miemend führte der Oberkirchenrat beide Hände ans Ohr. "Ich kann Sie nur seeeeehr schlecht verstehen, mein Gutester, seeeeeeeehr schlecht. Jetzt erheben Sie sich erst einmal und lassen dezent Ihre Devotionalie verschwinden. Darüber werden wir uns übri-gens im Anschluss noch unterhalten. Sie haben eben erlebt, was papistischer Aberglaube bei Gläubigen anrichtet. Und wenn dieses Ding sicher außer Sichtweite ist, lauscht natürlich jeder Christgläubige sehr gerne Ihrem Bericht."
Auf die deutliche Anweisung des Prüfungsvorsitzenden hin erhob sich Sankt Franziskus, zog den Ordenshabit ordentlich zurecht, verstaute widerstebend seinen Rosenkranz im Kuttenin- neren; und nachdem ihm kopfnickend Zufriedenheit mit der getroffenen Sicherheitsvorkeh-rung signalisiert wurde, begann Zurbaráns vitale Porträtfigur zu erzählen.
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"Es geschah im Mai 2016 während eines Ausfluges mit meiner Jugendgruppe nach Seligen-stadt. Nachdem wir dort dank um diese Uhrzeit erstaunlicherweise staufreier Straßen über-pünktlich angelangt waren, hielt ich zuerst in der Gustav-Adolf-Kirche für uns einen Gottes- dienst. Wie es sich für freie Christenmenschen gehört. Anschließend führte unser Weg zu Fuß in Richtung Einhardsbasilika. Um abzukürzen folgten wir dabei jenem im Stadtführer ausge- wiesenen Fußgängerweg entlang der Klostermauer, um via abgebildetes Osttor in den Garten zu gelangen. Ärgerlich nur, und dieses Omen hätte mich aufhorchen lassen müssen, dass das Portal trotz mannigfacher Rütteleien hartnäckig verschlossen blieb, allenfalls Fotos mit durch die gusseisernen Gitterstäbe gehaltenen Kameras oder Smartphones erlaubte.
Erzählrunde 6

Enttäuscht folgten siebzehn Abgewiesene weiter dem Mauer gesäumten Weg und erreichten den Main. Hier bestürmen mich die Jugendlichen vor Beginn des geführten Klosterrundgangs: Kurzabstecher zum Eisladen - dürfen wir? Sie haben auch sooooooooo toll gegen das Papst-tum gepredigt! Bitte, bitte, bitte! Ok, bin ja nicht so. Einverstanden, Leute! Wir liegen gut in der Zeit. In zwanzig Minuten ist Treffpunkt am Fähranleger angesagt, von wo aus wir zusammen zur Museumskasse gehen. Und wenn ich zwanzig Minuten sage, Herrschaften, füge ich päda-gogisch hinzu, dann meine ich zwanzig! Die freundlichen Mitarbeiter warten nicht ewig auf uns! Nachdem sich meine Rasselbande mit fröhlichem Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Vi-kar! im Nu verdünniserte, beschloss ich, vorab schon mal im berühmten Klostergarten mich umzuschauen."
"Äh, warum sind Sie denn eigentlich nicht mitgegangen? Mögen Sie kein Eis?"
"Alessa Marie, lässt du den Herrn bitte ausredenn!", flogen Frau Kaisers genervte Worte ge-danklich über Kesselstadts Schlossplatz.
"Tschuldigung!"
"Natürlich mag ich Eis. Liebend gern sogar. Aber nur aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt. Im Eisladen weiß man nie, ob das immer alles wirklich einwandfrei ist."
"Verstehe. Jetzt kapiere ich! Deswegen ließen Herr Leier-Kastenmann und Fräulein Treue-Ist-weg uns damals stehen. Das war hundertpro wegen der Fürsorgepflicht, damit nur sie Bauch-weh..."
"Fräulein da vorne, muss ich erst mit der Wäscheklammer für vorlaute Mädchen kommen? Ist das bei ihrer Tochter eigentlich genauso?"
"Schlimm, sag ich Ihnen, ganz schlimm. In der Prüfung spielt Ann-Kathrin die Unschuld vom Lande. Zuhause muss sie dagegen permanent das letzte Wort haben. Eine richtige Plapperlie- se. Und wehe, unserer grande dame passt irgendetwas nicht in den Kram."
"Meine Rede. Ähm, mal was anderes: Weshalb sind Sie eigentlich zu spät dran gewesen, wenn ich fragen darf? Halt...nichts sagen...Verzögerungstaktik?"
"Vom Feinsten, sag ich Ihnen, Alter Schwede! Ooooh, meine Ann-Kathrin, dieses Früchtchen!"
"Der Absatztrick?"
"Täuschend echt, sag ich Ihnen. Hab's natürlich gleich am Kleber erkannt, dass nachgeholfen wurde. Bei mir muss sie früher aufstehen!"
"Bleibt uns nur die Hoffnung, dass die Kinder möglichst rasch der Pubertät entwachsen."
"Und mein Mann hat natürlich nichts besseres zu tun, als sie darin zu bestärken. Hihihihihihi, der da hinten wortstark einen auf Mister von und zu Wichtig macht, ist Bernd übrigens."
"Hihihihihi, Ihrer also genauso."
"Männer!"
"Männer!"
"Stehen Sie eigentlich auch am Obermarkt?"
"Nein, unten an der Kaiserpfalz. Kann man da parken?"
"Problemlos. Na, da mussten Sie aber das ganze Stück hochlaufen."
"Und das in den guten Stöckelschuhen, ich sag ihnen. Wusste ich gar nicht. Sind Sie von hier?"
"Nein, aus..."
"Ääääh...wenn die beiden kommunikationsfreudigen Damen da hinten dann irgendwann fertig sind, können wir weitermachen."
"Huch! Ich glaube, wir sind gmeint!".
"Hallo, Mama?"
"Sehen Sie? Schrecklich, meine Alessa Marie!"
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"Kaum den Garten endlich erfolgreich durchs uferseitige Nordtor betreten, umgab mich merk-würdige, unheimliche Leere; mutterseelenallein stand ich zwischen blühenden Gewächsen."
"Öhm, ist doch voll logisch, Ihre Jugendgruppe war doch Eis holen, kein Wu..."
"Paula! Ich habe die Wäscheklammern schon griffbereit vor mir liegen!" Eine beklagenswerte Leidensgenossin von Frau Kaiser und ihrer sympathischen neuen Bekannten. "Soll ich vor-kommen?"
"Tschuuuuuldigung!"
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"Wie gesagt, ich schien Robinson Crusoe in the garden zu sein; offensichtlich leisteten mir le-diglich emsige Bienen Gesellschaft. Indes zwei Dinge waren hierbei recht seltsam. Trotz Be-mühungen konnte ich keine einzige Honigproduzentin ausmachen. Nichtsdestotrotz summten ihre Flügelchen so, als ob es von ganz nah überall gleichzeitig käme. Von links, rechts, oben, unten, kreuz und quer, wild durcheinander. Ohne Unterlass. Zunächst vermutete ich neue, in-vasive Arten, welche anders als heimische Völker klingen; man erfährt ja in Tierdokus einiges. Eventuell wurden sie ja von Rotterdamer Hafen über Seligenstadt passierende Fracht- oder Tankschiffe eingeschleppt."
Sichtlich angetan vom spannenden Krimi begann der Oberkirchenrat zur Begleitung mit sei-nen Fingern entlang des Kanzelrandes zu trommeln.
"Alsbald kristallisierte sich aus dem Gesumme ein klarer, lieblicher Knabentenor heraus, wie einer von den Regensburger Domspatzen. Ooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, hörst du mich? Verwirrt observiere ich sämtliche Himmelsrichtungen. Ich vermag dich zu sehen, oh, Vikar, doch du nicht mich! Ich frage ängstlich: Sprich! Wer bist du? Doch die en-gelsgleiche Knabenstimme gibt nicht die geringste Auskunft. Nur ihr Oooooooohhh, Vikar un-seres geliebten Herrn Jesu Christi, hörst du mich? umringt mich unablässig von allen Seiten aus jenem unerklärlich summenden Hintergrund heraus."
Erzählen Sie uns bitte mehr!, deutete der Oberkirchenrat mit seiner soeben heruntergenom-men dicken Gelehrtenbrille an, welche er sorgfältig nach lästigen Staubpartikeln zu begutach-ten anfing.
"Um endlich der ominösen Urprungsquelle auf die Schliche zu kommen - zweifellos ein harm-loser Kinderstreich - beschloss ich, die barocke Gartenanlage nach den dort irgendwo gut ver-steckten Lausbuben abzusuchen. Anfangs vermutete ich sie hinter der großen Steinvase und pirsche meine linke Hand gegen das intensive Sonnenlicht haltend dorthin.

Kaum da, klingt dieser Knirps schlagartig mehr vom Springbrunnen. Also weiter. Ich bin noch keine fünf Meter gegangen, hätte ich 1000000 Euro gewettet, ihn ex abrupto erneut vom stei-nernen Gefäß zu hören, diesmal abgetönter, so als stecke er darin. Ich drehe mich um in Rich-tung Nordtor. Dieser Strolch!!!!! Ich weiß, dass du drinnen hockst!, rufe ich überlegen. Kommst du freiwillig rausgeklettert oder darf ich nachhelfen?

Ooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi! Warum suchst du mich fortwährend dort, wo du mich nicht findest?, gibt mir vertraut säuselnder Engelsklang von den ehemaligen Abteigebäuden als Antwort. In ihrem blendenden Glanz, welcher zum Aufsetzen meiner tags zuvor käuflich erworbenen, coolen Markensonnenbrille anmahnt, gerät prompt jene goldene Kuppelfigur unter dringenden Tatverdacht."

"OhGott!SagenSiebloßdawarwiederdieserAstrophysikerderalsRaketenforscherinCapeCanaveralfürdieNASAgerabeitetha..."
"ALESSA MARIE!!!!! SCHLUSS JETZT!!!! ES REICHT!!!! SEI EIN BRAVES MÄDCHEN!!!!"
Bernhardette Constanze Amalia spürte Veroniques liebevollen Arm wohltuend schützend um ihre verkrampften Schultern liegend. "Ist auch wirklich alles in Ordnung bei dir, Constanze? Du siehst wirklich gar nicht gut aus. Meine Güte! Sollen wir dem Hofarzt Bescheid sagen?"
"Aaach, mein herzensgutes niedliches Entenkükchen!", seufzte die Gräfin von Hanau-Münzen-berg gerührt. "Du bist stets voller Fürsorge. Hab keine Angst, mir fehlt nichts. Nur dieser Wirr-kopf bringt mich noch heute durcheinander."
"Gelnhausen wieder?"
"Alles bloß wegen dieses unseligen Schulausfluges im September 2015. Damit fing die ganze Chose an. Erst das riesige Donnerwetter. Gefolgt vom gefloppten Herbsturlaub; genausogut hätten wir daheim bleiben können. Dann Alessa Maries geschickte Verzögerungstaktik, so er-müdend! Und als ich Bienchen 2017 unglaublicherweise durch die Kirchentür bekam, zur Krö-nung das! Popcorn! Ganz großes Kino!"
"Es lässt dich wirklich nicht los. Was ist eigenltich aus dem Irren geworden?", wollte Chantal wissen.
"Null Ahnung, drolliges Waschbärchen. Von der verpatzten Glaubensprüfung hörte man kein Sterbenswörtchen mehr. Sie wurde weder in der Hessenschau, Zeitungen geschweige im In-ternet erwähnt NOCH terminlich neu angesetzt."
"Hm, verständlich, zu groß die Befürchtung, dass der Fritze auftaucht", konstatierte Yvette.
"Der Teufel obendrein", ergänzte Hofdamenkollegin Sylvie.
"Ich hab's auch nie weiterverfolgt. Ende August kaufte Dennis Kevin uns in den Adelsstand ein, womit ich zusätzlich zum Nach- auch meinen Vornamen wechselte. Hernach waren wir an-dersweitig beschäftigt."
Und als säße Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg encore une fois als vierzehnjährige Austauschschülerin Jessica Kaiser in Japans elegantem Shinkansen von Osaka nach Tokio, sausten weitere Details aus Gelnhausens sakralem Kleinod gleichsam vor-beiflitzender Landschaften an ihr vorbei.
Wie er dummes Zeug schwallend neben der Kanzel stand. Wie er erneut anfing, sich langsam um die eigene Achse zu drehen, diesmal jedoch seine Perlenschnur wohlweislich gegen Un-schuldsblicke jener Ehegatten tauschend, welche frau soeben auf frischer Tat beim Verges-sen des Hochzeitstages ertappte. Rundes Nudelholz bereits dem Rücken nahe fühlend, brab-belte es trotz unübersehbarer Langeweile in der Zuhörerschaft schwer aus seinem Mund.
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"Ich will bei mir anheben und vor euch nun eine kleine Beichte tun. Gebt mir eine gute Abso-lution, die euch selbst nicht schadet.
Völlig unvermittelt verliert dieser Steppke seinen unschuldigen, kindlichen Tonfall. 180°-Wen-de. Knall auf Fall. Frontal von vorne blasender urgewaltiger, scheusslicher, bedrohlicher Hall treibt mich hilflosen Spielball vor sich her, weiter und weiter rückwärts, vergleichbar toben-den Orkanen, gegen deren Wände man trotz größter Anstrengung niemals gewinnt. Resignier-te Blicke überqueren diagonal die Fläche. Trotz heiterstem Sonnenschein zerdrückt mich un-heimliche, leere Atmosphäre. Ihre quetschende Last fühlte sich an wie zu Mitternacht, wenn der Teufel mit mir im Herzen eine Disputation anfängt. Wie er mir denn gar manche Nacht bit-ter und sauer genug machen kann.

OOOOOOOOHHHH, VIKAR UNSERES GELIEBTEN HERRN JESU CHRISTI, HÖRST DU MICH?????, droht es mir wiederum grausam fragend entgegen. Ich weiche vor dem brüllenden Wind wei-tere zwei, drei, vielleicht vier Schritte zurück. Dann! Etwas Schroffes berührt meinen Rücken. Willenlos, mechanisch dreht sich mein Körper herum.
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Höret Ihr's, Hochgelehrter!, sprach der Teufel.

Ich kreische meinen Todesschrei vorzeitig heraus.
Wisset Ihr auch, dass Ihr acht Monate lang habt fast jede Woche Gottesdienst gehalten. Wie wenn Ihr damit hättet eitel Abgötterei getrieben und nicht rechtmäßig das Evangelium gepre-digt, sondern eitel ein Buch angebetet und anderen zum Anbeten vorgehalten?
Ich antwortete: Bin ich doch ein rechtmäßig ordinierter Vikar, habe vor acht Monaten die Be-vollmächtigung zur Ausübung des Predigtamtes vom Probst empfangen, dazu solch alles sola fide und aus Verpflichtung auf die Reformation getan. Warum sollte ich nicht gepredigt haben, weil ich die Worte mit Ernst gesprochen und das Abendmahl mit aller möglicher Andacht ge-halten. Erst eben reichte ich den Jugendlichen Christi Leib und Blut, legte ihnen vorher auf der Kanzel dar, die Aufhebung der Seligentädter Benedikitinerabtei durch die Säkularisation 1803 sei klares Symbol dafür, dass die Herrschaft des Papsttums zu Rom bald endgültig ihr längst überfälliges Ende nimmt. Das weißt du fürwahr.
Ja, sprach er, es ist wahr. Aber die Türken und Heiden tun auch alles aus Glauben heraus und aus ernsthafter Verpflichtung, mancher Schamene in Patagonien sicherlich sogar aufrichtiger als einige auf der Kanzel. Wie, wenn deine Ordination, dein Predigen sowie Abendmahl feiern auch unchristlich und falsch wäre, weil das fürchterliche Papsttum zu Rom längst schon sein Ende gefunden, und damit Doktor Martin Luthers 95 Thesen folgerichtig ihrer Grundlage ent-behren?"
​
Brillentücher, wirklich eine lohnende Investition!, signalisierte Hauchen und Reiben des fündig gewordenen Prüfungsvorsitzernden.
"Hier brach mir wahrlich der Schweiß aus, und das Herz begann mir zu zittern und zu pochen. Diese Barockfigur wusste ihre Argumente wohl anzusetzen und mich wegzudrängen. Und sie hatte so eine schwere, starke Sprache. Und gehen solche Disputa..."
"OhGottfehltenderzufälligFingerundhattesiesoeinSchutzschilddabeiundsprachsiesowieeinstengerundfieserLehrerdertotalgerneine6gibt?"
"Ja, warum fragst du?"
"AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHH!!!!!!!"
"AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHH!!!!!!!"
"ALESSA MARIE!!!!! NOCH EINMAL, DANN KOMMT DIE WÄSCHEKLAMMER!!!!!"
"HERR VIKAR, ICH MUSS DOCH SEHR BITTEN!!!!!"
"Tschuldigung!"
"Tschuldigung!"
"Hast du damals auch seine Angestellten gesehen?"
"Nö! Welche meinen Sie?"
"Die an der Klostermauer medizinische Negativtests für Fährfahrten rüber nach Bayern aus-stellen."
"Hä?"
​
"Es war folgendermaßen: Trotz unsagbarer Ängste behielt ich selbstverständlich einen kühlen theologischen Kopf. Als Ordinierter bin ich ja schließlich nicht doof, lasse mir ungern ein X für ein U vormachen. Jeder kann behaupten, er sei der Leibhaftige. Bist du wirklich Satan, bewei-se es mir!, verlange ich darum von dem Wesen. Ooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, also will ich denn zu Seligenstadt unter den Augen von Sankt Petrus und Marcel-linus ein großes Zeichen geben. Begib dich zur Mainfähre. An der Klostermauer erwarten dich zum Fluss hin bereits zwei meiner Mitarbeiter, um dir einen negativen Gesundheitsnachweis für die Überfahrt in den Freistaat auszuhändigen. Gratis, versteht sich. He, pass gefälligst auf! Sobald die Fähre kurz vor dem Anlegen ist, rufe Folgendes: Fährmann, hol über!!!!! Hier, sieh den Negativtest!!!!! Ich trage das Virus nicht in mir!!!!!! Daraufhin werden er sowie Umstehen-de dich verspotten. Lass dich davon jedoch unter keinerlei Umständen beeindrucken, sondern gib ihnen selbstbewusst zur Antwort: Hört, es brechen arge Zeiten übers Land herein, in de-nen man bei Ein- und Ausreisen aktuelle negativen Gesundheitstest vorweisen muss. Ihr wer-det's schon noch erleben! Sollte ich irren, zieh frei weiter deiner Wege, wohin du magst. Sollte ich richtig liegen, kehre hierher zurück.
Mit solch ominösen Prophezeiungen entschwand die Skulptur. Meine erste einigermaßen ver-nünftige Gedankenreaktion: Bei dem piept's ja mächtig im Oberstübchen!!! Indessen gehorche ich, mehr aus Neugierde, ziehe los. Unglaublich. Am Mauerwerk halten mich zwei altmodisch anmutende Männer an. Ooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, stopp! Wa-rum so auffällig überstürtzt nach Bayern ohne obligatorischen Stempel? Wir sind ehrbare Fi-scherzunftsleut, amtlich damit beauf...

Schwätzt nicht viel um den heißen Brei rum, Gesellen, Butter bei die Fische, seh ich doch hin-ten im Sonnenschein die Fähre sich nähern!!! Mit Gottseidank vorgefertigtem amtlichen Doku-ment lege ich einen ziemlichen Zahn zu. FÄHRMANN, HOL ÜBER!!!!! HIER, SIEH DEN NEGATIV-TEST!!!!! ICH TRAGE DAS VIRUS NICHT IN MIR!!!!! Ungemütliches Lautsprechegetöse vibirert. MIR REICHT'S!!!!! DU SCHWIMMST RÜBER!!!!! KANNST DEINE FLOSSEN SCHON ANZIEHEN!!!!!

