top of page
Erzählrunde 1

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 1

​

Die Karussellpsychose

Sprechstundenhilfe: Alessa Marie, kommst du, bitte?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Endlich, das wurde aber auch langsam Zeit. Fünf Stunden sitze ich nun schon sinnlos hier im langweiligen Wartezimmer herum. Und für Sie immer noch "Marquise", s'il-vous-plaît!

Sprechstundenhilfe: Warten ist niemals sinnlos, Kindchen! Und anstatt sich wie immer über unsere moderaten Wartezeiten zu beschweren, sei mir vielmehr dankbar, so rasch den Folgetermin bekommen zu haben. Merke dir: Wir sind voll. Voll bis zum geht nicht mehr. Und ich besitze die wahre Macht in der Praxis! Und darüber hinaus zum letzten Mal: Hör endlich mit deinem selten dämlichen Adelsgetue auf! Hanau hat längst keine Grafen mehr. Was lernt ihr eigentlich heutzutage in Geschichte?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Ey, jetzt reicht's mir aber mit Ihnen! Ich rufe jetzt Papa an, der schickt sofort das Hanauer Bataillon, ha, und dann verbannt er sie zur Strafe aus unserem Territorium. Damit Sie Bescheid wi...

Sprechstundenhilfe: UND Zimmer 2, bitte! Du kennst ja inzwischen den Weg! Und trödele nicht wie sonst auf dem Flur herum! Der Doktor hat nicht ewig Zeit!

Marquise de Hanau-Münzenberg: Ooooooohhh...Siiiiieeeee...Siiiiieeeee!!!!!

==========

Psychiater: Guten Tag, Alessa Marie! Wie geht es dir heute?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Na, na, Herr Doktor! Sie alter Charmeur wollen doch garantiert etwas von mir! Klitzekleine Erhebung in den Adelsstand gefällig?

Psychiater: Ich habe schon des öfteren betont, dass deine Scherze allenfalls für den hiesigen Karneval gut sind. Wenn überhaupt. Also. Wir beide wollten uns ja heute eigentlich abschließend über mögliche Ursachen deiner Zwangsstörung unterhalten. Jedoch entdecke ich nach eingehender Sichtung sämtlicher Unterlagen tatsächlich keinerlei nennenswerten Auffälligkeiten. Familienleben intakt. Schule perfekt. An jedem Finger zwanzig zappelnde Jungen. Ein Bilderbuchleben. Ich wünsche dir daher für die Zukunft weiterhin alles Gute. Ist eben so bei manchen mit dem Zwang. Andere haben Asthma. Anderen wiederum vernichten Vulkane binnen Sekunden ihre mühsam aufgebaute Existenz. Das Leben ist nun mal leider kein Ponyhof. Daher dein ständiges Kompensieren durch Hineinträumen ins höfische 17./18. Jahrhundert, weil es deiner Ansicht nach am luxuriösen Versailler Hof besser lief. Menschlich gesehen verständlich angesichts des Elends weltweit. Doch glaube mir, auch Ludwig XIV. arbeitete bloß mit Showgags. Ich begleite die junge Dame noch zur Rezeption. 

Marquise de Hanau-Münzenberg: Bekomme ich etwa keine zweite Therapieeinheit????? Vorletzte Woche meinten Sie noch wortwörtlich "eventuell"Herr Doktor, lassen Sie mich bitte nicht im Stich! Bitte! Und ich bin wirklich eine Marquise!!!!! Jedes Hanauer Kind weiß das!!!!!  

Psychiater: Beim besten Willen, Alessa Marie, es tut mir leid. Ich wüsste kaum, wie der Antrag bei der Krankenkasse begründbar wäre. 

Marquise de Hanau-Münzenberg: Könnte vielleicht doch das älteste Karussell der Welt Schuld sein?

Psychiater: Alessa Marie, fängst du schon wieder mit diesem Kokolores an?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Ich wollte Ihnen ja damals gleich am ersten Sitzungstag darüber berichten, wie mich die Karussellpferde drangsalieren. Herr Doktor, das sind keine putzigen Schaukeltiere, sondern böse Hexen. Aber Sie haben sofort abgeblockt.