Logisches Fazit: Irgendetwas muss kommunikativ schiefgegangen sein. Ich hole für Versuch 2 abermals Luft, biegen sich weiter links Schaulustige vor Lachen. Seppel, geh her, lass mal die Penunzen rüberwachsen. Wusst's, da kimmt gleich sicher noch aaner gelaafe. Hier muss ir-gendwo'n Nest sein. Jede Wett', gleich faselt er über die Zukunft, was uns da blühen tut.
Logisches Fazit: Scheinbar bin ich nicht der einzige. Und das mit dem "Hört!" kann ich mir bei denen sparen.
Da sind Sie ja endlich, Herr Vikar!!!! Toll!!!!! Und wir beeilen uns extra!!!!!
Logisches Fazit: Vom Ursprungsplan her wolltest du eigentlich gar nicht nach Bayern.
Kommt, geht euch nochmal ein Eis holen, muss zum Teufel zurück!
Mit Isabells Ey, Leute, was ist denn mit deeeeem los? und Seppels Jupp, geh her, die Moneten kannste graad wieder rausrücken! im Hintergrund wiesele ich dem Mauertor zum Barockgar-ten entgegen. Kaum wieder drinnen, tönt die mir Furcht einflößende Stimme des Putten in ir-ritierender Weise hoch von rechts oben herab, eigentich ein Ding der Unmöglichkeit. Ooooooo-ooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, kommst du also von der Mainfähre hastig angekrochen, weil treffend ich zu dir spra..."
"OhGottdaskannnurdiesegoldeneKuppelfigurgewesenseinundbestimmthattesieIhnendabeiauchZetttelhinuntergeworfenstimmt's?"
"Ja, warum fragst du?"
"AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!"
"AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHH!!!!"
"ALESSA MARIE!!!!! ES REICHT!!!!! ENDGÜLTIG!!!! ALLERLETZTE WARNUNG!!!!! SIEHST DU, WIE ICH DIE WÄSCHEKLAMMER AUF UND ZU MACHE??????"
"HERR VIKAR!!!!! ZUM LETZTEN MAL, REISSEN SIE SICH HIER GEFÄLLIGST ZUSAMMEN!!!!!"
"Tschuldigung!"
"Tschuldigung! Aber die Kleine hat Recht! Ehe ich raufschauen konnte, flatterten mir unzähli-ge Textblätter wie gefärbtes Herbstlaub zu Füßen. Ich lese jedes einzelne Papier vom Weg und angrenzenden Beeten auf, beginne die abgedruckten Dokumente zu überfliegen, verfasst vom Papsttum zu Rom selbst beziehungsweise treuen Anhängern. Wichtige Passagen waren be-reits rot mit Leuchtmarker gekennzeichnet, zudem mit Pfeilen, Kringeln sowie handschrift-lichen Notizen versehen. Die Kirchturmuhr begleit dazu in länger werdenden Intervallen.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Viermal.
Fünfmal.
Immer unglaublichere, mir bis dato unbekannte Fakten.
Sechsmal.
Hahahahaha, ist aber noch nicht volle 10 Uhr!!!, spotte ich. Hat der Herr Papst kein Geld mehr für dringend benötigte Reparaturen?
Siebenmal.
Achtmal.
Neunmal.
Schonungsloser und schonungsloser treten die Ungeheuerlichen hervor ans Tageslicht.
Zehnmal.
Elfmal.
Zwölfmal.
Dreizehnmal.
Nanu, dreizehnmal? Na, die Mechanik ist wirklich total hinü...
HOHOHOHOHOHO! JETZT SCHLÄGT'S ABER 13!!!!!!!, johlen gefühlt sämtliche Teufel aus allen Ecken und Winkeln dazwischen.
Der damit verbundene, ohne Vorankündigung über mich Ahnungslosen hereinbrechende Höl-lenschreck durchzuckt mein Gehirn, reinigt es dabei wie ein Küchenbesen von Unwissenheit, öffnet den Weg zu vollkommener Erkenntnis. Mir geht unvermittelt ein Licht auf. So high müs-sen sich jene Hippies gefühlt haben, welche in Goa Erleuchtung fanden. Die heruntergefloge- nen Schriftstücke belegten ausnahmslos, bezeugten zweifelsfrei, dass sich das Papsttum auf dem letzten Konzil von seiner Jahrhunderte anwährenden Lehre hätt gravierend distanzieret, desweiteren der Nachfolger Petri mit Einführung des allgemeinverbindlichen Novus Ordo Mis-sae 1969 erbenlos abdankte, weil fortan Kardinäle, Bischöfe, Priester nimmermehr das heili-ge Sühnopfer konsekrieren, wie es unter den Papisten beim frommen lateinischen Messe Le-sen ja vorher tagtäglich Brauch gewesen."
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"Luther. Teufel. Barockfigur. Kuppelfigur. Da darf natürlich der Papst nicht fehlen. Mal ganz frei und offen unter uns: Satteln Sie beruflich rechtzeitig zum Geschichtenerzähler um, statt sich sinnlos zur 2. Kirchlichen Prüfung anzumelden. Fabulieren liegt Ihnen eindeutig eher. Fantasie haben Sie zur Genüge!", bemerkte der Oberkirchenrat, seine dicke schwarze Gelehrtenbrille sorgfältig auf den Erfolg des Polierens hin überprüfend.
Da warf sich der Gründer des Franziskanerordens vor der Kanzel demütig auf die Kniee, ver-goss händeringend heißeste Tränen, versuchte auf diese Weise bei seinem ihn von erhöhter Warte herab verächtlich musternden Gegenüber um Verständis zu werben. "Sie wissen doch, Luzifer versteht sich auf hinterhältigste Künste. Solche Disputationen mit ihm gehen nicht mit langen und vielen Bedenken zu, sondern ein Augenblick ist eine Antwort um die andere. Und ich habe da wohl erfahren wie es dadurch geschieht, dass man des Morgens die Leute tot in ihrem Bett findet. Er kann den Leib erwürgen. Das ist eines. Er kann aber auch den Seelen so bange machen mit Disputieren, dass sie ausfahren müssen in einem Augenblick; wie er es mir schon oft nahegebracht hat."
Jene letzten vier Sätze jammerte und heulte Franz von Assisi jedoch nicht, er zischte sie, und zwar dermaßen heftig, dass Frau Kaiser und Frau Müller sich gegenseitig schützend in ihre Arme nahmen, annnehmend, ein Dämon grolle wütend aus ihm. Danach ging das Wehklagen weiter.
​
"Nun hatte mich die goldene Kuppelfigur in dieser Disputation ergriffen. Und ich wollte ja nicht gerne für Gott einen solchen Haufen Gräuel auf mir lassen, sondern meine Unschuld verteidi-gen und hörte ihr zu, was es für Ursachen hätte gegen meine Ordination, mein Predigen und Abendmahl halten.
Erstens, sprach sie, du als erleuchteter Vikar weißt jetzt, dass du nicht richtig an Christus ge-glaubt hast, und daher vom Glauben her so gut wie ein Türke, Schamene, buddhistischer Bet-telmönch, Brahmane oder Kommunist bist.

Denn der Türke, der Schamane, der buddhistische Bettelmönch, der Brahmane, der Kommu- nist, ja, ich selber mit allen Teufeln wissen, dass das Papsttum zu Rom mit diesen Schriften seine alte Lehre hätt negiert. Und auch die andächtige Missa Tridentina fortgetan, womit der Nachfolger Christi seine ersatzlose Abdankung hätt freiwillig unterzeichnet, weil seither Kar-dinäle, Bischöfe, Priester nimmer das heilige Sühnopfer konsekrieren; und, jetzt pass auf, da-mit zugleich die Reformation überflüssig gemacht, überholt, antiquert, von anno dazumal, 95 gut gemeinte, nunmehr nutzlose Thesen, gebietet Christus doch seit jener papistischen Voll-versammlung längst nicht mehr zu Rom von seines Apostelnachfolgers Thron, die Cathedra Petri vielmehr gähnend leer und verwaist. Doch gegenteiligen Glauben hattest du und keinen anderen, als du ordiniert wurdest, Predigt hieltest und Abendmahl feiertest. Und alle anderen Ordinatoren und Ordinanten glauben auch also. Darum ihr euch auch vom Papst weg an Lut-her, Zwingli oder Calvin haltet, die müssen euer Trost und eure Nothelfer sein wider dessen römisches Amt. Das kannst du nicht leugnen, noch einige Papisten selbst. Darum bist du or-diniert, predigst, reichst das Abendmahl beiderlei Gestalt, jedoch als Heide, nicht als Christ. Wie kannst du denn reformatorisch predigen und's Abendmahl reichen, wenn du durch's Con-cilium nicht die Person bist, ja, gar nicht mehr sein kannst, die in Christo reformatorisch pre-digen und Abendmahl reichen soll?
Unter diesen ambossgleich schmetternden Schallwellen, tausendmal monsterhafter als die mächtigsten Kaventsmänner des Atlantiks und Pazifiks zusammen, breche ich hilflos zusam-men, wälze mich beide Ohröffnungen zuhaltend hin und her, will der teuflischen Disputation entkommen, beschließe, im historischen Stadtzentrum Schutz zu suchen, hoffe, Satan dort je-ne akustische Angriffsfläche nehmen zu können, welche er im weit angelegten Klostergarten- areal vorteilshaft nützt.
Unweit des Fähranlegers muss während des olympiareifen Spurts unbedingt eine Rast her. Bin vollkommen verausgabt, beobachte keuchend das Wasser. Da bemerke ich hinter mir hel-les, goldenes Schimmern. Alles geht rasend schnell. Zwei unglaublich starke Metallpranken umschrauben rücklings meinen Hals, während dutzende, hunderte, tausende Teufel mittels eines spitzen, tief in den linken Gehörgang gedrückten Blasebalgs ihre Legionen Lügen über Luzifers Rede zusammengebündelt ins Innere pressen; oder um es mit Johannes Bugenha-gen lateinisch auszudrücken, mendacium Sathanae ex doctrinis daemoniorum. Ohne Unter-lass bläst es, ach, um alles in der Welt würde ich das grausame Folterinstrument gerne he-rausziehen, doch müssen sich zehn Finger ja tapfer mörderischen Klauen erwehren.
​
Zum anderen. So bist du ordinierter Vikar und hast gepredigt und Abendmahl gehalten wider die Ordnung Christi. Denn Christi Meinung ist, man soll predigen und Gottesdienste also ab-halten, dass es für seine Christen zum Nutzen - und nicht überflüssig ist.

Denn ein Geistlicher soll sein ein nützlicher Diener der Kirchen, dass er nicht nach überflüssig gewordener Lehre die Sakramente austeile und predige, wie das alles die Worte Christi beim Abendmahl und in 1 Korinther 11 fordern. Nun hast du wider solche Meinung Christi die 8 Mo-nate lang gepredigt und die Sakramente ausgeteilt. Ja, es wäre dir in der Pfarrerausbildung auch verboten gewesen, etwas anderes zu behaupten. Was ist das nun für eine Ordination und Abendmahl? Was bist du für ein Vikar gewesen, der du Überflüssiges getan und nicht der Kir-che zum nützlichen Diener ordiniert bist? Von solcher Ordination weiß Christus nichts. Das ist gewiss."
Und wie für Frau Kaiser, Frau Müller sowie alle Anwesenden naheliegend damals im Mai 2016 der Teufel am Seligenstädter Mainufer per warnendem Zudrücken die Macht seiner Lehre de-monstriert haben musste, fasste sich der Vikar beidhändig an den Hals, schluckte totenblass ums Leben - bis er angesichts ihn umgebender Körpersprachen gewahrte, durch veranschau- lichende theatralische Darbietungen hier mit Sicherheit kein geneigteres Auditorium zu be-kommen.
"Dann jener grundlegende darwinistische Motivationsantrieb im menschlichen Tier: Überlebe! Wie beim Survival-Training. Irgendwie reflexartig gelingt die rettende Befreiung aus dem teuf-lischen Würgegriff."
Höchstleistung! Gratulation! Nur so konnte man die nonverbale Kommunikation des Prüfungs-vorsitzenden deuten: auf die Kanzel gestützt, anerkennungsvoll, möglicherweise gar ein biss-chen neidisch das Gesicht nach unten gesenkt.
"Hallo, Herr Vikar, ruft Tim amüsiert, während ich am Eisladen vorbeihetze, ist der Teufel hin-ter Ihnen her? Ich rufe: Erklär ich euch später, könnt ruhig noch ein Drittes holen!
Endlich. Seligenstadts Altstadt. Ihr Fachwerkensemble schützt eindeutig effektiver vor dämo-nischen Schallangriffen, hier können Belial und seine Unterteufel nichts großartig ausrichten. Außerdem findet zu meinem Glück Wochenmarkt statt. Überall Leute. Ils n'oseront pas!
​
Zum Dritten!, fährt mir synchrones, ohrenbetäubendes Aufkreischen sämtlicher Insassen ei-ner endlosen, vollbesetzten Super-Achterbahn in Mark und Bein, deren Wagen am Marktplatz unaufhörlich oben zwischen zwei Dachgiebeln nach 200 Metern freien Falles ungebremst her-vorschießen, fast mein Trommelfell platzen lassend in einer brutalen Abwärtsrechtskurve um mich herumrasen und zur Wiederholung des Höllentripps sofort wieder hinaufsausen.

Christi Meinug ist, dass man beim Sakrament solle von ihm und seinem Tod nützlich predigen und öffentlich bekennen wie er spricht. Dies tut zu meinem Gedächtnis. Das ist verkündigt, wie Sankt Paulus spricht, meinen Tod bis ich komme. Aber du, Gottesdiensthalter, hast weder sein Wort nützlich gepredigt noch Christum bekannt in allen deinen Gottesdiensten. Längst völlig überholt hast du die Sakramente ausgeteilt. Längst völlig überholt hast du gepredigt. Heisst das, die Meinung Christi gehalten? Heisst das, ein rechter Vikar sein? Ist das die Ordi-nation? Hast du so dein Predigtamt und Ordination empfangen und ausgeübt?
​
Ich weiß wirklich nicht wie, doch es gelingt mir halbtaub die Flucht, taumele von Marktstand zu Marktstand. Verstehe: Der braucht einen Arzt! Entgegne: Oh, ihr Narren, ihr wisst nicht! Ich schaue auf. Vernehme gellende Warnpfiffe eines von vorne zwischen zwei Hauswänden direkt über mich hinwegkrachenden Güterzuges. 130 Km/h. Mindestens. Wenn nicht mehr. Er hört und hört nicht auf. Unerträgliches Lärmen tonnenschwer beladener Kohlenwagen zerfetzt mir disputierend das übrig gebliebene Hörvermögen.
Zum Vierten. Christi Meinung ist, das solle ein gemeinsames nützliches Sakrament sein, das längst Überholte den anderen Christen mitzuteilen. Aber du bist ordiniert, dass du es sollst weiterhin mit Luther, Zwingli oder Calvin halten - und nicht das längst verschwundene Papst-tum erkennen. Wie die Worte bei deiner Ordination ja zumindest sinngemäß lauteten, als man dir die Hände auflegte und dich zum Vikar ordinierte.

Das mag mir eine verkehrte Ordination heißen, dass du als Ordinierter gegen Christi Meinung predigst und Abendmahl hältst. Die erfreulicherweise vom Erdboden verschlungene Papstty- rannei soll doch gemeinsames Wissen aller sein, von Gott durchs Predigtamt den Christen zu erklären verordnet. Oh, Gräuel über Gräuel!
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Tatüütataa!, geht das Martinshorn. Der Notarzt ist schon da!, ruft einer. Thomas, jetzt Beine in die Hand nehmen! Er will abhauen, haltet ihn fest! Stante pede türme ich durch Seitengassen versus Main, erreiche das Ufer, wo stromaufwärts ein Schiff ebenfalls schnauft. Ohne Fliehen-den wenigstens fünf Minuten Pause zu gönnen, zwingt mich infernalisch stampfender Schiffs-motor, welcher sich sekündlich mit brüllenden Fauchen einer Tsunami gleichen Bugwelle ab-wechselt, in Disputationsrunde 5.
Zum fünften ist Christi Meinung, wie gesagt, dass man nützlich und nicht überflüssig das Sak-rament solle der Gemeinde Christi austeilen, ihren Glauben zu stärken und Christum zu loben, offensichtlich. Du aber hast längst Überholtes weitergeführt, es dir auf deine eigene Fahne ge-schrieben, im Gottesdienst und in Jugendgruppen dein eigenes Werk daraus gemacht, dass dein sei und zu dem du stehst. Und solchen Humbug, es gäbe das Papsttum zu Rom noch, an-deren für monatliches Salär mitgeteilt. Was kannst du hier leugnen?

Wozu bist du nun ordiniert, der du keinen rechten Glauben gehabt hast, dazu wider alle Ord-nung und Meinung Christi ordiniert bist? Zum Überflüssiges tuenden Vikar, nicht zum richtig handelnden Kirchen-Ordinierten. Du, der du längst überholt das Sakrament gereicht, gepre-digt und überhaupt gar nichts getan hast, warum es Christus eingesetzt hat, sondern das ge-naue Gegenteil davon. Du bist schlecht gegen Christus ordiniert, zu tun alles, was gegen ihn ist. Bist du aber gegen Christus ordiniert, ist deine Ordination gewisslich falsch, widerchrist- lich und lauter Nichts. Darum hast du auch gewisslich nicht nach Christi Meinung gehandelt, sondern überflüssige Worte über deine Lippen kommen lassen und diese anderen zu glauben vorgetragen.
An dieser Stelle stockte Luzifers hämmerndes Brausen kurzzeitig. Dann fuhr seine liebliche Domspatzenstimme fort: Oooooooooooohhhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, wie gerne würde ich dir wie damals Luther noch mehr erzählen! Mein untrügerischer Sinn emp-fiehlt jedoch, dass du langsam aber sicher das Weite suchen solltest. Nimm den Weg entlang der Klostermauer zurück zum Bus, wo deine Jugendgruppe bereits sauer wartet. Tust du wie geraten, wird man dich nicht finden.
Da brach wieder die Höllenangst vor dem Verlassenwerden wie stockfinstere Nacht über mich herein. Weil sich aber das Schiff mehr und mehr entfernte, wusste ich keinen anderen Rat, als meine seelische Verzweiflung in den Himmel über mir hinaufzuschreien: DU KANNST MICH DOCH NICHT HIER HALBINFORMIERT ZURÜCKLASSEN!!!!! WAS IST DENN JETZT GENAU MIT DEM PAPSTUM????? JEDER KONDIRMAND, JEDE KONFIRMANDIN WEISS, DASS DU EIN LÜG-NER BIST!!!!! Da...da...da...da...da...da...da..."
"Wir sind hier nicht im Dadaismus!", schaltete sich hinlänglich bekannter Pastor ein.
"Da...da...sah ich Satans wolkenartige Totenkopffratze gemächlich zum Himmel auffahren."

Den tief vorgebeugten Kopf auf dem Kanzelrand interessiert in seine Arme vergraben, lausch-te der Prüfungsleiter sensationsgierig weiter.
"Ooooooooooohhh, Vikar unseres geliebten Herrn Jesu Christi, höre gut zu, was ich dir nun sa-ge!, tönt Luzifer wie im schlimmsten Albtraum zu mir ans Mainufer. Du wirst Zeuge einer glo-balen Pandemie ungeahnten Ausmaßes sein. Eine fürchterliche Krise, Dimensionen wie sie Deutschland seit Ende des 2. Weltkrieges nicht mehr erlebt hat. Über Nacht kollabiert der in-ternationale Flugverkehr, sogar EU-Innengrenzen werden geschlossen, Reisende weltweit ir-gendwo stranden, Gottesdienste anfänglich verboten, Teilnahmen später nur gegen Voranmel- dung gestattet. Bis auf systemrelevante Bereiche wird alles dicht sein, menschlicher Alltag fortan von Maßnahmen und Regeln bestimmt, die sich an aktuellen Inzidenzzahlen orientie- ren. Wenn das geschieht, Vikar, wenn der erste Lockdown startet, verzweifle nicht, ich habe es dir vorausgesagt. An diesem Wunderzeichen wirst du erkennen, dass ich einst zu Seligenstadt am Main zu Recht als Sieger aus unserer Disputation heraugegangen bin. Auf den Blättern, welche ich herunterregnen ließ, findest du Kontaktadressen. Leb wohl! Und merke dir jenes Wort Lockdown gut! Das Wolkenengebilde verflog. Damit endete unsere Disputation vorzeitig, und ich gewann eilig Land."
"So wie an dieser Stelle Ihr lausiges Schauspiel endet. Lassen Sie es sich klipp und klar ge-sagt sein: Sie sind eine erbärmliche Schande für die Reformation! Martin dermaßen zu verra- ten, schämen Sie Judas Ischariot sich eigentlich gar nicht? In Gegenwart dringend im Glauben gestärkt werden müssender Teenager solch hahnebüchenen Unsinn zu verzapfen, Sie sind ja nicht mehr klar bei Trost!!!!!"
Ach, ehe Bernhardette Constanze Amalia es vergaß. Der Gemaßregelte begann daraufin allen Ernstes, statt demütig Einsicht zu zeigen, reumütig um Vergebung zu bitten, den Inhalt seiner Beichte coram publicum zu rechtfertigen.
"Ich weiß. Da werden die anständigen Pietisten meiner spotten und sagen: Bist du der große ordinierte Vikar und kannst dem Teufel nicht antworten? Weißt du nicht, dass er ein Lügner ist? Dank habt, liebe Damen und Herren für eure tröstliche Absolution und Antwort. Denn das hätte nicht gewusst, dass der Teufel ein Lüg..."
"Kraft meiner Befugnis als Prüfungsvorsitzender schließe ich Sie hiermit unehrenhaft aus der Kommission aus. Ohnehin war mir schleierhaft, warum man uns jemanden ohne Pfarrerexa-men unterjubeln wollte. Ausgerechnet einen Azubi! Da müssen irgendwo Fehler unterlaufen sein. RAUS!!!!! ABER SCHNELL!!!!! EHE ICH MICH VERGESSE!!!!! SIE UND IHR PAPISTISCHER KRAM, SIE!!!!! SO ETWAS WIE HEUTE IST MIR IN MEINER GESAMTEN KIRCHLICHEN LAUFBAHN NOCH NICHT UNTERGEKOMMEN!!!!!"
​
Mit einem Mal tat er ihr so unendlich leid. Wortlos, gedemütigt, niedergeschlagen nahm Zur-baráns Kopie den Koffer, schlurfte wie ein armer Tropf zum südlichen Seitenausgang.
Manchen offensichtlich nicht flott genug. Sich durch des Oberkirchenrates Äußerungen dahin-gehend befleißigt fühlend, dem Bärtigen bei dessen Landgewinnung behilflich zu sein sowie ihm draußen fein Gesellschaft zu leisten, stürmte Ann-Kathrins glaubeneifriger Vater mit weit hochgekrempelten Hemdsärmeln heran. "Naaaaa waaaarte, Freundchen!" Herr Müller, krebs-rot angelaufen, bebte vor Zorn. "Das klären wir gleich unter Männern!"
Dann begab sich etwas, was Bernhardette Constanze Aamlia bis ans Lebensende nie, nie, nie, nie, nie, nie vergessen würde. Gerade wollte er ihn am Schlafittchen packen, posaunte Prin-zessin Altklug von Neuem los. "Öhm...sagen Sie...ist unsere Prüfung überhaupt gültig?"
"Wie meinst du das?", reagierte der Angesprochene irritiert, ehe Frau Kaiser mit ALESSA MA-RIE! WIRKLICH ALLERLETZTE WARNUNG! DENK AN DIE WÄSCHEKLAMMER! dazwischenge- hen konnte. "Na ja, ich sehe halt gerade, dass Sie unerlaubt auf der Kanzel stehen. Steht doch unten hinter Ihnen geschrieben!" Perplex wandte sich der Vorsitzende bückend um, langte hin. Anmoniert. Wohl oder übel stieg er drüber hinweg, wiederholte seine Bückdrehung. Las durch etliche Dioptrien hindurch:

Ebenso bis an ihr Lebensende würde Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Mün-zenberg folgenden Bibeleid ablegen: "Ich schwöre, dass jener Hinweis bis vor wenigen Sekun-den nicht da angebracht war. So wahr mir Gott helfe!" Hatte sie von erniedrigender Sitzgele- genheit aus die Kanzel rückseitig ja von Anbeginn ideal im Fadenkreuz gehabt. Da war wirk-lich nichts gewesen. Nichts! Abolut nichts!
Prompt kam der Zelot angesprungen. Dann überboten sich diverse Akteure an lautstarken Ar-tikulationen, riefen derart wild über die Köpfe hinweg durcheinander, sodass von ihren Sätzen überwiegend Wortfetzen vernehmbar waren, von Alttestamentlern zweifelsohne als Art neu-babylonische Sprachverwirrung ausgelegt. Deren - sofern akustisch vollständig aufschapp- bar - einprägsamste Satzgebilde vermochte Hanau-Münzenbergs absolutistisch schalten und waltende Regentin nahe Marie Antoinettes Schafott originalgetreu zu rekonstruieren.
"ICH SAG'S IHNEN NOCH EINMAL: SIE HABEN GEGEN EINEN KIRCHENVORSTANDSBESCHLUSS VERSTOSSEN! ERKÄREN SIE SICH!"
"SEI DOCH ENDLICH STILL, BERND! SPIEL DICH NICHT IMMER SO AUF!"
"HANS! RUF AM BESTEN MAL DEN PETER AN!"
"ZUM LETZTEN MAL: BEIM BESTEIGEN DER KANZEL STAND DAS VORHIN NOCH NICHT DA! ICH BIN DOCH NICHT BLÖD!!!!!!!"
"HOHOHOHOHOHOHOOOO! DOKTOR MARTIN LUTHER HAT MICH AUF DER WARTBURG MIT DEM TINTENFALSS VERFEHLT!"
"DAS WERDE ICH DER KIRCHENLEITUNG MELDEN, DARAUF KÖNNEN SIE SICH VERLASSEN!"
"GEHT KEINER RAN! HAST DU DIE NUMMER VOM HELMUT?"
"IIIIIIIIIIHHHH, GEORG, DIESE STIMME LÄSST EINEM JA DAS BLUT IN DEN ADERN GERIEREN!"
"ICH...ICH...ICH...WUSSTE, DU BIST HIER! ZEIGE DICH, SATAN!"
"RUUUUUUUHHHEEEEEE!!!!!!!!!"
"MIT WEM REDET ER?"
"HOHOHOHOHOHO! LASST EUCH NUR NICHT ERZÄHLEN, ER HÄTTE GETROFFEN! ANSONSTEN VERLANGT EUER EINTRITTSGELD ZURÜCK!"
"RUUUUUUUUUUUUUUUHHHHHHHHEEEEEEEEEEEE!!!!!!!!!!!"
"WER IST DAS?"
"ACHTUNG, ALLE ZUHÖREN! DER ALTBÖSE FEIND SCHEINT GERADE UNTER UNS ZU WEILEN. ER WILL UNS IN EIN GESPRÄCH VERWICKLEN, DAS IST SEINE TAKTIK! NICHT DARAUF EINGE- HEN!!!!!!! NOCHMAL: NICHT DARAUF EINGEHEN!!!!!!! ES IST DER AFFE GOTTES, DER ZU EUCH SPRICHT!!!!!!!!!!"
"BERND!!!!!!!!!!!!"
"SEI STILL, CAROLA!!!!!!!!"
"VERENA! MARA! SANDRA! IHR LEGT DRAUSSEN IM BUS MEINE MESSGEWÄNDER ZURECHT! LITURGISCHE FARBE WEISS! ANJA! RONJA! IHR GEBT DEN JUNGS IHRE MINISTRANTENKLEI- DUNG! MARKUS, DU NIMMST AUS MEINEM KOFFER KELCH, PATENE UND HOSTIENGEFÄSS, BRINGST ALLES ZUM HOCHLALTER, DANN KOMMST DU NACH! AUF, AUF, LEUTE, FÜNF MINU-TEN, ZEIGT, WAS IHR GELERNT HABT!"
"KEINE DISKUSSION MIT DIESER STIMME ANFANGEN!!!!! DAS IST SATANS LIST!!!!!"
"FEHLANZEIGE, DER HELMUT HAT URLAUB!"
"PROBIER'S HALT BEIM BERNHARD!"
"SEHT, DER PAPST HAT IHM AUS ROM JUNGE HELFERSHELFER MITGESCHICKT!"
"UND WENN SCHON, IHREN EINTRITT KRIEGEN SIE EH NICHT WIEDER!"
"PAPIIIIIII!!!!!!! ICH WILL DAS JETZT ABER WISSEN, OB DER TEUFEL HIER IST!!!!! ICH WILL DAS JETZT WISSEN!!!!!!!"
"ALLES NAIVE JUGENDLICHE, UNFASSBAR! DAS PAPSTTUM SCHRECKT WIRKLICH VOR GAR NICHTS ZURÜCK!"
"IHR JUNGS UND MÄDCHEN SETZT EUCH AUF DER STELLE WIEDER HIN! HINSETZEN!!!!!"
"MEINE GÜTE, DANN GEBE ICH IHNEN EBEN IHRE 12,50 EURO!"
"DIE HÖREN ÜBERHAUPT NICHT, WENN MAN IHNEN WAS SAGT!!!!!"
"ICH HATT'S DOCH VORHIN GLEICH GEAHNT, DER PAPST WILL 2017 UNSERE REFORMATION SPALTEN!!!!"
"ICH WILL ABER!!! ICH WILL ABER!!! ICH WILL, ICH WILL, ICH WILL!!!!!"
"NEIN, DER PAPST KANN ES NICHT GEWESEN SEIN, DER TEUFEL HAT IHM DOCH ERKLÄRT, ES GIBT KEINEN PAPST MEHR!"
"SÖREN, HIER NIMM DIE SCHELLEN FÜR DIE WANDLUNG UND DIE MÄCHTIGEN TEUFELVER-TREIBENDEN RELIQUIEN DER HEILIGEN MARIA, UND TOBIAS, DU DAS MESSBUCH!"
"NIE WIEDER WARTBURG! NIE WIEDER!!!!!"
"NEIN, KEIN RAUCHFASS HEUTE!"
"IMMER MEHR STEHEN AUF! WIE VIELE SOLDATEN GAB IHM DER VATIKAN DENN NOCH?"
"TAUSEND DANK, HERR VIKAR, DASS SIE UNS IM GLAUBENSKURS DIE AUGEN ÖFFNETEN!"
"ER...ER...ER...ER...HAT UNBESCHOLTENE ZU PAPISTEN GEMACHT!"
"DUUUUUUU RATTENFÄNGER! ICH HAUUUUUU DIR JETZT SOOOOOOO WAS..."
"BERND! SOFORT ZU MIR IN DIE KIRCHENBANK! WAS SOLL ANN-KATHRIN VON DIR DENKEN?"
"ABER WER SOLL FRANZIKSUS DENN DANN SONST SEIN IN ROM?"
"AAAAAAAAAAAAAHHHH!"
"BERUHIGE DICH ENDLICH, BERND! DU WEISST, WAS DER DOKTOR DAUERND SAGT. DENK AN DEIN HERZ!"
"ES IST ZUM HAARERAUFEN, KRIEGST KEINEN ANS TELEFON. FERIENZEIT!"
"UND WAS, WENN DER DÄMON IN SELIGENSTADT RICHTIG LAG?"
"SCHON, NUR DIE ANGEBLICHE KRISE FEHLT!"
"ABER ER KANN DOCH JETZT IM CHOR NICHT EINFACH SO GÖTZENDIENST BETREIBEN!"
"HANS, KOMM, LASS IHN MACHEN. WENN ICH SEINEN STUSS RICHTIG VERSTEHE, IST ER JA TROTZ ALLEDEM WEITERHIN GEGEN DEN PAPST! DAS IST DIE HAUPTSACHE UND GUTE RE-FORMATORISCHE LEHRE!"
"HAAALLOOOOOOO! MÜSSEN WIR HIER EIGENTICH VERSAUERN? ES NERVT!"
"ALESSA MARIE! JETZT KOMME ICH ABER WIRKLICH MIT DER WÄSCHEKLAMMER!"
"SEHT, SIE ZIEHEN ALS PAPISTEN VERKLEIDET IN DIE KIRCHE EIN!"
"MAMI, WARUM HÄLTST DU MIR DIE AUGEN ZU?"
"UNSER WACKERER HEROE MARTIN LUTHER, ER LEBE HOCH!"
"HOCH! HOCH!"
"WIDER DAS PAPSTTUM ZU ROM!"
"VOM TEUFEL GESTIFTET!"
"EIN SKANDAL OHNEGLEICHEN!!! IHR TATENLOSES ZUSEHEN WIRD SIE DEN JOB KOSTEN, DA-FÜR SORGE ICH!"
"DA! JETZT DURCHSCHREITEN ER UND SEINE KUMPANEN DEN LETTNER!"
Allzu gerne hätten Frau Kaiser und Frau Müller, andere sicherlich ebenfalls, jetzt im Chorraum leise Mäuschen gespielt. Herr Müller hingegen torpedierte solche Absichten durch rechtzeiti- ges Andienen beim Kirchenzuchtskollegium bravourös. Wie Vorfeldpersonal auf Position rol-lende Flugzeuge korrekt einweist, wies Winker Bernd den Besuchern als frisch ernannter Se-curitymitarbeiter das Südportal, für tumbe Laien unmöglich alleine zu finden. "Bewahren Sie Ruhe! Das Gräuel beginnt! Alle geordnet die Kirche verlassen! Frauen und Kinder zuerst! Nicht stehenbleiben, zügig weitergehen!!! Zügig weitergehen!!! Jeweils zwei und zwei, wie vom Auf-stellplatz ins Schulgebäude!"
Auch der Sängerknabe verabschiedete sich mit einer kleinen Zugabe: "Ooooooohhh, Vikar un-seres geliebten Herrn Jesu Christi, ich sehe zu meiner Freude, aus dir einen waschechten Lut-heraner gemacht zu haben! So lebt denn alle wohl!"
Elf Kommissionsmitglieder hingegen folgten umgehend hintendrein. Bestimmt würden sie mit wachsamenen Argusaugen der Zeremonie argwöhnisch beiwohnen, penibel notieren, fotogra-fieren, um Beweismittel zu sammeln.
​
Frau Kaiser, Alessa Marie, Frau Müller und Ann-Kathrin veließen die Marienkirche als letzte. Stimmt, ja, sie selbst drehte ich nochmal für kurz um. Wuchtigen Schlages hatte Bernd, Profi von der Security, das Kirchenportal fachmännisch geschlossen.

Somit blieben ihnen dank security man Bernds pelikanartigem Vorpreschen abschließend le-diglich inhaltsleere Vorstellungen darüber, was sich parallel am mittelelalterlichen Marienal-tar liturgisch zutragen könnte.

"Na, das hat sich für uns ja wirklich gelohnt", meinte Frau Müller im Weitergehen hörbar ver-ärgert, "und dafür sind wir extra aus Bebra angereist. Mit zwei Übernachtungen! Alles für die Katz! Gerade jetzt zur Reisezeit, wo Benzin typischerweise exorbitante Preise erreicht!"
"Oh, Bebra, das ist aber wirklich weit weg" , antwortete Frau Kaiser, "wir kommen aus Hanau."
"Ach, Hanau, hübsch, dann wohnen Sie ja praktisch um's Eck!"
"Siehste, Mami, hab ich dir doch gleich gesagt. Kann jedem mal passieren, vom Teufel gelinkt zu werden. Da brauchst du doch nicht gleich eine Glaubensprüfung! Und das miiiiiiitten in den Sommerferien. Echt super! Nur weil Papi wollte!"
"Ann-Kathrin, bitte!"
"Ist doch wahr, Mami!"
"Siehste, Mami, sie denkt genau dasselbe! Voll der Griff ins Klo!"
"Alessa Marie, bitte!"
"Ist doch wahr, Mami! Voll der Reinfall!"
"Für das Auftreten meines Mannes möchte ich mich übrigens noch entschuldigen. Bernd neigt leider bisweilen zum Hitzkopf. Kenne ihn nicht anders!"
"Kein Problem, er hat nur seine Pflicht getan. Was macht Ihr Mann eigentlich beruflich?"
"Geschäftsführer im Pharmabereich. Verdient ausgesprochen gut. Und Ihrer?"
"Ursprünglich gelernter Krankenpfleger, agiert auf Youtube erfolgreich als Graf. Bespricht der-zeit im Mannheimer Schloss drei neue Videos."
"Ach, auch sehr schön! Halt...warten Sie...Ihr Gesicht...doch nicht etwa DER Graf mit seiner Fa-milie? Ich schaue mir jede Folge an. Und Ihre wunderschönen Kostüme, da gerät man immer sooooo ins Schwärmen. Dazu vornehmes Französisch. Als ob es den Versailler Hof tatsächlich noch gäbe. Verblüffend authentisch. Und Sie sind richtige Influencer?"
"Dooooch, genau DER Graf. In Mannheim drehen wir. Übrigens Europas größte Schlossanlage, wussten Sie das?"
"Verrückt, und ich dachte stets, Versailles."
"Denkt jeder. Ich heiße übrigens Jessica. Wollen wir nicht lieber "du" zueinander sagen?"
"Danke, sehr gerne. Bin die Carola."
​
Daraufhin schlenderten zwei Mutter-Tochter-Gespanne, für nichts und wieder nichts in Geln-hausen gelandet, schwatzend nördlich um dessen imposante Sehenswürdigkeit herum, vorbei am Chor. "Guckst du auch dauernd ängstlich nach oben?", wollte Jessica wissen.

"Nicht für verrückt halten, aber ich musste mich vergewissern, ob da oben vielleicht Gestalten lauern. Ich musste einfach. Zeitgleich überfiel mich beklemmende Angst, die Turmuhr schlüge jeden Augenblick 13. Was ist bloß mit mir los?"
"Überhaupt nicht verrückt", entgegnete Bernds Ehefrau solidarisch, "mir geht's genauso. Die-ser Vikar war richtig gruselig. Eine Krise! Eine Krise! Merk dir jetzt schon eins, Ann-Kathrin, wenn du uns einen Verschwörungsheini anschleppst, ist sofort Schluss!" Beiden Frauen hak-ten sich Mut machend ein. "Ich finde, wir sollten nach diesem Schrecken erstmal in einem ge-mütlichen Restaurant einkehren, einverstanden?", schlug Carola vor. Keine widersprach.
Also begab sich das Damenquartett auf die Suche nach sonnigen Außentischen. Dabei sahen vom Untermarkt alle nochmal zur beeindruckend thronenden Marienkirche. "Weißt du, Caro, mich macht äußerst stutzig", bemerkte Jessica kritisch, "dass man uns keinerlei Stillschwei-geerklärung unterschreiben ließ. Läge in deren Interesse doch nahe."

"Ich tippe mal, Jessi, Hans spekuliert ganz einfach, dass uns diese Story sowieso niemand ab-nimmt. Ohnehin war der Gottesdienst als Rahmen des Glaubensexamens für die Öffentlichkeit unzugänglich. Allein Prüflinge nebst engsten Familienangehörigen durften daran teilnehmen. Und die vom Vikar eingeschleusten Teenies. Eine zentrale Veranstaltung auf Landeskirchen-ebene. Ausnahmslos Auswärtige."
"Okeeee...sprich, ohne hiesige Zeugen."
"Was denkst du, wie morgen Verwandte, Freunde und Bekannte in Bebra reagieren, wenn wir ihnen DAS berichten. Die fühlen sich doch glatt veräppelt."
"Stimme dir voll und ganz zu. Verständlich. Dürfte mir in Hanau kaum anders ergehen.
"Hans setzt alles auf eine Karte, bevor die Lehrbeanstandung unangenehme Fragen stellt."
"Wir Frauen besitzen leider oft zu viel Fantasie. Selbst wirklich ganz normale Prüfungsgottes- dienste muss unsereins in wirre Geschichten umwandeln."
"Ach, wir Frauen halt. Sonst wäre es auch furchtbar langweilig."
"Ja, wir Frauen immer."
​
Nach ausgiebigem Genuss diverser kulinarischer Leckereien trennten sich vor dem Lokal vor-erst die Wege der neuen besten Freundinnen.
"Na dann, Caro, macht's mal gut. Euch noch einen wunderschönen Aufenthalt in Gelnhausen."
"Ich sag dir, Jessi, das ist sooooooo eine schnuckelige Stadt. Mal sehen, ob ich Bernd zu einer dritten oder vierten Nacht überreden kann. Dann macht's auch gut. Wir telefonieren."
"Auf jeden Fall. Und fahr vorsichtig. Tschüssi!"
"Sei unbesorgt. Nie mehr als 120. Tschüssi!"
"Ebenso. Sicherheit geht vor. Tschüssi!"
Und als kurz darauf Ex-Fremdsprachenkorrespondentin Jessica, welche dank des aus Fortu-nas goldenem Füllhorn auf den Herrn Gemahl, Ex-Krankenpfleger Dennis Kevin, niederge-prasselten Eutojackpot-Geldregens arbeiten ebenfalls für ihrer beider zutiefst unwürdig er-achtete, samt Anhang im August 2017 die recht abschüssige Schmidtgasse hinunter lief, ge-sellte sich zu jener Carola gegenüber geäußerten Verwunderung eine zweite hinzu; jene näm-lich, welche Bernhardette Constanze Amalia soeben beim Rückweg von der Place de la Con-corde durchs adlige Köpfchen huschte. Comtesse hielt inne, spähte zur Residenz, deren Fas-sade teils im Schatten lag, teils im Morgenlicht leuchtete.

"Hm, am meisten erstaunt jedoch an diesem merkwürdigen Augusttag meine noch wesentlich merkwürdigere, spontan eingetretene, unerklärliche Fähigkeit, als Hellseherin exakt zu erken-nen, wie ich am 16. Oktober 2019, morgens, entlang Schloss Philippsruhs vorderem Spring-brunnen, gefolgt von vier Hofdamen, gewisse, seit 2015 unser Familienleben prägende Bege-benheiten, von kleineren Abweichungen wie etwa ein nunmehr leeres Kircheninnere abgese-hen, fotografisch präzise, in großen Bereichen sogar wortwörtlich ins Gedächtnis rufe", grü-belte Jessica Kaiser zum vom Pflasterstein hallenden Staccato schmucker Absätze. "Aber wie soll das bloß geschehen bei einer, die mit dem Auswendiglernen schon als Schülerin unend- lich viel Mühe gehabt hatte?"
​
"Bei mir ist eben kein Ding unmöglich - weil ich das Licht bringe!"