Psychiater: Mit Recht! Was für ein Humbug!

Marquise de Hanau-Münzenberg: Nein, nein, nein, bitte, hören Sie mir zu! Vor knapp drei Jahren fand bekanntlich 2016 seine pompöse Wiedereröffnung statt. Ganz Hanau stand Kopf. Es klingt jetzt zwar unglaubwürdig, aber exakt einen Tag darauf begann meine jetzige Lei-denssituation.

Psychiater: Ein äußerst abstruser, künstlich konstruierter Zusammenhang. Gut, meinetwegen. Der nächste Klient hat ohnehin abgesagt. Leg dich wie immer bequem hin und erzähl. 

Marquise de Hanau-Münzenberg: Jaaaa...ääääähhh...seither gehen entsetzlichste Dinge vor sich, welche mich vermehrt an meinem geistigen Zustand zweifeln lassen. Ach, Herr Doktor, ihre Peinigungen werden täglich schlimmer, immer extremer. Sie beeinträchtigen meine Lebensqualität, weshalb ich felsenfest davon überzeugt bin, während des Einweihungsfestes von den böswilligen Kutschenziehern durch Sprüche verhext worden zu sein; damals, als ich durch einen von mir manipulierten Zufallsgenerator ausgesucht wurde, gemeinsam mit unse-rer Landgräfin die allerersten Runden drehen zu dürfen. Noch vor Ministerpräsi...

Psychiater: Oooohhhooooo, welch große Ehre für dich! Okay, dann beschreibe einfach einmal frei und offen deine Interpretation von 'verhext'...ein dehnbarer Begriff.

Marquise de Hanau-Münzenberg: Bei Papas Grafschaft Hanau-Münzenberg, ich schwöre, seit Juli 2016 werde ich jede Nacht von den fürchterlichen Hexen-Karussellpferden im Traum bedroht. Ihr Haus taucht auf, stets in verschiedenen Perspektiven. Aus ihm heult ein unsicht-barer, eisiger antarktischer Schneesturm: "Kleine liebliche Alessa Marie...Bienchen...hörst du uns? Bastele morgen ein Plakat mit den Maßen 1,2X1,5 Meter, klebe darauf ein Großfoto von der Eremitage im Wilhelmsbader Staatspark, und schreibe dazu in dicken, rosa leuchtenden Buchstaben folgenden Text: 

Hallo, lieber Lokomotivführer!!!!! Bitte, bring umgehend deinen Zug zum Stehen!!!!! Folge mir mir anschließend rasch zur nahe im Staatspark Wilhelmsbad gelegenen abgeschiedenen Einsiedelei, um dort fortan als weiser Eremit über die Schönheit des ältesten Karussells der Welt zu meditieren!!!!!

Versuch nicht, uns zu täuschen, kleine liebliche Alessa Marie, ansonsten werden gar schreck-liche Sachen geschehen!"

Psychiater: Witz komm raus, du bist umzingelt. Kannst du das Karussell wenigstens präziser beschreiben? Erscheint es zum Beispiel eher verschwommen? Oder mehr verzerrt?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Absolut realistisch, würde ich sagen. Als befände ich mich bei strahlendstem Hochsommerwetter auf dem Parkgelände. In einem Traum beispielsweise am 5. August 2016. Da lugte es vormittags beinahe vollständig hinter dem in Blickrichtung rechts von ihm stehenden Baum hervor. Ich stehe unterhalb. Etwas links von seinen Ästen. Meinen vom Weg zur Anhöhe hinauf starrenden Augen fegen aus ihm heraus frostige Sturm-böhen stimmlich entgegen. Dennoch herrscht Windstille. Unheimlich. Nicht mal der kleinste Zweig bewegt sich. Verrückt.

Psychiater: Sind dir zufällig bestimmte Details in Erinnerung geblieben?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Klar, Doc. Selbst eines jener Absperrbänder, mit welchen man anfangs das frisch angelegte Gelände schützte, war erkennbar, nachdem sich die Szene geändert hatte. Ich spaziere weiter durch die Parklandschaft, entferne mich mehrere Meter vom Karussell. Bleibe stehen. Drehe mich um. Starre es wiederum an. Da peeeeeeeeiiiiiiiiffffft neuerlich ein schauriger antarktischer Blizzard ohne jede Vorwarnung quer über den Rasen, mir mitten ins Gesicht.