Acht entsetzt aufgerissene, extremst beunruhigte Augen fixierten die Gräfin von Hanau-Mün-zenberg.
"Wir sollten wirklich dringend den Arzt rufen, Bernhardette!" Chantal rang um Fassung. "Dein Gekreische hörte man garantiert bis rauf zur Hohen Tanne! Was um Gottes Willen ist los mit dir? Bitte, bitte, sag's uns, wir hatten eben wirklich Angst um dich!!!!!"
"Meine Güte! Irrational! Ich muss total abgedriftet sein!" Bernhardette Constanze Amalia wirk-te innerlich völlig fertig. "Nur einer meiner regelmäßigen schlechten Tagträume seit dem vor-zeitig abgebrochenen Diziplinarverfahren", beschwichtigte sie. "Haltet euch fest. Ich spaziere wie damals als frühere Frau Kaiser mit Alessa Marie die Gelnhausener Schmidtgasse zurück Richtung Parkplatz. Plötzlich prophezeien höchst unglaubwürdige Visionen, dass ich mich ge-nau heute darüber wundern werde, einschlägige Ereignisverläufe visuell überwiegend punkt-genau, darüber hinaus weithingehend sogar wortwörtlich memorieren zu können. Was histo-risch allerdings unzutreffend ist, in der Schmidtgasse plagten uns angesichts derart massiver Zeitverplemperung wichtigere Sorgen. Bilderwirrwarr entsteht. Dabei rutsche ich tief ins un-ergründliche, dumpfe Reich des Unbewusstsen, stehe gleichsam Zurbaráns Franz von Assisi 2016 an Seligenstadts Mainufer. Grell im Sonnenschein strahlend setzt von drüben die Fähre über, darauf ein mir abgewandter Passagier in weinroter Jacke. Das exzellente Erinnerungs-vermögen, schallt der zur vom Kraftwerk aufsteigenden Wolkensäule schauende unheimliche Unbekannte, rühre davon, weil er das Licht bringt."
"Ach, deswegen dein WER BIST DU??? ZEIG DEIN GESICHT!!!", resümierte Hofdame Veronique.
"Worauf jene Gestalt erwidert: Oooooohhh, Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau- Münzenberg, fordere dies nicht von mir! Denn wenn ich das tue, wird Marie Antoinettes bluti- ger Todestag heute auch der deinige sein! Diese Stimme!!!!! Nicht mal übelsten Erzfeindinnen wünschte man sie zum Anhören. Erbarmungslos. Schwer wie Blei. Ohne Empathie. Ohne Lie-be. Erdrückend. Eisern. Eiskalt. Dann verwschwand das Bild."
"Oh, Gott!!!!! Deswegen also hast du kreidebleich wie am Spieß gebrüllt: GEH WEG, GEH WEG, GEH WEG, BITTE, GEH WEH, GEH WEG, GEH WEG, ICH WILL NICHT STERBEN!!!!! Aber wie! Das war ja nicht mehr normal", resümierte Hofdame Chantal.
"Bei der heiligen Modwena!!!!! Deeeeeeswegen also hast du dir mit beiden Händen verzweifelt den Hals umfasst, um dich anschließend zu übergeben. Aber wie! Das war ja echt nicht mehr normal!", resümierte Hofdame Sylvie.
"Als ob du Blutfontänen speien würdest. Aber waaaas für welche! Vollkommen unnormal!", re-sümierte Hofdame Yvette.
"Und ich dachte beim Anblick der tollen Bescherung auf dem Boden zuerst fröhlich, einer von euch gratulieren zu können", resümierte Gräfin Bernhardette Constanze Amalia, dabei das be-kanntlich erst halbfertige Frisurengebilde betastend. "Neeeeeeeeeeeiiiiiiiiiinnn...meine Haaaa- aaaaaaaaaare...biiiiiiiiiiitte...nnnnniiiiiiiiiicht auch daaaaaaaaaaaaaaaas nooooooch..."
"Während des Erbrechens gab Modell 'Big Ben' bedauerlicherweise noch vor Inbetriebnahme seinen Geist auf", erklärte Sylvie den Sachverhalt.
"Wir bringen wir dich jetzt gleich in dein Gemach, rufen den Onkel Doktor und danach Carola. Du fühlst dich heute wirklich nicht wohl. Freundinnennähe wird dir daher sehr gut tun", ent-schied Chantal energisch. "Jaaaaaaaaaaaaaaa, Caro soll kommen", schluchzte der vier jungen Mademoiselles Arbeitgeberin sehnsuchtsvoll, "ich muss sie unbedingt gaaaaaaaaaaannnnnnz doll drücken!!!!! Ich braaaaaauuuucheee meine Süße jetzt so!!!!! Oh, Gooooooooooott...die bri-tischen Flaggen...auf, mes chères, allez, zurück, die müssen doch noch gehisst wer..."
"Alles gut! Alles gut! Als das Dienstauto anrollte und Fahnenhisser Oliver pflichtbewusst zur Tat schritt bist du wie ein Zombie aus Horrorfilmen am Eingangstor vorbeigewankt. Nein, nein, nicht umdrehen! Ins Schloss mit dir! Dieser Tag ist einfach zu belastend für dich." Verständ-nisvoll umarmte Veronique ihre bemitleidenswerte Chefin. "Erst der peeeeiiinliche Auftritt dei-nes Mannes in Frankreich. Dazu Unzufriedenheit über Angestellte. Vor allem jedoch immense Nervosität wegen des bevorstehenden, politisch außerordentlich bedeutsamen Empfangs, wo nicht die geringste Kleinigkeit schieflaufen darf. Tjaaaa, und damit nicht genug, alles an solch einem makaberen Datum. So etwas zehrt wahnsinnig an der Substanz."
"Danke dir, Sternenfee." Sie schluchzte wieder. "Weißt du, kurz bevor ich das blanke Fallbeil meinen Hals durchtrennen spürte, da war jener Sekundenbruchteil, an dem ich zu spät er-kannte, wie finstere, im Geheimen agierende internationale Mächte sich gegen unsere Graf-schaft verschworen hatten - und nun Dennis Kevin und mir an den Kragen gingen."
​
Nach diesem letzten Satz Ihrer Durchlaucht geleiteten Sylvie, Chantal, Yvette sowie Veronique eine von Weinkrämpfen geschüttelte, völlig aufgelöste, wimmernde Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg behutsam, sanft, umsichtig und liebevoll tröstend am Morgen des 16. Oktober 2019 auf ihr Zimmer.
​
Epilog 1
​
"Seht nur, Freundinnen, wie friedlich der Springbrunnen plätschert!", rief Kammerzofe Yvette aufgedreht schwärmend ihren Arbeitskameradinnen zu, während Veronique, Sylvie und Chan-tal die vor wenigen Sekunden noch in einer emotionalen Anwandlung purster Glücksgefühle akut Taumelnde behutsam stützten. Vom Eingangportal der gräflichen Residenz blickten alle vier quer über den Schlosshof zur Philippstuher Allee. "Oh, mein Gott, oh, mein Gott, dazu jetzt die hellen Glockenschläge von der Friedenskirche! Neun Uhr. Haaach, obwohl uns diese Dinge seit über zwölf Monaten vertaut sind, geht mir dennoch jedes Mal das Herz dabei auf. Über-wältigend, findet ihr nicht?"
Erzählrunde 7

"Stimmt, wahnsinnig erholsam. Besonders werktags", bestätigte Sylvie.
"Ja!", bekräftigte Veronique. "Hanaus Berufsverkehr rollt fleißig. Wir dagegen sind exklusiv pri-viligiert, Amalia auf ihrem Morgenspaziergang innige Gesellschaft leisten zu dürfen. Paradie-sische Arbeitsbedingungen!"
"Vollkommen richtig, Mädels", nickte Chantal zustimmend, "Panorama und Geräusche sind in-zwischen so bekannt, als ob jede einzelne von uns bereits ewig bei Hofe angestellt wäre."
"Weil du gerade 'Hof' sagst, wo steckt Constanze eigentlich?", fragte Sylvie sichtlich verwun-dert. "Die Kirchturmuhr hat soeben Neun geschlagen. Bereits fünfzehn Minuten überfällig! Da-bei tickt Madame Ponctualité präziser als Schweizer Uhrwerke."
​
Yvette beobachtete das Ampelsignal hinten an der Straßenecke genauer. "Hm, wie ich sie ken-ne eilte Amalia vor dem Aufbrechen garantiert zu Dennis Kevin hoch ins Büro, bettelt ihn fle-hentlich an, Lockdown 2.0. mitzumachen."
"Häää?" Veronique wirkte irritiert. "Bislang wurde doch gar nichts beschlossen! Guuuut, man diskutiert darüber. Überhaupt, Deutschland ist vom März/April eh genug bedient, denkst du echt, die Bevölkerung spielt da nochmal mit?"
"Jaaaa, schoooon! Aber wenn ich sehe, wie die Ampel JETZT auf Rot schaltet, passt diese Far-be eigentlch perfekt zur aktuellen Infektionslage. Korrigiert mich bitte, wenn ich falsch liege!"

"Ach, Yvette, mein pfifiges kleines Füchslein, an dir bewundere ich stets deine hellsichtige Ga-be, ganz normale Alltagssituationen spontan als Symbole tieferer Geschehensabläufe deuten zu können." Unbemerkt, auf hauchleisen Sohlen von hinten herangetreten, jagte Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg mit unerwartet ertönender Lobeshymne ah-nungslos Plaudernden gewaltigen Schrecken ein. "MEINE GÜTE, BERNHARDETTE!!!!!" Chan-tal fasste sich aufschreiend beidhändig an den zitternden Busen, japste nach Luft. "Mensch, Constanze!" Sylvies Stimme klang tadelnd. "Ständig schleichst du wie eine Katze herum, und wir erschrecken uns fast zu Tode. Das tut uns nicht gut! Könntest du dich nicht wenigstens ir-gendwie vorher ankündigen? Beim Aufsuchen der Toilette räuspern wir uns bekanntlich vor dem Beiseiteschieben des schützenden Samtvorhangs zunächst auch dezent, ersparen damit der möglicherweise dahinter Sitzenden peinliches Erröten. Danke!"
​
Geistesgegenwärtig erkannte Kammerzofe Yvette drohende Gefahr. Ehe also die hochsensible Chantal, emotional aufgewühlt vom unerwarteten Schock, in eruptionsartig hervorschießende Tränen ausbrach, dramatisch fließende Ströme, versuchte sie deren bebende Anspannung rechtzeitig mittels taktisch geschickter Gesprächsfortführung zu entschärfen. "Heyyyy, Chanti, sieh mal, der Bus fährt vorbei! Finde das stets von neuem soooooo entspannend, wenn er ge-mächlich um die Kurve biegt. So unendlich vertraut! So beruhigend! Da schaltet selbst die Co-ronaampel freiwillig auf Grün. Stimmt's oder hab ich Recht? Hab ich Recht oder stimmt's?"

Geschafft. Chantal lächelte. Freilich gewährleisten singuläre Etappensiege längst keinen Ge-samtsieg, weshalb folgende Sportlerweisheit für Hanau-Münzenberger Zofen ebenso unein-geschränkte Gültigkeit besaß: Zwischenerfolge ausbauen statt verspielen. Bevor der brodeln-de Vulkan es sich am Ende anders überlegte.
"Hihihihi, sag mal, Amalia, wo hast du denn nur gesteckt?", kicherte Veronique neugierig. "Wir wollten soeben eine Vermisstenanzeige aufgeben. Normalerweise bist du doch die Pünktlich-keit in Person, welche selbst Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds spielend übertrumpft."
"Oh, bitte verzeiht, meine geduldigen Lämmlein, dass ich euch unhöflich warten ließ. Doch ich musste vorher noch wegen einer dringende, unaufschiebaren Angelegenheit zu Dennis Kevin rauf ins Büro."
Hellseherin Yvette orakelte: "Lockdown 2.0.?"
"Exakt. Wie du vorhin mit deinem Ampelvergleich treffend darlegtest, steht das gegenwärtige Pandemiegeschehen auf Dunkelrot. Deutschlands Ministerpäsidentenkonferenz kommt ange-sichts einer bald durchaus realistischen Marke von rund 15.000 vom Robert Koch-Institut ge-meldeten Neuinfektionen kaum drum herum."
Sylvie reagierte auf solche Hiobsbotschaften bestürzt. "Oooooh, neeeeeiiiiin!!! Wenn dein Mann tatsächlich mitzieht, schließt praktisch wieder alles. Dabei herrschte im Sommer nach Über-stehen furchtbarer Wochen endlich bundesweit einigermaßen Normalität. Und viele Familien hatten die eindringlichen Appelle befolgt, Urlaub im eigenen Land verbracht. Lüneburger Hei-de anstatt Adria."
"Bedauerlicherweise, Sylviechen, empfinden Pandemien gegenüber Jahreszeiten traditionell keinerlei Verpflichtungen."
"Amalia hat Recht", pflichtete Chantal ihrer Dienstherrin bei, "eine zweite Welle war doch lo-gisch. Kaum begann das neue Schuljahr, peng, mutierte Hanau zum Hotspot. 7-Tage-Inzidenz von 70 am 26. August. Rekord."
"Aber dann sanken die Zahlen erfreulicherweise, und das gräfliche Edikt vom 24. August über verschärfte Auflagen für Hanau, Maintal, Brucköbel Erlensee, Nidderau sowie Neuberg konnte bereits am 07. September aufgehoben werden. Immerhin! Ursprünglich sollte es bis zum 23. gelten. Ist doch alles halb so wild."
"Ach, Sylvie, Gänsemädchen, du verstehst nicht!", erklang der Gräfin sanft erklärende Stimme. "Schau, in diesen außergewöhnlichen Zeiten scheint nichts sicherer zu sein als permanente Unsicherheit. Heute topaktuell - in 24 Stunden Schnee von gestern. September adieu, prompt leisten herbstliche Witterungsverhältnisse CoVid-19 Bärendienste. Deswegen: Welle 2 unbe-dingt brechen! Unbedingt! Bitte, bleiben Sie gesund!, lautet derzeit die Parole."
​
Trotz einleuchtender Argumente setzte Anwältin Sylvie das Plädoyer fort, weiblich mitfühlend an ihre von neuerlichen Schließungen wiederum betroffenen Mandanten denkend. Gerwerbe-treibende, Selbständige, vom harten Schicksal Gebeutelte, welche nach Lockdown 1.0. opti-mistisch annahmen, es gehe allmählich bergauf. "Rein theoretisch gefragt, Constanze, was wäre, wenn Dennis Kevin bewusst entschieden anders handelt?"
Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg sah "ihre" Mädchen liebevoll an. "Kommt mal näher zu mir her, ihr munteren Springmäuschen. Wir beginnen jetzt erstmal wie gewohnt unsere allmorgentliche Runde. Unterwegs erkläre ich euch die Zusammenhänge genauer. Einverstanden?"
"Oh, jaaaaaa!", jubelten vier quirlige Stimmen durcheinander. Entsprechend brach das Quintett auf, um in trauter Gemeinsamkeit frische Luft zu tanken.
​
Sie waren kaum losgeschlendert, unterbrach Hanaus mächtigste Einwohnerin just begonnene Frühbewegung zwecks erster anschaulicher Demonstration kausaler Ursachen. "Wenn ihr zur Kommandatur rüberseht, offenbart sich euch exactement DER Grund, weshalb Hanau-Mün-zenbergische Sonderwege kategorisch ausgeschlossen bleiben."

"Verstehen wir nicht", erwiderte Veronique stellvertretend, "deinen Worten zufolge hatte Jaw-lonskji doch Anfang Februar 2018 das historische Hanauer Bataillon über alte Verbindungen ins Söldnermilieu neu aufgestellt. Wüste Raubauken, die nicht lange rumfackeln. War doch so, oder?"
"Psssst, tretet bitte nochmal ganz nahe an mich heran!", flüsterte Hanau-Münzenbergs Gräfin äußerst vorsichtig. "Nein, noch näher. Perfekt. Auf dem Schlossgelände lauscht nämlich selbst das Brunnenwasser. Okay, jetzt mal ganz unter uns fünf Schwatzliesen im Vertrauen. Glaubt hier wirklich eine, dieses Bataillon sei ernsthaft fähig, unser Territorium ausreichend zu ver-teidigen? Läppische 400 Männeken langen im Augenblick kaum zur Innensicherung. Vorges-tern Jawlonskjis Großrazzia zwischen Rüdigheim und Ravolzhausen gegen illegal gepanschte Desinfektionsmittel. Maskendiebstähle en masse. Dutzende Strafanzeigen wegen Körperver-letzung durch Anhusten. Ferner neue, Besorgnis erregende Enkeltrick-Maschen. Alles negati- ve Krisen-Begleiterscheinungen. Ergo: Gut gesicherte Außengrenzen sind das A und O jegli-cher Staatskunst. Was geschieht wohl, wenn Geschäfte, Kneipen, Discos et cetera lustig offen bleiben? Chantal?"
"Äh...keine Ahnung...ehrlich gesagt..."
"Yvette?"
"Äääääh...jaaaa...also..."
"Ich sag's euch. Dann rennen die Deutschen uns die Grenzen ein, weil jeder hier das Paradies auf Erden erblickt. Internationale Fernsehstationen übertragen 2015 drastisch ins Gedächt-nis zurückrufende Szenen. Live von den Übergängen. Verzweifelte Menschenkarawanen, er-picht darauf, wie vor Corona ungestört einzukaufen oder ohne Kontaktbeschränkungen sorg-los zu feiern. Legionen partywütiger Oberstufenschüler kampieren entlang des Mains und der Kinzig. Haufenweise liegengebliebener Müll! Wer darf brav entsorgen? Igitt, von Hinterlassen- schaften anderer Art ganz zu schweigen! Denen extra Dixiklos hinstellen? Tse, ich denk gar nicht dran! Schlimmer noch: Das Flüchtlingsdrama würde weit übers Lockdownende hinaus andauern, bis drüben einigermaßen Ruhe einkehrt. AUSSER, Dennis Kevin besäße schlagkräf-tige Grenzregimenter. Gnadenlos abweisen. Bundesbürger. Nicht-Deutsche. Keinen reinlassen ins Schlaraffenland. DAFÜR wiederum braucht's Soldaten, Soldaten und nochmal Soldaten! Sonst lotsen Schleuserbanden konsumgierige Flüchtlinge nachts scharenweise über die un-bewachte Grüne Grenze. DAFÜR wiederum braucht's Geld, Geld und nochmal Geld! FRAGE: Wie Armeen bezahlen angesichts massiv weggebrochener Einnahmen?"
Bei Sylvie klingelte der Groschen zuerst. "Ach, deeeeeshalb!", tuschelte die Hofangstellte leise. "Aber mal was anderes. Hört ihr eigentlich gerade auch das nicht, was ich nicht höre?"
Bei Philippsruhs première dame klingelte der Groschen zuerst. "Jetzt, wo du es sagst. Es ist so verdächtig still. Auf, ihr wuscheligen Alpakas, wir forschen nach!"
"In Königs Wusterhausen scheint zeitig Schicht im Schacht zu sein", tippte Gräfin Bernhardet- te Constanze Amalia hämisch, als fünf neugierige Näschen das Wasserspiel passierten. Syl-vie, bei jedem Vorbeibummeln fasziniert vom auf ihr Gemüt magischen Einfluss ausübenden Gerausche, blieb von unsichtbarer Zauberhand gebannt, stehen, starrte hypnotisiert das zum Greifen nahe beeindruckende Schauspiel an.

"Rehkitzchen Guck-in-die-Luft, kommst du bitte!", ermunterte Madame Ponctualité im Weiter-gehen begriffen mit zweimaligem Händeklatschen. "Träumen kannst du nachher genug!"

Alsbald ward Königs Wusterhausen erreicht. "Bingooo! Lotto-Jackpot geknackt!", konstatierte Yvette. "Alles mucksmäuschenstill."

Fassungslos über Fortunas spendablen Geldsegen überwältigte Lästerlaune die stolze Gewin-nerin:"Unfassbar, Hanau, wir haben en moment 09.10 Uhr, und Graf Dennis Kevins wackeres Tabakskollegium liegt beim Frühschoppen bereits schnarchend unter den Tischen. Hahahaha, was für Weicheier! Bouteilles! Männer!"
​
Spielverderberin 1, Veronique, funkte dazwischen: "Öhm...ich gönne dir ja den Gewinn wirklich von ganzem Herzen...Bernhardette...das Zelt!!!!!"
Spielverderberin 2, Yvette, funkte dazwischen: "Oh, neeeeiiin...das Zelt...Constanze hat das Zelt vergessen!!!!!"
Von bitterer Erkenntnis niedergeschlagen, dass die Lottogesellschaft schlauer als die Spieler-in gewesen war, bibberte Hanau-Münzenbergs gräfliche Hoheit daraufhin von Ängsten gepei-nigt der im Herbstwind wehenden Staatsfahne heulend und zähneknirschend entgegen: "We-he allen unterm Schlossdach, wehe!!!!! Um uns ist's geschehen! Ihr unschuldigen Kinderlein, seht nur, seht nur, wie sich Coronas Himmel düster über Philippsruh zusammenbraute! Wehe allen unterm Schlossdach, wehe!!!!! Der Vampirfürst fliegt aus Bergamo durchs dichte Wol-kengetümmel lautlos heran! Holt Kreuze!!!!! Holt Knoblauch!!!!! Schnell, abends schon geht's nimmermehr!!!!!!!"

Bergamo. März 2020. Coronainfizierte. Röchelnd. Krankenschwestern. Physisch, psychisch am Limit. Völlig fertig. Militärtransporter. Särge. Bergamo. Stadt des Todes. Nosferatu - Phantom der Nacht ging um. Regisseure hätten keinen schlimmeren Horrorfilm drehen können. Yvette, Veronique, Chantal und Sylvie führten die einer Hysterie nahen Edelfrau hinwärts zum Haupt-gebäude. Sylvies Hypnotiseur zur Linken hielt die Damenrunde auf inständiges adliges Flehen hin an. Panisch für nächste Nacht des Blutsaugers Ankunft erwartend wimmerte Bernhar-dette Constanze Amalia das strömende Rauschen an.

Nun aber avancierte Chantal zur schleunigen Antreiberin: "Jetzt komm, Amalia, wir bringen dich hinauf in dein chambre privée. Dort ruhst du dich gründlich aus. Warum befolgst du auch nicht das, was der Doktor sagte? Laut ärztlichem Rat darfst du es am 16. Oktober keinesfalls für längere Zeit verlassen. Nicht ohne Grund verschreibt er dir für diesen Tag vielmehr aus-giebige räumliche Privatsphäre: Bettruhe. Patiencen legen. Nähen. Sticken. Musizieren. Träu-men. Frischluftzufuhr gibt's morgen zur Genüge! Erinnere dich ans letzte Jahr. Kaum drau-ßen? Nervenzusammenbruch! Heute dasselbe Theater. Kaum draußen? Erste Wahnvorstellun-gen!"
Der hohen Dame von Stand Tränen rollten ohne Unterlass. "Aber...aber...ich lag doch mit mei-ner finsteren Vorahnung richtig! Ich kann's sogar beweisen!" Sie zückte schluchzend ihr Nor-malsterblichen preislich verwehrtes Smartphone. "Das war am 03. Juli 2019 bei Unserem Be-such des Langenselbolder Flugplatzes.

Strahlendes Kaiserwetter. Zugegeben: Mitten im heißen Sommer wie Ludwig XVI. und Marie Antoinette gekleidet draußen zu sein, ist gewöhnungsbedürftig. Für die uns hinterhergehende Entourage in ihrer authentischen Garderobe sicherlich nicht weniger. Doch uns alle vereint ein Gedanke: Versailles' Hofetikette verpflichtet! Dafür schwitzt man gerne unter gepuderten Pe-rücken. Ja, Versailles. Damals schien die Sonne noch fröhlich auf Unsere kleine aber feine Herrschaft herab. Sämtliche Ampeln zeigten Grün. Aufbruchstimmung. Volle feudale Fahrt vo-raus! Endlich tat sich was in der langweiligen Region! Mit Landesherr Graf Dennis Kevin I. von Hanau-Münzenberg voran an der Spitze gemeinsam einer verheißungsvollen, strahlenden Zu-kunft entgegen. Sich drum gerissen, gebettelt hatte Langenselbold 2018, Hanau-Münzenber-gisch zu werden, obwohl unter historischem Aspekt das Gericht Langenselbold 1426 bis 1476 lediglich vom Mainzer Erzbischof an Hanau verpfändeter Besitz war. Den die Isenburger Gra-fen dann einlösten. Ihr wisst nicht, was im Juli 2018 überall abging, weil eure Anstellung zum 01. September 2019 begann. Als Gymnasiastinnen bis zum Abitur von frommen irischen Non-nen in Internatsklausur hermetisch vom Bösen abgeschirmt, erfuhrt ihr Wohlbehüteten allen-falls beiläufig oder während Schulferien davon. Überdies lagen eure Heimatstädte Potsdam, Leipzig, Dresden und Meißen fernab jener gewaltigen Umwälzungen. Wie dem auch sei. Den-nis Kevin tüftelte geniale Geschäftsideen aus. Über einschlägige Golfclubs, wo manch gekrön-tes Haupt eventuell als Caddie Einlass fände, wurde geschickt lanciert, bei Langenselbold ver-muteten Prospektoren im Flüsschen Kinzig Goldvorkommen. Sein Konzept: milliardenschwe- ren Jetset anlocken. Von hitzigem Goldfieber gepackte Dagobert Ducks sollten per Privatflug-zeug oder Privathelikopter andüsen. Ein neuer Goldrausch. Ein neues Alaska. Ein neuer Klon-dyke. In einer absolutistisch regierten Grafschaft. Gelbglitzerndes Abenteuer plus irres 1780-Erlebnis. Ultimativer Kick für Superreiche."
Genervte Kammerzofen rollten die Augen.
"Als Dennis Kevin im August Unsere ambitionierten touristischen Ziele für das Jahr 2020 vor-stellte, lachte in Berlin niemand mehr. Längst verloren 2017 intern abgeschlossene Wetten, spätestens Ende 2018 wäre die Grafschaft Hanau-Münzenberg weg vom Fenster, das Staats-gebiet wieder Bundesbesitz. Ähnlich wie Paris bis heute insgeheim hofft, dass Monaco irgend-wann an Frankreich fällt."
An dieser Stelle angelangt wollten acht unermüdliche Hände die leicht verwirrt Redende ur-sprünglich weiter dem diskreten Privatgemach entgegenziehen. Doch Bernhardette Constan-ze Amalia befreite sich wie eine bockige, unfolgsame Vierzehnjährige, sprang zwei Meter vor-wärts, wies in Diensten stehenden jungen Damen demonstrativ den Spazierweg zum Main.

"Hahaha, bis man in Berlin, Brüssel, hahahahaha, Washington auch, zum Schrecken des poli-tischen Establishments registrierte: WIR meinen es ernst. Die Sache nimmt zunehmend Fahrt auf. Von wegen weg vom Fenster! Jetzt Obacht, der springende Punkt! Im März 2020 sollte die lediglich für Segel- und Ultraleichtflugzeuge geeignete Grasbahn asphaltiert, gleichzeitig für Privatjets anflugfähig verlängert werden. Wozu es bekanntlich nicht kam. Da wollten gewisse Kreise Uns mit CoVid-19 einen dicken Strich durch die Rechnung machen."
"Aber, Amalia, das klingt alles ziemlich stark nach Verschwörungstheorie", merkte Veronique skeptisch an.
"Könnte man tatsächlích annehmen, süßes Hoppelhäschen. Wenn nicht sämtliche Fakten da-für sprächen", dozierte Frau Professorin unbeirrt weiter. "Glaubt ihr wirklich, alles war bloß Zufall? Ausgerechnet eine Woche vor dem ersten Spatenstich bricht der internationale Flug-verkehr, daran gekoppelt die weltweite Reisebranche de facto über Nacht zusammen! Ihr habt sie ja noch im Ohr, jene inständigen Aufrufe später drüben in Deutschland, die Leute mögen doch bitte bitte bitte daheim bleiben beziehungsweise heimische Gefilde wählen. Bayerischer Wald statt Rotes Meer. Singapur handelte genauso. Kein Wunder, dass die Grasbahn seither vergammelt. Welcher Onkel Dagobert bucht derzeit Goldschürfen? Geldspeicherbesitzer pla-gen wichtigere Sorgen! Folglich steht der bereits für Hubschrauber ausgelegte Gelnhausener Flugplatz gleichermaßen dumm rum."
"Du redest echt fast so wie die Querdenker, Bernhardette", kicherte Yvette ironisch.
"Überlegt, ihr zwitschernden Rotkehlchen, überlegt! Diese echten Global Player, diese richti-gen globalen Strippenzieher, die schert es nicht, ob Präsident Trump pandemiebedingte Ein-reiseverbote für die USA verhängt. Juckt deren Kontostand null. Für eine Miniatur-Grafschaft hingegen, welche Einkünfte fürs Überleben benötigt, bedeutet kollabierter Tourismus Kollate-ralschaden."
"Wartet mal", störte Sylvie Bernhardette Constanze Amalias Politikvorlesung, "im Zelt hör ich was! Hört ihr das auch?"

"In Königs Wusterhausen scheint bereits Schicht im Schacht zu sein", wiederholte des Grafen Ehefrau ihre fiese Häme. "Unfassbar, Hanau, wir haben en moment 09.20 Uhr, und Dennis Ke-vins Tabakskollegium liegt beim Frühschoppen bereits schnarchend unter den Tischen. Haha-haha, was für Weicheier! Bouteilles! Männer!"
Yvette ulkte amüsiert: "In München wurde die Wies'n abgesagt, am Hanau-Münzenbergischen Hof lässt sich demgegenüber keiner das wohlverdiente Münchener Oktoberfest nehmen."
"Bis 03.00 Uhr dröhnte das Rumtata", ächzte Bernhardette Constanze Amalia. "Logisch, dass Europas Klatschpresse Gerüchte über einen Corona-Hotspot Philippsruh streut. Trotz klarer Hygienevorschriften, wie auf dem Hinweisplakat unschwer erkennnbar. Das ist alles Bestand-teil der Strategie. Sie haben der Grafschaft Hanau-Münzenberg mit einer ausgeklügelten, von langer Hand geplanten Pandemie den Fehdehandschuh hingeworfen. Bei CoVid-19 handelt es sich in Wahrheit um einen knallharten Showdown. High Noon. Wie im Western. Vergesst, was regierungstreuer Mainstream euch tagtäglich vorgaukelt. Erwacht!"
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Sie liefen die Rampe zum Park hinauf und näherten sich rückseitig dem Residenzschloss. Die lehrende Aakademikerin und ihr augenrollendes Gefolge im Schlepptau. Philippsruhs Terras-se lag vor den morgentlichen Spaziergängerinnen.

"Mächtige Eliten hatten 2017 sowohl Zuckiputzi als auch Zuckerhasi leichtfertig unterschätzt. Nun helfen die verunsicherten obersten Kasten hastig mit Hilfe gestohlener Viren nach, dass Wir baldigst vom politischen Parkett verschwinden. Der Markt in Wuhan, da lachen ja die Hüh-ner!!! Aus dem Labor kam's!!! Sie hassen unsere absolutistische Herrschaftsform. Sie hassen unser schnuckeliges Versailles am Main. Sie hassen die vornehme höfische Kultur. Sie hassen unsere prachtvolle Hofentfaltung. Sie hassen unsere stilechte Kleidermode aus den Zeiten um 1780. Sie hassen elegante weiß gepuderte Zopfperücken und raffiniert ausgefallene Turmfri-suren. SIIIIIIIEEEEE-HAAAAAAAAA-SSSSSSEEEEEEENNNNN-UUUUUUUUNS!!!!!"
"Lass mich grade deine Stirn fühlen", bat Sylvie besorgt.
"Lass mich loooooos, duuuuuu!!!!! Laaaaaaassss-miiiiiiiiich-loooooooos, sag ich!!!!!"
"Bedenklich warm. Typisches Anzeichen. Über das Marie Antointette Syndrom klagen zahlrei-che Adelsfrauen. Kollektives blaublütiges Trauma, sagt der Arzt. Deshalb, husch, ab ins Bett mit dir, Fieber messen! Am Siebzehnten ist's Gottseidank überstanden."
"Neeeeeiiiiinnnnnnn!!!!! Ich bin nicht krank!!!!!! Ich bin vollkommen gesund!!!!! Ich will weiter spazierengehen!!!!!"
"Morgen früh nach unserem gemeinsamen Frühstück flanieren wir wieder. Ganz fest verspro-chen", redete Yvette der Fiebernden gut zu. "Für heute brauchst du oben ausgiebig Ruhe, um Energie zu schöpfen. Ähm...du...Constanze...außerdem möchte ich ohnehin nur höchst ungern weiter durchs Parkgelände laufen, weil mir der Gang aufs stille Örtchen zweifellos lieber wä-re. Und eines versprech ich euch jetzt schon, Mädels: Sollte uns Lockdown 2.0. - wenn er denn kommt - neuerliche Anweisungen bescheren, aufgrund akuter Lieferengpässe mit dem Klopa-pier sparsam umzugehen, krieg ICH die Krise."
"Und ICH erst, wenn sämtliche Nudelregale leergekauft sind!", betonte Chantal. "Wisst ihr noch die Supermarktdurchsagen? Motto: Bleibt ruhig, Leute, ist genug da! Erinnert ihr euch?"
"Echt voll daneben diese Hamsterkäufe damals, als hätten im März Kriegszeiten gedroht!", la-mentierte Sylvie.
Abermals öffnete Frau Querdenkerin verblendete Augen einfältiger Wesen. "Vergesst nicht, ihr gurrenden Täubchen, Toilettenpapier- und Nudelknappheit stellten ebenfalls Bausteine jener perfiden Gesamtabsicht dar. Dahinter steckte Kalkül. Besonders durch Fehlen intimer Hygie-neprodukte wollte man Philippsruh demütigen. Schamlos unters Joch schicken. Auf dem WC bloßstellen. Doch die finsteren Zirkel werden kapieren, wer im Duell den Colt schneller zieht." Solidarisch hinzufügend: "Aber jetzt auf, hurtig rein mit uns! Yvette drängt es."
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Alsdann kehrten sie am Morgen des 16. Oktober 2020 gemeinsam über die Terrassentreppe ins Schlossinnere zurück.
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Epilog 2
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OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOOOOOTT! SCHAUT MAL, DIE SÜSSEN GÄNSCHEN SIND WIEDER DA!!!!! Hofdame Chantal geriet beim Anblick einer entlang des Mainuferweges grasenden altbekannten Schar sympathischer Wasservögel in höchste Ekstase. UND DAAAA- AAAAAA, SEEEEEEHT NUR, DAAAAAAAAAAAA, DIE VORNE RECHTS WATSCHELT GERADE ZUR PFÜTZE, HAT WOHL VOLL DURST!!!!!!!!!!
Erzählrunde 8

Mütterlich legte Gräfin Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg behut-sam beide Hände auf die bebenden Schultern der innerlich Aufgewallten. "Das sind übrigens Kanada-Gänse, Spätzelchen. Und so wie wir gerade frisch gestärkt vom pétit dejeuner kom-men, nutzen sie jetzt ebenfalls den Morgen zum ausgiebigen Frühstück. Was uns wiederum beweist: Mensch und Tier verbinden teilweise identische Angewohnheiten."
"Mensch, Constanze, ja, natürlich!" Kollegin Yvette klatschte sich leicht ans eigene Stirnchen. "Jetzt wo du's sagst! Von dem Standpunkt aus habe ich das ehrlich gesagt nie betrachtet!"
"Weshalb auch", fuhr ihre Dienstherrin fort, "Paul Scheerbart an irgendeiner Stelle vom Men-schentier spricht. Deutsch, Jahrgangsstufe 11, doch soooooooo weit seid ihr Purzelhäschen in der Quarta noch nicht. Bloß fragt mich bitte nicht wo. Heinrich Heine lag mir mir als Oberstu-fenschülerin mehr."
Sylvies Wissendurst war geweckt. "Du, sag mal, Bernhardette...warum heißen Kanada-Gänse eigntlich Kanada-Gänse? Sind das Zugvögel, die im Winter von Kanada hierher flattern, weil wärmere Temperaturen herrschen?" Bei aufkommenden Fragen jeweils passende Auskünfte parat habend blickte Hanau-Münzebergs wandelndes Lexikon mitteilungsbegierig in vor Neu-gier glänzende Augen. "In der Tat, kleines Amselinchen, ist ihre ursprüngliche Heimat Kanada. Nur würden Gänse wohl kaum Transatlantikflüge von Nordamerika nach Europa überstehen. Vielmehr gelangten sie im 17. Jahrhundert als Ziervögel auf unseren Kontinent. Einige Kluge büchsten dann vermutlich aus, das Resultat futtert gerade genüsslich." Philippsruhs Hofzofen staunten Bauklötzchen. "Nur meine ältester Einfaltspinsel, Alessa Marie, wähnt sich bis heute ernsthaft irgendwo in Kanada, sobald sie solchen Exemplaren begegnet. Doch reden wir lie-ber von Angenehmerem."
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Die eingewanderten Kanadier zurücklassend setzte das Damengrüppchen seinen soeben be-gonnen traditionellen Morgenspaziergang fort und erreichte nach wenigen Schritten die eiser- ne Anlegestelle. Den turmfirsurenbeschwerten Schädel zum Takt Asphalt tretender Fußbewe- gungen abwehrend aufs Ufer gegenüber gerichtet, adlige Ärmchen demonstrativ verschränkt, verharrte Graf Dennis Kevins Jugendliebe zunächst längere Zeit in aussagekräftiger Körper-haltung. Dann rief sie, zehn Finger am Mund zum Lautsprecher geformt, dem anderen Staat unüberhörber herüber:
"Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen."

"Nachtgedanken. Strophe 1. Der Mann war ein Seher. Ein Visionär."
"Heine?", fragte Yvette.
"Heine. Nichts passt derzeit besser ins düstere Zeitgeschehen. Düster wie dieser November- morgen."
"Du meinst, Lockdown 2?"
Erfasst. Und genau zu DEM brandheißen Thema führen wir jetzt wieder eine Pro&Contra-De-batte durch, in welcher ihr eure über jene Unterrichtsmethode bislang erworbenen argumen-tativen Kompetenzen verbessern sollt. Achtung, Arbeitsauftrag! Diskutiert folgende Frage: Ist Lockdown 2 mit Lockdown 1 vergleichbar? Veronique, du fängst an!
​
"Ich wehre mich allein schon gegen den Begriff. Wir haben einen sogenannten Lockdown light. Außerdem dauert er eh nur vier Wochen. Die Bundeskanzlerin erklärte dazu: Wenn wir im No-vember alle sehr vernünftig sind, dann werden wir uns mehr Freiheiten zu Weihnachten er-lauben können. Darum geht's.
"Eyyy, Süße, wovon träumst du eigentlich nachts?", hielt Sylvie dagegen. Glaubst du doch wohl selbst nicht! Wird hundertpro verlängert, ich schwör!!!!! Was in ihrem Satz Es wird ein Weih-nachten unter Corona-Bedingungen sein, aber es soll kein Weihnachten in Einsamkeit sein. anklingt Vergiss die Feiertage wie wie letztes Jahr. Das wird richtig hart."
Desinteressiert daran, sich an jener soeben wieder zur spontanen Unterrichtsstunde umfunk- tionierten Spazierrunde argumentativ einzubringen, gab Träumerin Chantal lieber allzu gerne quakenden Ablenkungen nach, um angesichts abermalig anbrandender Gefühlswallungen wie vorhin verklärten Körperschwankungen zu unterliegen; verstärkt durch den unterhalb schau-kelnden Schiffsanleger, welchen die Klasse inzwischen nacheinander vorsichtig betreten hat-te. "OH, MEIN GOTT, OH, MEIN GOTT! OH, MEIN GOOOOOOOOOOOTT!!!!! SCHAUT MAL, DIE SÜS-SEN ENTCHEN SCHWIMMEN WIEDER AUF DEM MAIN!!!!!"

Während rettendes Geländer wahrlich rechtzeitig Schlimmeres verhinderte, hob Mitschülerin Yvette ungestüm den Meldefinger, wollte unbedingt aufgerufen werden. "Ja, Yvette?", nahm sie die Lehrerin umgehend dran. "Die sind bestimmt mit dem leckeren Frühstück fertig und dre-hen jetzt ihre gemütliche Runde. So wie wir gerade. Was uns eindeutig beweist, dass Mensch und Tier viele Angewohnheiten verbinden. Weshalb Paul Scheerbart an einer Stelle auch vom Menschentier spricht." Überwältigt vom pädagogischen Erfolg rief Frau von Hanau-Münzen-berg: "Das ist ja priiiiiiiiiima, Schneewittchen! Du hast echt super aufgepasst! Dafür bekommst du von mir eine 1+! Deiner Versetzung in die Untertertia nächsten Sommer steht breits heute nichts im Wege! Um übergangslos mit ungeduldiger Miene jene orangene Fahrrinnemarkie-rung zu taxieren; als ob mainaufwärts Wichtigeres anstände.