Dann hexen mich die Pferde mit einer magischen Formel direkt an die Schutzplane des Ka-russells. Auch hier vermag ich nicht das Gesicht abzuwenden, stiere durch die auf dem Kunststoff reflektierten Spiegeleffekte hinein. Die glänzten dermaßen überzeugend, dass kla-re Nahaufnahmen von Pferdchen und Kutschen selbst im Traum schier unlösbare fotogra-fische Herausforderungen dargestellt hätten.

Psychiater: Wenn alles sehr authentisch wirkt...haben sie dann bei ihren gewagten Drohungen Konkretes gegen dich in der Hand?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Meine Flirt Apps. Hämisch grinsend tönen sie anschließend: "Du hast nun die Wahl, reizende Alessa Marie. Missachtest du unsere Anordnung, erfährt dei- ne strenge Mutter augenblicklich vom babylonischen Treiben ihres sündigen 'Bienchens' auf dem Smartphone. Pfui, schäm dich! Kokett mit Kerlen chattende anständige Grafentöchter sind dem Herrn ein Gräuel! Oder: Sie erfährt kein einziges Sterbenswörtchen, doch dafür ver-wandeln wir dich *schnipps* in einen Oberleitungsmasten am Wilhelmsbader Bahnübergang. Verstehst du uns gut?" Worauf ihre Stimmen mit einem schauerlichen "Alessa Marie...Alessa Marie...Alessa Marie"... verhallen. Schweißgebadet erwache ich. Um mich herum ist keine Menschenseele zu sehen.

Psychiater: Du sollst als Gegenleistung für ihr Stillschweigen verzaubert werden?

Marquise de Hanau-Münzeberg: Darauf können sie lange warten. Erpresser!!!! Aber Mama darf logischerweise auch nichts erfahren. Also muss ich als willenloses Werkzeug gehorchen. Kaum sind die Bastelarbeiten beendet, befehlen mir unheimliche, vom Hexenhaus ausströ-mende magische Kräfte, plakatbepackt zum besagten Ort zu marschieren. Und trotz inneren Sträubens muss ich an den Schranken das Schild bei jeder Vorbeifahrt deutlich sichtbar hochhalten sowie dabei auf einer Schaffnerpfeife trillernd den Aufforderungen Nachdruck verleihen. Es fühlt sich so an, als ob die Hexen Simon und Spartacus unsichtbar meine Arme hochheben und durch meinen Mund lospfeifen. Verstehen sie? Ich bin ihre Marionette!

Psychiater: Wie groß sind deine Erfolge bis jetzt gewesen?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Ohje! Bereits Tag 1, der 11. August 2016, begann denkbar ungünstig. Gerade in praller Hitze angekommen, fuhr der erste Zug einfach vorüber.

Und so lief es weiter. Vier geschlagene Stunden lang. Herr Doktor, ich stand kurz vor'm Ver-dursten!

Psychiater: Herzlose Ignoranten!

Marquise de Hanau-Münzenberg: Der Zugführer einer nach Aschaffenburg losrollenden Re-gionalbahn riss sogar hastig sein Fenster runter, rief mir mit Mikrofon laut scheppernd etwas zu.

Psychiater: Was'n?

Marquise de Hanau-Münzenberg: "Spinnst du? Daheim wartet meine Frau. Sie will nicht arbei-ten, drei Kredite müssen abgestottert werden, Schulden drücken. Ich brauche den Job!!!!! Al-so verzieh dich!!!!!" Doch ehe ich darauf reagieren konnte, war die Scheibe wieder hochge-knallt worden.

Psychiater: Frechheit!

Marquise de Hanau-Münzenberg: Ja, das war ein herber Rückschlag, der meine hoffnungsvol-len Pläne um etliche Lichtjahre zurückwarf. Ich hatte nämlich beim Fensteröffnen blitzartig drei weitere in mir ständig emporsteigende Traumbilder geistig fest vor Augen.

Psychiater: Zeigen sich diese ebenfalls originalgetreu?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Keine Ahnung jetzt wieso, aber seltsamerweise nur teilwei-se. Also, ich versuche es Ihnen mal zu erklären. Zu allererst taucht diese Einsiedelei in voll-kommen verschwommenen Konturen auf; derart verschwommen, dass mir stets schwindelig wird. Im Inneren zeichnet sich schemenhaft irgendwie ein Tisch mit einer Kerze darauf ab, an dem anscheinend jemand sitzt. Dann werden die Umrisse wesentlich deutlicher, selbst wenn das optisch verbesserte Traumbild immer noch keine vollständige Schärfe besitzt. Hmmm... oder vielleicht doch? Ist ja auch egaaal! Jedenfalls bilden der Tisch und die an ihm sitzende Gestalt nun den Fokus, allerdings vermag ich leider weiterhin nicht zu erkennen, wer die Per-son sein könnte. Ha, jetzt wird es wirklich verrückt!!!!!! Plötzlich wandelt sich das Traumbild total, mein Blick ist auf den vor mir thronenden Daibutsu von Nara in dessen mächtiger Tem-pelhalle gerichtet; sooooo klar, sooooooo deutlich als würde ich ihm wie damals 2012 direkt gegenüberstehen. Boah, wie abgefahren, sogar der linke Kerzenständer schimmert aufgrund des kräftigen Scheinwerferlichts intensiver. Wie auf dem Erinnerungsfoto!!!!! Herr Doktor, be-säße ich nicht absolute Gewissheit, im irrealen Traumland zu sein, könnte mir jedes Mal glatt folgender Gedanke in den Sinn kommen: Hey, cool, endlich wieder in Nara, wurde aber auch langsam Zeit!

Psychiater: Reine Neugierfrage: Hinken derartige Vergleiche nicht gewaltig?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Keineswegs! Wie Buddha unermüdlich das Rad drehte, soll der Eremit nach intensiver Meditation über dessen einmalige Schönheit als ebenfalls Erleuch-teter das Karussell drehen. Es ist Leid, doch durch Fahrten mit dem ältesten Karussell der Welt kann das Leid aufgehoben werden.

Psychiater: Aah...jetzt klingelt's bei mir. Alessa Marie, dein Vergleich ist einzigartig! Vielleicht gelingt es dem die Lehre verkündenden Buddha von Wilhelmsbad tatsächlich, unsere von tie-fem menschlichem Elend gezeichneten Kontinente in rosa Ponyhöfe zu verwandeln.

Marquise de Hanau-Münzenberg: Sehen Sie!!!! Dieser Zugführer war für Hohes auserwählt. Und beinahe hätte er sein edles Bestimmungsziel auch erreicht. Die Klause liegt schließlich in unmittelbarer Nähe. Man spürt am Bahnübergang förmlich schon ihre Aura. Stattdessen fährt der Typ lamentierend vorbei. Unverschämt!

Psychiater: Am ausgestreckten Arm verhungert. Das gibt es.

Marquise de Hanau-Münzenberg: Ach, Herr Doktor, alles ist so schrecklich! Weshalb ich fra-gen wollte, ob Sie mir eventuell wirksame Beruhigungstabletten verschreiben können.