Hierbei offenkundig erfolglos drehte sich Schloss Philippsruhs wahre Chefin bald darauf wie-der um, wollte daher allem Anschein nach ihr Glück wiederholt mainabwärts probieren.
"Da stecken bestimmt die Deutschen dahinter!", blaffte Bernhardette Constanze Amalia zum durch die Flussgrenze von ihnen getrennten Nachbarstaat rüber. "So wie sie uns Lockdown 2 eingebrockt haben!"

"Lockdown light!!!", verbesserte Quartanerin Veronique, ihre aufgebrachte Pädagogin von der Pontonvorrichtung fortziehend. "Außerdem sind wir vom Thema abgekommen!"
Kaum auf dem Uferweg, machte diese sich jedoch bockig wie Kinder im Trotzalter los, den wi-derspenstigen Körper zurück zum Anleger drehend. "Nur damit man drüben Bescheid weiß", krakehlte es, "wenn's mir zu dumm wird, montieren wir den aufs Neue ab und machen sämt-liche Grenzen dicht. Kennt ihr ja vom März. Ende der Durchsage!"

Alsdann kassierte die Siebtklässlerin vor dem Klassenverband eine saftige Ermahnung. "Nun zu dir, Rosenrot!!! Was fällt dir überhaupt ein, mich mitten im Gespräch mit den Deutschen zu unterbrechen? Von dir hätte ich ehrlich gesagt mehr erwartet. Gut, dass meine Alessa Marie fest an Lockdown light glaubt, ist aufgrund chronischer Einfältigkeit nichts Außergewöhnli-ches. Macht mit Kursfreundinnen einen auf mega cool, verbringt die Zeit im Jagdschloss Wolf-gang. Als wär's Urlaub inclusive Onlineunterricht. Die Madames werden sich umgucken, wenn Deutschlands Bund-Länder-Konferenz verlängert. Und die arme Grafschaft Hanau-Münzen-berg zieht notgedrungen mit. Ob's Herrn Dennis Kevin passt oder nicht. Und damit wir uns beide ganz klar verstehen, beim näch..."
"Öhm...Amalia", versuchte Schülerin Sylvie per mutigem Zwischenruf aufgebrauste Wogen ei-nes aus dem Ruder laufenden Streitgesprächs zu glätten, "ich schaue grade zufällig hoch, und dabei fällt mir erneut auf, dass dort weiterhin 'Philippsruhe' steht. Obwohl dein Mann und du immer 'Philippsruh' sagt. Gibt's da eine Erklärung für?"

"Zuckiputzi und ich übernehmen ausschließlich Erzählungen meiner Mutter. Sie ist der An-sicht, 'Philippsruh' sei korrekt. Als auswärtige Grundschullehrerin in Steinheim hat sie natür-lich Recht. Drum heißt es in hiesiger Amtssprache 'Philippsruh'. Und nicht 'Philippsruhe'. Der Architekt war zu hundert Prozent Baden-Württemberger, dachte daher automatisch an Karls-ruhe. Tja, kommt davon, wenn Hessen fremdes Personal anheuern. Nachher hat man den Sa-lat. Scheint damals gar keinem aufgefallen zu sein. Seit 2018 will Dennis Kevin das E wegmei- ßeln lassen, doch dauernd was anderes. Dazu jetzt pandemische Verhältnisse."
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OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, SCHAUT, DIE SÜSSEN GÄNSCHEN SIND IMMER NOCH DA!!!!!!!!!, kulminierten Chantals gefühlsmäßige Anwandlungen im dritten Schub über-bordender Überschwänglichkeit.

Derart geballte Schärmerei steckte an. "JAAAAAA, DU HAST RECHT!!!!!", tutete Sylvie ins selbe Rohr. "OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT, OH MEIN GOTT!!!!! RUND UM PHILLIPPSRUH IST ALLES STÄNDIG SO AUFREGEND, SO, SO, SO SENSATIONELL!!!!! ERST DER BLICK ÜBER DIE FONTÄNE ZUR ALLEE!!!!! DIE GLOCKEN!!!!! UND DANN BEGRÜSSEN UNS GEFIEDERTE ZEITGENOSSEN!!!!! WIR HABEN'S HIER BEI HOFE SOOOOOOOO GUT GETROFFEN!!!!! OH, WIE WARD UNS FORTUNA HOLD!!!!! OH, HELFT MIR, FREUNDINNEN...ICH...ICH...ICH...ICH...STERBE VOR PUREM GLÜCK!!!!!" Dann landete die torkelnd rückwärts zu kippen Drohende in intervenierenden weiblichen gräf-lichen Armen, deren Kräfte gottlob größeres Unglück verhinderten.
"Mal eine andere Sache." Die Gerettete, flugs wieder wohlauf, kicherte im Weitergehen. "Echt kein Witz, dass Alessa Marie beim Anblick von Kanada-Gänsen glaubt, sich in Kanada zu be-finden?"
Ihre vorneweg wandernde Klassenlehrerin ächzte unter privaten Sorgen. "Gott, Schneeweiß-chen, erinnere mich bloß nicht dran! Bienchen ist dermaßen einfältig. Lud sogar auf ihrer heiß geliebten Mädchenseite Beweisfotos hoch. Prahlte in der Bildergalerie mit unerschöpflicher Dummheit. Dumm wie Bohnenstroh. Und halt dich fest, dafür gab's Likes und tolle Kommen-tare - während Papa und Mama fürs tägliche Brot hart malochten. Zum Glück verbannten die Seitenbetreiber diese Galerie bei irgend'nem Relaunch Ende 2016!"

Drauf und dran sich parallel zur schlendernden Gangart die aufwendige coiffure tour manuell zu zerraufen, wetterte Hanau-Münzenbergs tonangebende Modegräfin sowie nebenberufliche Initiatorin von Lernprozessen: "Und so was will 2021 Abitur machen! Wobei sie wegen Corona jedem die Zeugnisse mit Handkuss nachwerfen werden. Egal: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht aufs Maul. Jedenfalls müssen wir Bienchen nach bestandenem Abi unbedingt sinn-voll mit dem erstbesten einträglichen Posten versorgen. Damit sie nicht noch dümmere Ideen ereilen! Und deswegen trägt die Grafschaft Hanau-Münzenberg den am 28. Oktober 2020 von der Berliner Bund-Länder-Konferenz beschlossenen zweiten Lockdown mit. Gewollt oder un-gewollt."
"Kurze Zwischenfrage. Was hat denn die Marquise mit dieser Entscheidung zu tun???", rätsel-te Quasi-Untertertianerin Yvette fieberhaft.
"Nun, ihr wisst es doch selbst, ihr wieselnden Wieselchen. Abiturszeit gleich Abipartyzeit. Me-moriert ihr jene brisante Problematik, die ich euch neulich näherbrachte?"
"Das mit den Oberstufenschülern?"
"Genau das, Chantal, Haselmäuschen. Was denkst du, machen Abiturienten gerade?"
"Ähm, schon fürs Abi lernen?"
"Auch. Doch überleg weiter. Natürlich erarbeiten Planungsgruppen derzeit Vorschläge, wie Co-ronafrustrierte in partyfeindlichen Zeiten trotzdem abfeiern können. Die umklammern jeden sich bietenden Strohhalm. Jeden. Und jetzt zähl bis zwei."
"Ach sooo, falls nächstes Frühjahr weiterhin bundesweiter Lockdown herrscht, dann einfach rüber über die Grenze, weil dein Mann es verlockend locker sieht."
"Oui! Exactement, ma chère! Hatte ich euch vom drohenden Super GAU erzählt?"
"Nein. Das wäre?"
"Unser herrschaftliches Residenzschloss geriete in größte Gefahr. Die sind doch alle betrun-ken. Im Suff versuchen bald erste Wagemutige die Stützmauer zu erklimmen, anstatt zwei si-chere Aufwege zu nutzen. Schnappen Gitter, welche während der weltweiten Grenzschließun- gen den abmontierten Schiffsanleger umzäunten. Lehnen sie an. Klettern hoch oder machen Räuberleiter, purzeln hackevoll reihenweise zu Boden. Erfolgreichere johlen am Geländer, ani-mieren unten Zögernde zur Nachahmung, spornen Runtergeknallte zum Wiederholungsver- such an. Szenen wie 1989 am Brandenburger Tor. Besoffene Geschichtsprüflinge gröhlen: Die Mauer muss weg!!!!! Inszenieren gar den Sturm auf den Winterpalast aus Sergeji Eisensteins Film Oktober, versuchen als Bolschewiki unter Lenin! Lenin! Rufen einzudringen. Damit nicht genug. Alles latscht mit Bier, Sekt, Wein und Wodka bewaffnet durchs gepflegte Areal. Tags-drauf bewundert ihr Müllhaldengebirge. Bääääääääääähhhhhhh, und überall an Büschen und Bäumen widerliche Ersatztoiletten!!!!! Iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiihhhhhhhhhh!!!!!"

"Vollkommen einleuchtend! Oh, wie gescheit du bist, Constanze! Dir macht keiner was vor! Du bist echt die beste Lehrerin auf der ganzen Welt!", fasste Yvette die Ausführungen der Schul-exkursionsleiterin zusammen. "Jenseits des Mains könnten sich das Abgänger niemals erlau- ben. Aber hier - wenn Dennis Kevin alles normal laufen ließe. Jawlonskjis Hanauer Bataillon wäre absolut hilflos überfordert. Weiter entlang des Mains bis Dörnigheim, auf dem verödeten Langenselbolder Flugplatzrasen oder sonstwo würde es genauso heftig abgehen. Darf ich dei-nen Regenschirm tragen, Stanze?"
​
Zuvor von Erwachsenenohren ungehört untereinander Schleimerin! und Selber Schleimerin! zickend allesamt an den Spielplätzen angelangt, unternahm Pennälerin Veronique dort Anläu- fe, ein im Eifer des Gefechts versandetes Streitgespäch neu anzukurbeln. "Also, ich sehe das mit dem jetzigen Lockdown weiterhin unproblematisch. Lest dieses Hinweisschild:

Im Vergleich: Bernhardettes Foto vom März."

Circa zwanzig Meter weiter baute das Schulmädchen im Angesicht zum kindlichen Zeitver-treib einladender Abenteuergeräte seine Position aus. "Immerhin dürfen Kinder heute an der frischen Luft ausgelassen spielen und nach Herzenslust toben. Keine fürchterlichen Verbots-schilder, keine deprimierenden Absperrbänder."

"Lasst uns zum Main zurückgehen und dann die Rampe rauf, oder über die Treppe, den Weg an der Orangerie vorbei haben wir erst gestern genommen", schlug Bernhardette Constanze Amalias untertänige Regenschirmträgerin alternative Routenverläufe vor. Allgemeine Zustim-mung. Vorher jedoch setzte Veronique, dem Holzpielplatz unverändert zugewandt, begonne-nes Pro-Plädoyer fort.
"Klar dass Berlin drastische Maßnahmen relativ kurzfristig bereits für den 02. November, gül-tig bis zum 30. November, beschloss. 19059 Neinfektionen am 31. Oktober, die 7-Tage-Inzi-denz auf 110,9 gestiegen. Wahnsinn! Ihr erinnert euch? Frau Merkels düstere Prognosen la-gen bei 20000 für Ende Dezember! Angesichts solch dramatischer Entwicklungen drohte die gesamte Lage zu esklalieren. Um mit der Bundeskanzlerin zu sprechen: Wir müssen handeln. Und zwar jetzt! Das hatte wohl selbst Thüringen eingesehen. Denn alle wissen: Die Pandemie-eindämmung besitzt derzeit oberste Priorität.
Ich gebe zu, es gelten sehr strenge vierwöchige Kontaktbeschränkungen. Gastronomie, Kinos, Theater, Opern-, Konzerthäuser sowie andere Freizeiteinrichtungen machten zu. Schulen und Kitas hingegen bleiben verlässlich geöffnet. Ebenso bedienen Friseure, Groß- und Einzelhan-delsgeschäft. All das erfolgt selbstverständlich unter entsprechenden Hygiene- und anderen erforderlichen Schutzmaßnahmen. Und GENAU DARIN liegen meiner Meinung nach gewaltige Unterschiede zum Frühjahr. Deshalb nennt man ihn ja auch Lockdown light. Eine gemeinsa- me, zeitlich überschaubare, befristete Kraftanstrengung zur Vermeidung eines Kollaps des Gesundheitssystems. Das Ziel, unter 50 Neuinfektionen pro 100000 Einwohner in einer Wo-che, schaffen wir locker! Vier Wochen lang Kontakte zu anderen Personen auf ein absolut nö-tiges Minimum reduziert. Maximal zehn Personen des eigenen plus eines weiteren Hausstan- des draußen in der Öffentlichkeit. Allgemeiner Appell zum Verzicht auf Privatreisen, Privatbe- suche und überregionale Tagesauslüge. Das ist wirklich nicht zuviel verlangt. Dabei fällt dir kein Stein aus der Krone. Schließlich haben wir nur noch elf Tagen zu überstehen. So lange geht's genauso gut mit Essenslieferan..."
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"HA!!!!! ENDLICH!!!!! DA KOMMT EINS!!!!!", unterbrachen der Paukerin wilde Freudensschreie die Rednerin. Obgleich SIE es war, welche ihre Schutzbefohlenen unermüdlich dazu anhielt, Gesprächsteilnehmer im Unterricht fein aussprechen zu lassen. Ausblicke auf fette Beute wo-gen anscheinend mehr als pädagogisch wertvolle Worte.

"Hey, cool!", lachte Yvette. "Amalias App kommt zum Einsatz!"
"So ein Mist!!!". Die Stimme der Smartphonebesitzerin zeugte von Pessimismus. "An dem ver-dienen wir heute nichts. Fährt m i l l i m e t e r g e n a u auf der Grenzlinie. TOLL! Wofür teure Funktionen zur Schiffsüberwachung anschaffen, wenn kaum jemand falsch navigiert?"
Chantal überlegte: "Hm, vielleicht hatte er uns ja bemerkt, ahnte anhand der historischen Klei-dung gleich Böses und lenkte rechtzeitg gegen. So wie wachsame Autofahrer von weitem Ra-darfallen erkennen. Mode um 1780 wirkt halt im 21. Jahrhundert ziemlich auffällig."
"Ooooder", fügte Sylvie hinzu, "es hat sich bei den Kapitänen herumgesprochen, dass wir un-sere morgentlichen Spaziergänge unter anderem am Main entlang machen. Sind daher vor-sichtig, damit's nachher kein teurer Spaß wird. So wie sich Autofahrer per Lichtsignal recht-zeitig vor Radarfallen warnen."
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"Egal!!!!!", erklärte die gescheiterte Piratin pampig, nachdem das Schiff außer Sichtweite war. "Wird schon noch, nur die Ruhe. Wir warten hier ganz einfach, bis der nächste Kahn anschip-pert. Derweil ordere ich Maler, damit sie den Grenzstein da frisch überstreichen. Der hat's ja wirklich bitter nötig. Steht schließlich bei Wind und Wetter rum."

Quartanermädchen Veronique hob daraufhin eifrig den rechten Arm gaaaaaannnnz weit nach oben, so weit es ging. Stützte ihn sogar mit dem linken, verdeutlichte über begleitende Mimik zusätzlich, dass sie von ihrer Lehrerin JETZT unbedingt drangenommen werden wollte. "Ja, Veronique?", erklang umgehend erlösendes Aufrufen. "Äääähm...du...Constanze...ich kann aber nicht mehr lange warten. Ich hab's nämlich allmählich genauso dringend nötig. Können wir bitte zum Schloss zurückgehen? Ich muss unbedingt auf die Toilette!"
"Aber selbstverständlich!", antwortete Frau Studienrätin verständnisvoll. "Morgen ist schließ-lich auch noch ein Tag. Da kassieren wir richtig ab!" Sprach's und klatschte zum Aufbruch.
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Während sie die Müssende solidarisch begleiteten, nutzte Yvette, gleichermaßen Contra-An-hängerin durch und durch, sich bietende Redechancen zur Zementierung des vorhin seitens Fraktionskollegin Sylvie vertetenen Standpunkts. Dabei wie alle anderen drei, angeleitet von einer sachte vorneweg trippelnden, mal nach unten, mal geradeaus lugenden, dabei unab-lässig Passt bitte auf, ihr schnurrenden Kätzchen, heute früh hat's arg geregnet! mahnenden Fährtenleserin, durch Hochziehen des Kleides und Mantels erfolgreich darum bemüht, wenn zwar sämtliche Sohlen und Absätze längst erbärmliche Anblicke boten, elegantes Stoffequip- ment auf durchnässten Parkwegen mit möglichst geringen Mengen Matsch und Pfützenwas- ser in Kontakt zu bringen.

"Um nochmal auf den sogenannten Lockdown light zurückzukommen", begann die Abgeord-nete selbstbewusst, "wundere ich mich doch sehr über derart viele mit ihm verbundenen Ein-schränkungen. Du liegst natürlich richtig, Süße, einiges ist nicht mehr so streng wie im ersten. Friseure etwa dürfen weitehin bedienen."
"'Coiffeur', mein pechschwarz gelocktes allerlieblichstes Schneewittchen!!!!!", funkte die Wis-sensvermittlerin gewählten Ausdrucksstil verbessernd dazwischen. "À la cour sagt man doch 'Coiffeur'! Auch wenn wir in intimer Runde babbeln wie uns der Schnabel gewachsen ist. Den-noch. Sich dabei ganz dem gemeinen Volk auf den Gassen anbiedern möchten wir uns beim Parlieren selbstverständlich nicht. 'Coiffeur', heißt das! 'Coiffeur'! Fürs nächste Mal!"
"Oh, bitte, verzeih Bernhardette!!!!!", erwiderte Yvette einsichtig. "Ist mir einfach rausgerutscht. Kommt NIE wieder vor. Verspochen! Ich wollte damit ja auch nur andeuten, dass mich dieses Getue äußerst skeptisch macht. Insgesamt betrachtet gelange ich nämlich beim Betrachten des Maßnahmenkataloges zum Fazit, dass Deutschland letztlich einen totalen Stillstand na-mens light aufgebrummt bekam. Klingt vornehmer. Bedenkt, es sind nicht bloß Theater oder Opernhäuser, nein, Kinos, Fitnesssudios, Bars, Clubs, Discos Kneipen, Kosmetikstudios sowie andere Dienstleistungsbetriebe im Körperpflegebereich, alles dicht! Ferner der Sport. Bis auf individuelle Betägigung allein läuft nix mehr. Freizeit- und Amateursport? Eingestellt! Fußball-fans können Gott danken, Bundesliga läuft ohne Zuschauer im Stadion weiter. Jetzt frage ich dich ernsthaft, Süße: Wo ist bitteschön DA noch ein großer Unterschied zu Lockdown 1? Viel-mehr beschleicht mich schwer der Verdacht, jene Begriffswahl soll den Deutschen drüben ei-nen baldigen richtigen Lockdown 2 schmackhaft machen. So als eine Art versüßendes Billet. Halt damit die Mensch..."
"Meine Güte...Schneewittchen!!!!!" Frau Lehrmeisterin brach vor lauter Rührung in Tränen aus. "Mon dieu, wie standesgemäß adäquat du dich ausdrückst!!!!! Oui!!!!! 'Billet'!!!!! Nicht wie unge-bildete Paysans 'Eintrittskarte'. Oder schlimmer: 'Ticket'. Das ist ja suuuuuuuuper!!!!! Das nen-ne ich authentisches höfisches Gebabbel!!!!! Dafür gibt's gleich eine 1+ ins Notenbuch!!!!!! Mit vier Sternchen!!!!! Und du überspringst die nächste Klasse, besuchst direkt die Obertertia!!!!! Weiter so, weiter so!!!!!"
"Sorry, Rosenrot, jetzt mal ganz sachlich unter Mädels. Selbst meine böse Stiefmutter glaubt dir kein Wort. Eher beißt sie freiwillig in die giftige Apfelseite, ich schwör!!!!! Sag, Schätzchen, wusstest du, dass der interne Name besagter Einschränkungen Wellenbrecher-Shutdown lau-tet? Nein, wusstest du nicht! Ansonsten würdest du dich nämlich unter Garantie Sylvies und meiner Meinung anschließen. Wellenbrecher-Shutdown!!!!! Hier geht's um keine moderaten Töne. Man will vielmehr der zweiten Welle verzweifelt Widerstand leisten. Dämmert dir was? Genau dazu passt jene von Sylvie treffend erkannte auffällige Vielzahl angeordneter Restrik-tionen. Ich ergänze. Messeveranstaltungen, Spielhallen, Casinos, Wettbüros. Inländische Über-nachtungsangebote verboten, ausgenommen für notwendige Zwecke. Und weil es nicht reicht: Schwimm- und Spaßbäder, Saunen, Thermen. Daaaaas soll ein Lockdown light sein? Deshalb: Schließ dich unserer Überzeugung. Wirst ja sehen Ende November! Und die Grafschaft Hanau-Münzenberg ist genötigt, mitzuspielen!"
Schloss Philippsruhs rückwärts gelegene Fassade erschien. Chantal, bei Pro&Contra stets auf Ausgleich bedacht, stoppte kurz, versuchte auch dieses Mal, zwei unversöhnlich aufeinander- prallende Ansichten gemeinsamen Lösungen zuzuführen. Einigungen, welche Ansichten bei-der Parteien paritätisch verbanden, sodass Kontrahentinnen weder als Gewinnerinnen noch als Verliererinnen daraus hervorgingen. "Hört mal, wie wär's, wenn wir ganz einfach das Wet-ter als übergeordnete Instanz entscheiden lassen?", schlug die neutrale Schiedsrichterin, vor-witzig an Bernhardette Constanze Amalia von Hanau-Münzenberg vorbeigehuscht, zum nahen Zentrum neo-absolutistischer Grafenmacht schauend vor.

"Hä? Das Wetter?", spendete Quasi-Obertertianerin Yvette verhaltenden Applaus.
"Warum denn nicht? Wir machen's wie Wetterfrösche. Verzieht sich das Wolkengrau, bleibt's beim Lockdown light. Bleibt's hingegen trist, blüht den Deutschen und Hanau-Münzenbergern Lockdown 2. Einverstanden?"
"Wettervorhersage wie Wetterfrösche? Quaak, Quaak! Quaak! Quaak! Alles klar, Süße!", unkte Sylvie.
"Ähm, könnten wir vielleicht bitte weitergehen?", bat Veronique. Liebevoll hakten Chantal und Yvette sich bei ihrer Schulkameradin ein, Chantal links, Yvette rechts, wollten auf den letzten Metern zum Gebäude gehörig Mut machen."Ganz im Ernst, Mädels. Ob Lockdown light, Lock-down 2, tse, meinetwegen auch gar keiner, ist mir ehrlich gesagt eigentlich piepegal! Ich muss voll aufs Klo! Und das einzige, was in diesen außergewöhnlichen Zeiten zählt, ist beim Aufsu-chen des WC-Raums die beruhigende Gewissheit, wirklich bedenkenlos zum Toilettenpapier greifen zu können. Bin ja immer noch geschockt von der Klopapierkrise, die im März herein-brach."
Endlich lag das herbeigesehnte Seitenportal vor ihr.

"Ey, gibt's ja gar nicht!", staunte die Klassenbeste ungläubig, prompt nachdem Diener die Tür hinter Rosenrot geschlossen hatten. "Der Himmel klart auf!"

Chantal, eben noch als Naivchen belächelt, grinste triumphierend. "Siehste, Süße, der Wetter-frosch ist gerade voll aktiv. Gleich verkündet Quaki das Ergebnis. Entweder wird's schön oder es zieht sich wieder zu. Aaaaalso, momentan stehen alle Möglichkeiten offen."
"Ok, Veronique, liegt richtig. Lockdown light, ganz eindeutig", kommentierte Sylvie das aktuelle Geschehen am Firmament.

Flott fegte Yvette zum diskretionshalber mit undurchsichtigem Milchglas eingefassten Fens-ter, erpicht darauf, neuesten metereologischen Klatsch und Tratsch brühwarm aufzutischen. "Biste da, Süße?"
"Yooooooo!!!!!", hallte es dumpf zurück.
"Wette gewonnen! Lockdown light! Glückwunsch! Keine Krise, kannst Klopapier abreißen, wie-viel du willst!"
"Suuuuuuuupiiiii!!!!!"

"Oh, mein Gott, sag ihr, bloß nicht!", kommandierte Sylvie retour. "Sie muss unbedingt haus-halten! Oh, mein Gott! Das schöne Blau! Als wär's nie gewesen!"

Flott fegte Yvette zum diskretionshalber mit undurchsichtigem Milchglas eingefassten Fens-ter, erpicht darauf, neuesten metereologischen Tratsch und Klatsch brühwarm aufzutischen. "Biste noch da, Süße?"
"Yooooooooo, brauche ewig!!!!", hallte es dumpf zurück.
"Ok, supi! Hör gut zu, Süße, musst dir's dann unbedingt sparsam einteilen! Dieser bescheuerte Frosch hat sich's gerade anders überlegt! Lockdown 2! Denk dran. Nur das nötigste. Ökono-misch abreißen!"
"Boaah...neeeeeeee, ey!!!!!"

"Kiiiiiiiinnnnndeeer! Kommt bitte alle mal heeeeer zu mir!" Chantal, Sylvie und Yvette wetzten. "Hört jetzt guuuuuut zu, ihr flinken Gazellen! Was das ausgiebige Verweilen auf dem gewissen Örtchen anbelangt...seid wirklich unbesorgt! Sie konnten uns nur deshalb treffen, weil Schloss Philippsruh wehrlos war. Unvorbereitet. Da zahlte die Grafschaft Hanau-Münzenberg bitteres Lehrgeld. Nach Lockdownende orderte Zuckiputzi umgehend Vorräte en masse. Das Karussell ist bis oben hin vollgestopft. Womit wir diesen dämlichen Gäulen mächtig eins ausgewischten. Hahahaha, sind die wütend, vagabundieren notgedrungen kreuz und quer herum, klingeln um Quartier. Geschieht denen recht!!!!! Nur, weil die Hanauer sie lieben und verehren, ja, Leute sich sogar teils vor Haustüren prügeln, weil jeder beherbergen möchte, unfassbar, glaubt das Pack, sich Dennis Kevin und mir gegenüber alles rausnehmen zu können! Spielen sich als Ha-naus Staranwälte für Recht und Freiheit auf. Pah! Schnüffler sind das! Wollen uns was anhän-gen, damit wir hurtig Leine ziehen. Unverschämtheit! Zurück zum Thema. Glaubt mir. Es ist so wie ich euch schon im Oktober beruhigte. Für den Fall der Fälle wird immer ausreichend Ma-terial zur Verfügung stehen. Selbst der linientreue Radiosender musste ihre Niederlage ein-räumen, vermeldete kleinlaut, dass diesmal keine Klopapierkrise existiert - weder hier noch im Bundesgebiet. Berlin schäumt vor Wut. Ihr dagegen könnt seelenruhig schlafen, ohne euch eure hübschen Köpfchen darüber zerbrechen zu müssen."
Drei Quartanerinnen hielten freudestrahlend Händchen. Welche Besorgnis nahm Lieblingsleh-rein Bernhardette Constanze Amalia Gräfin von Hanau-Münzenberg von ihnen. Der Märzalb-traum! Niemals würde er wiederkehren! Niemals! Flott fegte Yvette los.
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Sichtlich erleichtert stieß Veronique wieder zum Klassenverband hinzu. Angesichts des Um-stands, dass es noch relativ früh war, Joseph Haydns Streichquartett in d-Moll Opus 42, kom-poniert 1785, erst um 11 Uhr auf dem Programm stand, vorgetragen von maskierten Musi-kern, setzten sie den Weg noch ein paar Minütchen fort.
Vor sieben Monaten hätten sie es fast geschafft, Berlin, Brüssel, Washington - und wer sonst noch zur Zeit alles mitmischt!", tönte Frau Lehrerins Zornesstimme hinüber zu gegenüber lie-genden Parkbäumen. "Zuckipzutzi dachte kurzzeitig daran, auf Schloss Philippsruh die weiße Fahne zu hissen...politische Gespräche anzubieten...Konzessionen zu machen. Ihr wisst, kaum ein LKW passierte unsere Staatsgrenze mit kostbarem Ladegut. Unverrichteter Dinge, Achsel zuckend, betreten erstatten Brummifahrer Bericht. Lieferketten gekappt. Die Deutschen hat-ten das Wenige rechtzeitig für eigene Supermärkte beiseite geschafft. So zumindest offiziell. HAAAA!!!!! Ihr in Deutschland wollt mich wohl für dumm verkaufen!!!!! Gesteht: Anweisungen von ganz oben!!!! Unsere Rettung war, dass deren Strategen Taktikänderungen vornahmen, primär auf finanzielle Schläge abzielten. Klopapierrollen gab's irgendwann wieder genug. Der weltweite Tourismus lag allerdings auf unabsehbare Zeit in tausend Scherben. Über Agenten hatte man gewiss Wind davon bekommen, was wir in Langenselbold Großes vorhaben."

"Du meinst, das mit dem gefloppten Flugafenausbau?", mutmaßte Chantal. "Ich weiß nicht, mir erscheint das zu konstruiert. Spionage? Und du bist dir sicher, nicht der Querdenkerbewegung anzugehören? Sei ehrlich, insgeheim bist du Querdenkerin! Überführt! Gib's zu, Constanze!"
"Wenn's bloß so wäre, Dornröschen!", keuchte diese, zückte, wie gerne unterwegs, jenes uner-hört kostspielige Smartphone, stürmisch umringt von aufmerksamen Mittelstufenschülerin-nen. "Ach, flauschige Angorakaninchen, anscheinend bringen irische Nonnen im Klosterinter- nat mehr Beten als Betriebswirtschaft bei. Ihr dürft das Bauprojekt keinesfalls isoliert anse-hen. Nach feierlichem Startschuss fuhr wir in unserer achtspännigen Karosse nach Langen-selbold hinein, um dort den zum prachtvollen Luxushotel umgebauten rechten Schlossteil ein-zuweihen. Der linke Trakt sollte 2021 fertiggestellt sein Hier, das war auf dem Weg zur an-schließenden Champagnerparty. Kaiserwetter. Besser ging's nicht. Hanau-Münzebergs Roi du Soleil. Vier in verschwenderischem Rokokostil eingerichtete Präsidentsuiten. Klangvolle Na-men: 'Louis XV.', 'Casanova', 'Pompadour', 'Tiepolo'. Preis pro Nacht diskretes Schweigen. Hät-ten unsere Superreichen nicht gewusst, in Langenselbild zu logieren, wäre ihnen Versailles in den Sinn gekommen. Tja, seit März steht's leer. Warum, wissen wir ja."

"Oh mein Gott, Amalia, jetzt verstehe ich. Was ihr da für Geld reingesteckt habt!!!!!", reagierte Sylvie bestürzt. "Investition nennt man so etwas, Schneeweißchen, Investitiooooooooon", weh-kagte es."Allein das Gold für Geländer, Duschen und Wasserhähne verschlang Unsummen. Trifft aber auch drüben Nobelabsteigen. Hessischer Hof in Frankfurt, DIE ADRESSE. Ist erst der Anfang. Gebe der Villa Kennedy bis maximal März 2022, dafür braucht's keine besonderen hellseherischen Fähigkeiten. Gütiger Himmel, und wie viel wir in Luxussegelboote reinbutter-ten!!!!! Erschöpft vom anstrengenden Goldsuchen sollten die Krösusse abends gemächlich auf dem Kinzigsee beim Sundowner entpannen. Ganz da hinten links, erkennt ihr sie? Warten fest vertäut auf bessere Zeiten."

Da gingen vier unbescholtenen Maiden die Augen auf, und sie erkannten bestürzt die wahren Ausmaße des globalen Katastrophenfalls. "Die haben dem eigenen Volk im Supermarkt Klopa- pier vorenthalten, opfern Frankfurter Topphotels. Nur damit's offiziell danach aussieht, dass beide Länder gleichermaßen Leidtragende sind. Selbstredend lässt man Deutschland über die eigentlichen Hintergrürnde im Unklaren", enthüllte Hanau-Münzenbergs Aufklärerin auf dem Schlussspurt.

Harter Tobak für frühere Nonnenschülerinnen."Letztlich jedoch war jenes WC-Druckmittel le-diglich zweite, eher amüsante Wahl zum Zeitvertreib. Damit's nebenbei ordentlich was zu la-chen gibt. Aktion Nummer 2 hingegen, weitaus gefährlicher, DIE entscheidet. Obwohl sie uns mit der ersten mürbe geklopft hatten. Ausschließlich besagtem Strategiewechsel verdanken wir unser politisches Überleben. Und alles bloß wegen dieses Gestörten, der einen auf Zu-baráns Franz von Assisi machte. KNALLTÜTE!!!!! Wehe dir, wenn ich dich zwischen die Finger kriege, landest ohne lang zu fackeln im Karussellgewölbe bei Wasser und Brot!!!!! Ein Lettre de Cachet zur Fahndung ging raus."
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"Hier Bernhardette, dein Regenschirm. Ich habe ihn dir tootaaaaaaal gerne getragen!", machte sich die Prima inter pares bemerkbar. "Darf ich morgen wieder? Biiiiiiiiitteeee!!!!!" Und mit von Erwachsenenohren ungehört untereinander "Schleimerin!" und "Selber Schleimerin!" zickend betrat die 7. Klasse am Morgen des 19. November 2020 das ehrbare Schlossgymnasium.
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Epilog 3
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"Bernhaaaardeeeeeeeeeeette!!!!! Huuuuhuuuuuu!!!!! Wo biiiiiiiiiiiiiisssst duuuuu?????" Hofdame Veroniques vom Philippsruher Schlosspark den an der Landstraße gelegenen Häusern entge-genschwirrende Organlaute durchpflügten unüberhörbar die feuchtkalte Morgenluft.
Erzählrunde 9

Sie stoppte. Ihre Kolleginnen, welche circa drei Meter dahinter folgend das weitläufige Areal mit Argusaugen nach allen Seiten absuchten, holten geschwind auf.
"Nichts! Null! Überall absolute Fehlanzeige! Dabei drehen wir bereits Runde 2!", tönte Yvettes ernüchterndes Fazit bisheriger Bemühungen. "WO steckt Constanze bloß?"
"Oh, nein, jetzt schneit's auch noch leicht!" Sylvie blickte zum Horizont hinter dem Gelände, gerade Schauplatz dramatischer Auseinandersetzung zwischen trüber Tristesse sowie leicht bläulichem Hoffnungsschimmer.

"Maximal 4 Grad plus gibt's, meldete meine App. Hoffentlich hatte Constanze beim Rausgehen Mütze, Schal und Handschuhe dabei. Brrrrrrrrrrrrrrr, wie ungemütlich!"
"Na ja, aber seien wir mal wieder ehrlich zu uns selbst, Mädels. Es war vorhersehbar. Nur eine Frage der Zeit." Veroniques Bemerkung klang vorwurfsvoll. "Kein einziger ärztlicher Rat wurde von Amalia am 16. Oktober beherzigt. Vierundzwanzig Stunden Bettruhe? Pustekuchen! Wie-selt kaum gefrühstückt rastlos von drinnen nach draußen hin und her. Hektisches Überprüfen letzter Vorbereitungen. Die Barockoper nachmittags auf dem Rasen. Anschließend Diner rund ums Teichbecken. Bernhardette in ihrem gastgeberischen Element."
"Was für ein Wahnsinn!", hörte man Yvette ebenfalls deutliche Kritik üben. "Drei Stunden Anto-nio Vivaldis Dorilla in Tempe von 1726, inclusive Pause, und ebenso lange Schlemmen!"
Chantal ergänzte den Unmutsreigen. "Sechs Stunden Jubel, Trubel, Heiterkeit mit festgestell-tem Marie Antoinette Syndrom! An DIESEM Tag! Jetzt hat sie dafür die Quittung bekommen!"
"Außerdem", missbilligte Sylvie, "entstand dadurch die äußerst trügerische Annahme, Corona liege nach zwei Lockdowns nun Gottseigelobt mehr oder weniger auf dem Müllhaufen der Ge-schichte. Zugegeben, aufgrund der von ihm neben sämtlichen Bundesmaßnahmen mit über-nommenen hessischen Coronavirus-Schutzverordnung, konkret jener vom 22. Juni 2021, Fas-sung vom 11. Oktober 2021, gültig ab 14. Oktober 2021, gültig bis 05. November 2021, stand Dennis Kevin gemäß §26a - Option für den Zugang ausschließlich für Geimpfte und Genesene formal im Recht. Dieses 2G-Zugangsmodell ermöglichte mit entsprechenden Außenhinweisen als solche gekennzeichnete Veranstaltungen ohne Maskenpflicht, Abstands- und Hygienekon-zept sowie Einhaltung von Kapazitätsbeschränkungen. Okay, damit fiese Internet-Trolle unse-rer geliebten Grafschaft Hanau-Münzenberg nachträglich nicht doch irgendwie ans Bein pin-keln konnten, verlegte er Oper samt Essen vorsichtshalber lieber ins Freie. Abgesehen davon schätzte Bernhardette Deutschlands Coronasituation ohnehin falsch ein, dachte voreilig tie-fenentspannt an die per Regierungsbeschluss zum 25. November 2021 auslaufende Epidemi- sche Lage von nationaler Tragweite. Paradoxerweise zeitgleich zur auftretenden Omikronvari- ante. Klarer Beweis, welch immense Bedrohung CoVid-19 weiterhin darstellt. Aber wehe, du erwähnst das."
"Aus dir spricht Hanau-Münzenbergs geborene Paragraphenreiterin", lachte Yvette, "bringst es noch bis zur Amtfrau."
"Immerhin, verbeamtet sind wir bereits", grinste Sylvie zurück. "Anders als im 18. Jahrhundert übertrug uns Amalia nämlich aus Gründen innigeren Beisammenseins viele frühere Zofenauf-gaben. Und weil Zofen zu den Hofbeamten zählten, sind wir Beamtinnen. Auf Lebenszeit. Aber stimmt natürlich, Amtfraukarriere wäre natürlich super."
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Während beide sofort über den für Sylvie wohl geeignetsten gräflichen Amtbereich zu disku-tieren begannen, beäugte Veronique das jahreszeitlich bedingt abgelassene Springbrunnen- bassin, am 16. Oktober 2021 Ort unbeschwerter, Corona trotzende Gaudi, wo flitzende Diener der entlang des Beckenrandes an prallvoll gebogenen Tafeln sitzenden, vorne am Schlosstor 2G kontrollierten Gesellschaft ohne Unterlass großzügig noch mehr auftaten. Und großzügiger noch mehr nachschenkten. "Könnte es vielleicht sein, dass Bernhardette gar nicht herumspa- ziert, sondern sich heimlich irgendwo hinter Büschen oder Bäumen verbirgt? Sie liebt lustige Versteckspiele."

Daher beschlossen alle einstimmig, ihre begonnene Suchaktion in Form munterer höfischer Kurzweil fortzusetzen. Wenige Schritte vor gemeinhin als verstecktauglich erachteten Park-bepflanzungen sollten traditionell jeweils zwei für die vom potentiell gewählten Verbleib aus gewiss listig Lugende völlig überraschend losstürmen. Dadurch erfolgreich aktiviertes reflex- artiges Fluchtverhalten bewirkte, dass Gräfin von und zu Aufgescheucht entweder dem ste-hengebliebenen Duo entgegenstolperte oder zum nächstbesten Sichtschutz hastend von be-sagten Fluchtreflexauslöserinnen in flagranti ertappt wurde. Eins stand allerdings fest: Fröhli-ches "GESEEEEEEEEEEHHHHHEEEEEEENNNN!!!!!! bedeutete heute gleichzeitig das Ende vom verspielten morgentlichen Passetemps.
Felsenfest überzeugt, die spurlos sämtlichen Gemächern Entflohene so baldmöglichst wieder ins Schlossinnere zu bugsieren, zog das Quartett in angestammter Formation weiter.
"Ey, Süße, halt mal an, brauch dringend ne Sitzpause!", vernahm Veronique, voller Tatendrang neuerlich den runden Händelautsprecher bildend, Yvettes Genörgel.