Psychiater: Also bis jetzt sehe ich in deinen Beschreibungen keinerlei psychischen Auffällig-keiten. Zuerst einmal: Hexen gibt es nicht und hat es nie gegeben. Punkt. Höchstens in alber-nen Märchengeschichten à la Frau Trude als klares Anzeichen noch unentwickelter, infantliler kultureller Bewusstseinsstufen. Mir ist gelinde gesagt schleierhaft, warum Jakob und Wilhelm Grimm, auf die Hanau bekanntlich große Stücke hält, für lächerlichsten Filrefanz, anzusiedeln auf der Sufe primitver Stammesmythen pazifischer Südseeinsulaner, ihre kostbare Zeit ver-plemperten. Und das nach den aufklärerischen Errungenschaften von 1789. Na ja, Lohrs Tou-rismuswerbung lebt immerhin recht einträglich davon...höhöhö...Schneewittchenstadt! In dir hingegen dominieren positive, unverfälschte, mächtige Energien. Du möchtest Mitmenschen als Medium anstupsen, sie mit Gedanken über alternative Lebensentwürfe in Berührung brin-gen. Verkorkstem Leben neuen Sinn geben. Allerdings konnte besagter Zugführer damals un-möglich aussteigen. Prinz Gautamas Fußstapfen zum erhabenen Buddha blieben dem Unwür-digen verwehrt, weil er sein törichtes Herz vorschnell einer augenklimpernden, höchtwahr-scheinlich wesentlich jüngeren Dame geschenkt hatte und für billige Leidenschaft bereitwil-lig enorme finanzielle Mehrbelastungen akzeptierte. Hauptsache eifrig kuscheln! Ein Kind der Welt, ein Clown, gefangen im Weltenlauf. Vergiss ihn, um nicht zu sagen Buddha wäre auf gleiche Weise kläglich gescheitert. Weltentsagung ist nichts für Weicheier!

Marquise de Hanau-Münzenberg: Hmm, unter diesem Aspekt kam mir mein Misserfolg ehr-lich gesagt noch nie in den Sinn. Und das mit den finanziellen Belastungen ist echt seine eige-ne Schuld. Deshalb sage ich immer: Augen auf als Frau bei der Partnerwahl! Überhaupt: Den physikalischen Naturgesetzen erging es an jenem 11. August noch viel übler.

Psychiater: Inwiefern?

Marquise de Hanau-Münzenberg: Als ich gegen 12 Uhr den Bahnübergang erreichte, war der Mond noch am Himmel sichtbar, unmittelbar beim rechten Oberleitungsmast, direkt hinter dem mittleren Draht. Im intensiven Licht fast unmöglich zu erkennen. Absolut unbegreiflich, großer Herr Kopernikus: Mit welchem Trick gelang es bloß der Sonne morgens aufzugehen, wenn der Mond zuvor gar nicht unterging?

Psychiater: Hahahahaha!

Erzählrunde 2

Alessa Marie: Kurz nsah dieser Begebenheit hatte ich beim ältesten Karussell der Welt ein Er-lebnis, das mich bis heute traumatisiert und mein zerstörtes Selbswertgefühl niemals wieder aufblühen lassen wird.

Psychiater: Was ist denn passiert?

Alessa Marie: Also zur Zeit treffe ich mich täglich irgendwo mit süßen Typen. Sie müssen wis-sen, die Jungs stehen auf unserem Schulhof ellenlang Schlange, um ein Rendezvous mit mir zu ergattern. Dieses Mal war ein Kinobesuch mit Lukas aus der Jahrgangsstufe 12 angesagt, und da der Sonntagsfilm um 16 Uhr startete, beendete ich meinen täglichen Karussellbesuch früher als sonst. Sie müssen nämlich auch wissen, dass ich bei der Wegwahl zum Bahnüber- gang keinesfalls frei bin. Vielmehr will mich dieselbe vom Karussell auströmende magische Kraft vorher stets an den Pferden vorbeizerren. Ich verabschiede mich also vorzeitig von Ha-tatitla, Missi sowie den anderen Bewohnern und eile vor dem heißen Date im Rahmen aufer-legter Pflichten als Eremitenanwerberin davon. Doch nun geschah Seltsames: Die Schienen lagen nur noch 20 Meter entfernt, gingen die Schranken herunter, und ich musste warten.

Psychiater: Geschlossene Schranken sind aber in Wilhelmsbad jetzt nichts Ungewöhnliches, sondern wichtige Bestandteile moderner Bahnsicherungstechnik, damit dort niemand Gefah-ren durch herannahende Züge ausgestzt wird. Wie sagt Fräulein Petronelli immer: "Warten ist niemals sinnlos, liebes Kind!"

Alessa Marie: Da haben Sie natürlich Recht. Doch blieben sie allesamt geschlossen. Vollkom-men unverständlich. Sechsundzwanzig Züge fuhren vorbei, und selbst bei langen Intervallen wollte sich keine einzige öffnen. Zum Verrücktwerden!

Psychiater: Warum hast du daraufhin keinen anderen Weg genommen?

Alessa Marie: Ich hoffte halt insgeheim gutgläubig, die Bahnschranken würden garantiert ir-gendwann hochgehen. Geschlagene vier Stunden wartete ich im prallen Sonnenschein.

Psychiater: Geduld ist eine Tugend. Sonst hieße es ja auch nicht Patientin.

Alessa Marie: Vor allem entpuppte sie sich an dem Tag als wahrer Glücksfall.

Psychiater: Lass hören!

Alessa Marie: Während ich wieder völlig umsonst trillernd und winkend mein Plakat hochhal- te, erklingt plötzlich leises, Mitleid erweckendes Kinderschluchzen: Hallo, du da unten! Verwir-rung pur. Nein, nicht hinter dir. Hier oben! Ungläubiges Schauen...beide Augen staunen nicht schlecht. Bitte, bitte, bitte, hilf uns! Wir sind irgendwie hängen geblieben, und unsere Familie flog ohne es zu bemerken weiter.

Psychiater: Eine Wolke?

Alessa Marie: Drei, waren Schwestern. Gaaaanz hauchzarte Gebilde. Kaum wahrnehmbar. Sie müssen noch sehr jung gewesen sein. Zwei zappelten im rechten, eine strampelte im gegen-überliegenden Oberleitungsmasten. Absolut hilflos. Klaro, wartet kurz!!!!!, rufe ich ihnen Mut machend zu. Bin im Nu da! Gleich seht ihr eure Eltern und Geschwister. Sie suchen euch be-stimmt schon überall besorgt.

Psychiater: Jetzt sag bloß, du bist tatsächlich hinaufgestiegen!

Alessa Marie: Um als Belohnung einen Stromschlag verpasst zu bekommen???? Nein, empört darüber, dass man auf den Spitzen keine Warnhinweistafeln wie Achtung, Verhedderungsge-fahr für Himmelskörper und Wolken! angebracht hatte, gehe ich zielstrebig zum ersten Mas-ten. Trete heftig dagegen. Anschließend überklettere ich entschlossen die Schranke, wieder-hole drüben meine Rettungsaktion. Der Regionalbahnzug war ja inzwischen weg. Verstehe da-her echt nicht, warum da zwei Opas so eine Welle machten. Fingen voll an herumzuspinnen! Wolkenhasser!!!!!

Psychiater: Und dann?

Alessa Marie: Infolge der durch meine Tritte im Metall ausgelösten Vibrationen vermochten sich alle aus eigener Kraft aus ihren Verhakungen zu lösen und flogen erleichtert weiter. Da-aaaankeschön!, riefen sie beim Abschied. Das werden wir dir nie vergessen! Fröhlich winkend entgegne ich: Bitteschön, war doch Ehrensache. Und kommt nachher alle gut daheim an!

Psychiater: Jeden Tag eine gute Tat, sagt das Sprichwort.

Alessa Marie: Obwohl ich eigentlich gar keine Pfadfinderin bin. Dadurch würden meine adligen Rechte total eingeschränkt. Habe einfach keine Lust auf das Spülen, wenn es ins Camp geht. Sehen sie diese gepflegten Hände?

Psychiater: Apropos. Was machen Wilhelmsbads Schranken?

Alessa Marie: Als sie sich tatsächlich wieder öffneten, überquerten ausgerechnet in dem Mo-ment dieser Schuft Lukas sowie meine bürgerliche Erzrivalin Lea engstens umschlungen cir-ca 100 Meter entfernt die Straße, bemerken mich entsetzt, rennen Hände haltend geschwind außer Sichtweite. Alessa Maries Adelsstolz ist ein Scherbenhaufen. Wimmernd kehre ich zum ältesten Karussell der Welt zurück. Doch stellen sie sich vor, Herr Doktor, währen mir jam-mervolle Tränen herunterrinnen, kommen Theluma und Helanchri allen Ernstes durch die Kunststoffschutzplane mit hochnäsigen Bemerkungen an! Die konnten plötzlich sprechen!

Psychiater: Kannst du den Inhalt des Gesagten noch irgendwie wiedergeben?