"Bin k.o. vom Absuchen! Die Sorge um Amalias Wohlbefinden zehrt an meinem zart besaiteten Nervenkostüm!"
"Daaaaaaaa drauf????? Iiiiiiiiiiiiiiiiiiih!!!!!!", reagierte Fräulein Ruferin zimperlich. "Deine schicke Kleidung im Modestil um 1780 wird ruiniert sein!!!!! Nass wie das Holz ist kriegen mich keine zehn Pferde drauf!!!!!!"
"Wartet!" Chantals Smartphone blitzte hervor. Kaum aufgelegt spurtete aus der Ferne Diener Jonas rot-gelb livriert, mit weißer Zopfperücke und grauem Putzlappen athletisch herbei, um, angeleitet von vier demonstrativ ausgesteckten Zeigefingern, es den Ehrenjungfern genehm zu machen.
"Und spar dir gefälligst dein freches Grinsen, wir flirten nicht!", befahl Yvette brüsk, ehe Mister Sunnyboy, der zu Beginn von Lockdown 1 seinen frauenumschwärmten Fitnesstrainerjob ver-lor und prompt als Lakai neues Auskommen fand, enttäuscht abzog.
"Aaaaaaaah...ein Päuschen zwischendurch...tut daaaas guuuut!", seufzte Veronique erleichtert. "Und die paar Flöckchen haben ja eben glücklicherweise aufgehört. Alte Menschen vertragen nimmer so viel."
"Oh, Gott! Stimmt!", bestätigte Chantal ungern, "Haben voll die 20 gerammt! Wir bräuchten un-bedingt eine Kur. Drehst durch bei Hofe." Sie griff abermals zum Mobiltelefon. "Apropos durch-drehen. Vorgestern schaffte es Constanze eeeeeeeeeendlich, mir die seit Ewigkeiten verspro-chenen Fotos von Alessa Marie draufzumachen. Ihr erinnert euch? Das mit den Gänsen!"
"Nachher", winkte Sylvie desinteressiert ab. "War doch eh spaßig gemeint."
"Dachte ich zuerst ebenso, Süße, dachte ich zuerst ebenso. Gleichwohl, wenn du DIE siehst, vergeht's dir, ich schwör!"
"Zeig mal."
"Hier. Ewig her. Sommer 2013. Lange vor Hanau-Münzenbergs Wiederbelebung. Egal. Jeden-falls herrschte auf der staugeplagten A3 aufs Neue Stillstand, weshalb Kaisers am Offenba-cher Kreuz abfuhren, um über Neu-Isenburg, Heusenstamm und Obertshausen zügiger voran-zukommen. Doooof, dass andere diesselbe Ausweichroute kannten! Als sie nach über andert-halb Stunden Schneckentempo vor Obertshausen diesen Anglersee erreichten, immerhin, er-zwang Amalia entnervt eine Rast, bis der Verkehr autoinsassenwürdige Verhältnisse gestatte- te. Direkt am See liegt eine gemütliche Gaststätte, und bis es zum Abendessen ging, vertrieb man sich in Ufernähe die Zeit.


"Total schön!", schwärmte Yvette, soeben neues Ausflugspotential sichtend. "Wie wär's, wenn wir an einem unserer freien Tag Obertshausen beehren?"
"Ja, aber lest Alessa Maries peinlichen Bildtext darunter!", konkretisierte Veronique. "Schreibt, die Kanadagänse hätten ihr schnatternd versichert, sie stehe am Great Bear Lake."

Sylvie korrigierte eilig: "Sorry, sorry, das ist schon mehr als peinlich!!!!! Das ist restlos behäm-mert!!!!! Derart dumm kann wirklich keine Elfjährige sein!!!!! Dann glaubte sie vermutlich im Restaurant, die Familie speise mitten in den kanadischen Northwest Territories."

Chantals Mimik sprach Bände. Auf ihr Display gelangte alsbald Foto 4, dessen inhaltliche Aus-sage die vorletzte nochmals in aller Deutlichkeit unterstrich. Obertshausens kommunikations-freudige Wasservögel, welche Ehepaar Kaisers elfährige Filia schnabelgewaltig siegreich be-schwätzten, weniger im Landkreis Offenbach, nein, vielmehr in Kanadas Nordwesten zu sein.

"Augenblicklich gut festhalten, Mädels! Angesichts SO VIEL Blödheit kippt ihr ansonsten um!", warnte Chantal. "Amalia benötigte enorme Überwindungskraft, um DARÜBER reden zu kön-nen. Aufgepasst! Bevor Kaisers einkehrten, erkundete Dennis Kevin mit Alessa Marie die Ver-kehrslage. Unverändert endloser Rückstau, die A3 Richtung Würzburg weiterhin dicht. Egal. Auf jeden Fall liegen da Getreideflächen. Oh, Gooooooooott...kann's nicht berichten...mir...mir... mir...stockt der Atem beim Gedanken an DIESE Aufnahme...tut mir leid."
Von ungeduldigen Tratschliesen inständigst bekniet, sprudelte aus der Klatschtante daraufhin ungebremst "Aber auf EURE Verantwortung!!! Auf EURE Verantwortung!!! Auf EEEEEUUUUURE Verantwortung!!!" heraus.

Sylvie, ihre Neugiersucht auf der von Jonas akkurat gereinigten Sitzgelegenheit bitterlich be-reuend, wimmerte Yvette und Veronique aus dem Herzen. "Sag mir bitte, dass das alles nicht wahr ist!!! Bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist!!! In der Tat, ich hatte mich bei den Beschrei-bungen bisher andauernd gefragt, was unsere dumme Pute am See mit Getreide meint."
Chantal informierte: "Beim Post handelte es sich um eine sechsteilige Fotoserie. Unterschied-liche Aufnahmen, gleichbleibender Kurztext. Egal. Kaum mit Dennis Kevin wieder in Sichtwei-te angelangt, rannte sie aufgeregt auf Bernhardette zu, schwenkte triumphierend die Kamera, trompetete angeberisch, soeben vom Abstecher nach Sasketchewan zurückzukehren; sie ex-istierten tatsächlich, riesige Weizenfelder, wie von den Kanadagänsen hier am Great Bear La-ke beschrieben. Könnt euch die furchtbare Blamage vorstellen als Alessa Marie allen Ernstes laut labernd begann, anderen Lokalgästen vermeintliche nordamerikanische Schnappschuss- beweise aufdringlich zu präsentieren."
"Die Weizenfelder von Sasketchewan!" Yvette verdrehte die Augen. "Dümmer als das Hanauer Bataillon erlaubt. So viel Dummheit gehört eigentlich verboten!"
"Was encore une foi beweist: Unser Marquisechen ist nicht nur strunzdumm, es ist dazu gänz-lich hohl in der Birne!", ratschte Veronique genüsslich los.
"Aber eine Marquise de Hanau-Münzenberg!", kicherte Chantal. "Marquisechen!"
"Und Stiftsäbtissin von Ilbenstadt", vervollständigte Sylvie.
"Und Stiftsäbtissin von Ilbenstadt", murmelte Chantal. "Wahrlich, manchmal denkst du, in Ha-nau-Münzenberg im falschen Film gelandet zu sein. Allez, Mädels, wir müssen Bernhardette finden!"
​
Die Beamtinnen hefteten sich wieder an die Fersen ihres Suchobjekts. Bereit, willens, jenes mühsame Unterfangen erfolgreich abzuschließen. Kaum den zum mainseitigen Parkgeländer führenden Querweg gewählt, bevorzugte Yvette allerdings eine für die entsprechend Rollen-verteilung etwa drei Meter entfernt trippelnde Ruferin akustisch gleichermaßen detailliert ver-nehmbare Wiederaufnahme des unterbrochenen Gesprächsfadens. "Ernsthaft, Chanti, Amalia sagt, DAS hätte Marquisechen auf dieser Website gepostet?"
"Ohne Witz. Höchst erfolgreich sogar. Ende 2014. Drei Jahre vor Hanau-Münzenbergs Aufer-weckung von den Toten. Fotoserie 12. Unter insgesamt dreißig mit Abstand die harmloseste. Wobei, letztlich scheint sie ehrlicherweise selbst gemerkt zu haben, dass bei ihr gleich meh-rere Schrauben locker sitzen. Macht im Untertitel die Nachmittagshitze dafür verantwortlich, am Obertshausener Anglersee überraschend Kanadagänse verstehen zu können. Na ja, im-merhin existiert die Mädchenseite in ihrer damaligen Form seit Dezember 2016 nicht mehr, ein Glück, seither ist viel Wasser den Main runtergeflossen. Hoffentlich. Auf alle Fälle dürfen Alessa Maries Fotoserien um keinen Preis nochmal publik werden! Gefundenes Fressen für die Geier! Ihr wisst, seit August 2021 bekommen wir von Dennis Kevin Hassern auf ominöse Weise laufend brisante SD-Karten zugespielt."
"Aber was, wenn ihr Wetterargument gar nicht sooooooooo abwegig ist?", rief Voranschreiterin Veronique im Gehen. "Seht! Zwischen den beiden Bäumen, wie die Sonne probiert, sich durch-zukämpfen! Merkwürdige Lichtverhältnisse! Bei unentwegtem Hinschauen überkommen mich zweifellos ähnliche Stussgedanken, und am Ende erscheinen mir die Uferbäume rechts hin-ten als tropischer Regenwald. Wirst ja plemplem!"

Indes nagende Ungewissheit, ob Philippsruhs mysteriös Verschwundene angesichts maxima-ler 4 Grad Celsius Tagestemperatur ausreichenden Kälteschutz trug, erlaubte keinerlei Muße für eingehendere naturpsychologische Erörterungen.
Intuitiv davon ausgehend, die Versteckspielerin mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Schloss hin aufzustöbern, bogen Bernhardette Constanze Amalias filles de chambre bei der ersten Gele-genheit links ab, patroullierten unter Veroniques Kommando auf das weithin erkennbare Pa-lais zu, als die Vorgeherin plötzlich zur erleuchteten Salzsäule erstarrte. Getroffen von einem Geistesblitz, welcher soeben aus die Umgebung ringsum in matte Farben tauchenden Wolken, vorhin am Horizont Sieger über die Sonne, zuckend ins Köpfchen einschlug.

"Pssssst! Bleibt stehen! Ich gehe jede Wette ein, Bernhardette steckt drüben hinter dem linken Busch. Yvette! Sylvie! Schnell! Los! Damit sie sich nicht davonmachen kann!"
"UUUUUNNNND?????", schrie Veronique, durch den Blitzschlag unverändert dazu verdammt, ungewollt in körperlicher Unbeweglichkeit zu verharren, hinüber.
"NIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIX!!!!!!"

Von der blitzartigen Erleuchtung hinters Licht geführt, indessen als kleine Wiedergutmachung aus dem Erstarrungsmodus entlassen, führte Veronique, dreißig Euro ärmer, ihre Ausschau haltenden Helferinnen durch trostlose Farbkulisse näher und näher ans politische Machtzent-rum Hanau-Münzenbergs heran.
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"He, wartet, bei mir klingelt's...Hofdame Chantal, hallo?" --- ("...") "WAAAAAAAS????? Vorgege-bene Regularien im dritten Smartphone-Akt eigenmächtig über Bord werfend hielt die vorhin vom Streichölzchen-Los eigentlich als Sucherin Bestimmte nach riskantem Überholmanöver (Veronique wäre beinahe vom Parcours gedrängt worden) abrupt inne. ("...") --- "JA, BIN NOCH DRAN!!!!! "NEIN, NICHT MEHR WEIT, SIND GERADE ZURÜCK AM TEICH VORBEI. SEHE SCHON DIE FASSADE." --- ("...")

"SIND SOFORT DA!!!!! WIR FLIEGEN!!!!!"
"Und wer war das?", wollte Veronique umgehend wissen.
"Ihre Privatsekretärin. Rasch, Mädels, Constanze ist aufgetaucht! Hat geschickt falsche Spu-ren gelegt, hielt sich die ganze Zeit über im Boudoir auf. Der Wahnsinn trieb sie letztendlich raus, vor dem Hauptportal zufällig in Carolas Arme. Los!!!!!
Darum nahmen sie alle Beine in die Hand, schossen pfeilschnell zum Eingang. Zwischen Tür und Treppenstufen herrschten unbeschreibliche Szenen. Kratzbürste Bernhardette Constanze Amalia schlug lautstark blind um sich, wollte auf diese Weise vereiteln, von Carola ins Foyer gezerrt zu werden. "LAAAAAASSS MICH LOOOOOOOOOOOS, DUUUUUUUUU!!!!! ICH WILL JETZT DEEEEEEEN BUS VORBEIFAHREN SEHEN!!!!!"

Bestürzt über derartige Ausmaße psychischen Leidens packten Veronique, Chantal, Sylvie und Yvette ohne Zögern mit an. Zehn gemeinsam von hinten ziehende Arme gaben ihr Bestes, jene gen Philippsruher Allee wirkende Kraft F physikalisch umzukehren.
"LAAAAAAASSSSSST MICH LOS, SAG ICH EUCH!!!!! LAAAAAAAAAAAAAAASSSSST MIIIIIIIIIIICH LOOOOOOOOOOOS!!!!! ICH WILL DIE CORONA-AMPEL SEHEN!!!!! IIIIIIIIIIIIIIIIIIICH WIIIIIIIIIIIIIIIIIIIILL DIIIIIIIIIIEEEEEEEE COOOOOROOOONAAAAAAA-AMMPEEEEEEEL SEHEN!!!!! IIIIIIICH WIIIIIIIIIIIIIILL ZUUUUUUUUUUUU IIIIIIIIIIIIIIIIIIHR!!!!! HAHAHAHAHAHA, SIE LEUCHTET ROT, HAHAHAHAHAHA, ABER NICHT FÜR HANAU-MÜNZENBERG!!!!!"

Die Physikerinnen waren einer Verzweiflung nahe.
"HAHAHAHAHAHAHA, DIE 7-TAGE-INDIZENZ VOR EINER WOCHE LAUT RKI 427,7!!!!! GESTERN 638,8!!!!! WOOOOOOOOOOOOWWWW, ES GEHT UNAUFHALTSAM AUFWÄRTS!!!!! DIESMAL JE-DOCH GIBT'S KEINEN LOCKDOWN 3!!!!! HAHAHAHAHAHAHA, DEEEEEEEEEEEEEEEEEEN HABT IHR EUCH NICHT MEHR GETRAUT!!!!! HAHAHAHAHAHAHA, HABT GESCHNALLT, DASS IHR DIE GRAFSCHAFT HANAU-MÜNZENBERG TROTZ ZWEIER VERSUCHE NICHT KLEINKRIEGEN KONN-TET!!!!! HABT'S AUFGEGEBEN, UNS POLITISCH AUSBOOTEN ZU WOLLEN!!!!!!"
Privatsekretärin Carolas Miene beim Fühlen von Gräfin Bernhardette Constanze Amalias Stirn gab Anlass zur größter Besorgnis.
"JAAAAAAAAAAAAAAA, HAHAHAHAHAHAHA, DER SCHUSS IN WUHAN GING VOLLENDS NACH HINTEN LOS!!!!! HAHAHAHAHAHAHAHA, EUER VIRUS GRASSIERT WIE NIE ZUVOR!!!!! ZAHLEN KRACHEN DURCH DIE DECKE!!!!! OOOOOOOOOOOOMMMMIIIIIIIIIIIIIIKROOOOOOOOOONNNNN!!!!! HAHAHAHAHAHAHAHA, DOCH ZUM DRITTEN MAL ALLES DICHTMACHEN WÜRDE DEUTSCH-LAND AUF DIE BARRIKADEN BRINGEN!!!!! HAHAHAHAHAHAHA, DAHER BEHELFT IHR EUCH MIT TRICKS WIE 2G UND 3G, VERKAUFT'S DEN LEUTEN ALS TEILLOCKDOWN!!!!! OOOOOOOOO-OOOOOOOOOOOOOOOOHHHHHH, UND IMPFEN, IMPFEN, IMPFEN NATÜRLICH NICHT VERGES-SEN!!!!!! IIIIIIIIIIIIIIIIIIIMMMER FLEISSIG IMPFEN, BITTE!!!!!"
"Aber, Zaubermaus, genau darin besteht der ganz ganz große Unterschied!", versuchte die aus Osthessen stammende engste Vertraute sachlich zu vermitteln. "Es ist längst nicht mehr wie 2020. Vieles hat sich seither geändert. Denk an die neuerdings mit zu Grunde gelegte Hospita-lisierungsrate. Vor drei Tagen lag sie bundesweit bei 3,17. Den Impffortschritt betreffend hat Deutschland seine Durststrecke offensichtlich prima überwunden. Stand gestern: 75,2% Erst-, 72,9% Zweitgeimpfte, 48,3% Geboosterte. Das sind außerordentliche Verbesserungen! Erinner dich vergleichsweise an den Impfstreit letztes Jahr zwischen EU und Großbritannien. Und an-ders als im März/April 2021 munkelt in Sondersendungen und Talkshows niemand mehr vom drohenden Worst Case Szenario."
"OOOOOOOOOOOOOHHHHH, DUUUUUUUUUUUU, WAAAAAAAAAAAAG EEEES JAAAAAAAAAAA NICHT, MICH ZU BELEHREN!!!!! SONST KANNST DU MORGEN WIEDER IN BEBRA BEIM DIS-COUNTER JOBBEN!!!!!! JAAAAAAAAAAAAAA, UND EUCH...EUCH...EUCH SCHMEISS ICH GLEICH MIT RAUS!!!!!"
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"Tu net so gorrschdisch knoddern, Zuckerhasi, enei mit dir in die Schloofschtubb! Lang genug geguckt, was los is uff de Gass!" In buchstäblich letzter Sekunde gesellte sich Dennis Kevin I. von Gottes Gnaden Graf von Hanau-Münzenberg persönlich dem Gelärme hinzu.
"LAAAAAAAAAAAAAAAS MICH LOOOOOOOOOOOOOOOOS, DUUUUUUUUUUUU!!!!! ICH SAG DIR, LAAAAAAAAAAAAAAAAAAAS MIIIIIICH LOS!!!!! ICH WIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIILL JETZT DAS POSTAUTO VORBEIFAHREN SEHEN!!!!!!"

An des Herrn Fürsten kunstvollen Handgriffen, an der bewundernswerten Fähigkeit, seine wil-de Lady federleicht auf Füßen zu tragen, erkannten sie einundzwanzigjährige Eheerfahrung.
"OOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOHHHHHH...DU...DU...GROBIAN, DU!!!!! DOCH DAS MACHST DU NICHT UNGESTRAFT MIT EINER VON HANAU-MÜNZENBERG!!!!! ICH LASS MICH SCHEIDEN!!!!! SO!!!!! MAMA UND PAPA SIND EH NOCH IMMER GEGEN DICH!!!!! SO!!!!! DAMIT DU'S WEISST, EUER HOCHWOHLGEBOREN!!!!! MÜSSJÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖH DÄNNÜS KÄVÜN!!!!! OOOOOOOOOO-OOOOOOOOHHHHHHOOOOOOOOOOOOOOO, WEN SEHEN WIR DENN DAAAAAAAA???? CAROLA, VERONIQUE, YVETTE, CHANTAL, SYLVIE, IHR AUCH HIER?????? NA, NA, NA, ABER BIIIIIIIIIIIITTE NICHT VORDRÄNGELN BEIM IMPFEN, IIIIIIIIIIIIIIIIIIIMMER SCHÖN DER REIHE NACH!!!!! HAHAHA-HAHAHAHA, IST JA GENUG FÜR ALLE DA!!!!! HAHAHAHAHAHAHA, IMPFSTOFF FÜRS VOLK!!!!! WER WIIIIIIIIIIIIIILL NOCHMAL, WER HAAAAAAAAAT NOCH NICHT????? BITTÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ SÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄHRRRRR!!!!! HAHAHAHAHAHAHAHA, GUT DIE OFFENE SPRITZE AUFGE-FANGEN!!!!!"
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"Hätte nie für möglich gehalten, dass das Louis XVI. Syndrom dermaßen brutal daherkommt", stammelte Yvette beim Hintergehen geschockt, "Kapier ich nicht. Bernhardettes Leibarzt sag-te bei der nächtlichen Diagnose, es trete ausschließlich bei adligen Männern auf. Das Pendant zum Marie Antoinette Syndrom."
"Schon richtig", erwiderte Sylvie. "Aber wenn am Marie Antoinette Syndrom erkrankte weibli-che Adlige an einem 16. Oktober entgegen ärztlicher Anordnung über die Stränge schlagen, trotzig erst recht auf die Pauke hauen, kann jenes Louis XVI. Syndrom verschlimmernd dazu-kommen. Tja, dann hast du echt was. Weil's halt eigentlich für Männer ist. Und nicht für Frau-en. Ungesunde Mischung. Betonte de La Mettrie ausdrücklich."
"Stiiiiiimmt. Drum bleibt uns auch hier nur abwarten und Tee trinken, bis alles vorüber ist."
Unter solchen Umstände also brachte unsere sechsköpfige Schar die fiebernd Zeter und Mor-dio Kreischende (solchermaßen laut, dass beim Dienstpersonal panikartiger Tumult ausbrach in der Annahme, im Schlosse ereigne sich soeben eine gar schröckliche Moritat) am Morgen des 21. Januar 2022 auf ihr Schlafzimmer. Und wer weiß, vielleicht ging an jenem Tag die Sonne zum Schluss doch noch als endgültige Siegerin aus dem Wettstreit hervor.
E N D E