Alessa Marie: Erwarte von uns keinen Trost, Alessa Marie!, hallen ihre Stimmen dumpf hinter dem Plastik. Wir Karussellpferde wissen ALLE DETAILS über dich, sogar dass du in der Schule nur spöttisch Dating Marie genannt wirst. Deine Muttter kam gestern mit eurer Pfarrerin und deinem Schuldirektor in großer Sorge zu uns. Bekümmert erzählten sie von deiner heutigen Verabredung mit diesem Casanova, anscheinend hast du es in ganz Hanau als einzige noch nicht kapiert, was Lukas für ein herzensbrechender Schürzenjäger ist. Ein Filou ist er!!!! Des-halb konnten wir dir vorhin durch einen beherzten Notfallanruf bei der Deutschen Bahn AG mit Hilfe geschlossener Schranken in letzter Sekunde den Weg ins Verderben versperren.

Psychiater: Interessant. Offenbar reicht ihr Kontakt bis ganz hinauf zum Bahnvorstand. Haben die übrigen Karussellpferde ebenfalls Worte an dich gerichtet?

Alessa Marie: Ja, aber ach, welch demütigende: Das soll dir künftig eine Lehre sein, stimmten daraufhin alle gemeinsam singend an, wie unser Kirchenchor eine Bachkantate, denn so er-geht es allen ungezogenen Hanauer Mädchen, die am Sonntag nicht brav den Gottesdienst be-suchen! Jetzt langts. Als klare Botschaft, dass mir ihre Demütigungen reichen, trete ich zornig gegen das Karussellgitter und schlage mit meinen offenen Handflächen auf diesen durchsich-tigen Kunststoffschutz. Für euch schäbige Ackergäule immer noch "Madame de la Marquise!", füge ich dabei außer mir vor Wut noch hinzu.

Psychiater: Jawoll, irgendwann rappelts im Karton. Noblesse oblige.

Alessa Marie: Doch dadurch wurde alles nur noch schlimmer.

Psychiater: Noch schlimmer?

Alessa Marie: Theluma und Helanchri galoppieren schnaubend aus dem Karussell heraus!

Psychiater: Die waren wohl stinksauer!

Alessa Marie: Wild bäumen die Pferde sich vor mir auf. Panisch werfe ich mich reflexartig hin und schütze den Kopf. Na, du freche Liese, kleine Abreibung gefällig? Ehe ich reagieren kann packt Theluma mit ihren starken Zähnen meinen Blusenkragen, und es geht wieder aufwärts in die Stehposition. Los, ab zur Teufelsschlucht mit dir! Ich flehe schockiert: Nein, nein, nein, bitte, bitte, nicht dahin!!!! Vergeblich. Allez hopp, beweg dich! Oder benötigst du durch unsere Hufen erst eine spezielle Sondereinladung?, wiehert Helanchri. Mit beklemmendsten Gefühlen betrete ich erbarmungslos angetrieben den Canyon, zittere, schlucke, blicke mit weit aufge- rissenen Augen dessen Klippen an, fürchte jederzeit von steilen Felswänden zerdrückt - oder noch schlimmer - begraben zu werden. Lebendig begraben!!!!!! Wie Edgar Allan Poe es in The Premature Burial beschreibt...eingeschlossen im Sarg...unfähig, s...si...ich...ich...ich...ich...iiiiiiii... *hust'...i...*hust*...mein...*hust*...Hals...iii...ich...er...*hust*...stickeeeeeeee...eeeee. Maaamaaaaaa! *Hust*...aaaaaaa...AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHH!!!!!!!!!!!!! DAAAAA!!!!! DAAAAA!!!!! DAAAAA!!!!!

Psychiater: Wo? Ich seh nichts!

Alessa Marie: DAAAAAAAA!!!!! DAAAAAAAAA!!!!!! SEIN SCHATTEN AN DER FELSWAND!!!!!!! ER WILL MICH HOLEN!!!!!!! IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHHHHHHHH!!!!!!!!!!!!!!! LUFT!!! LUFT!!! LUFT!!! LUFT!!! OH GOTT!!!!! ICH BRAUCH LUFT!!!!!!!!!

Psychiater: Warte.

Alessa Marie: Puuuuuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhh...danke, eeeendlich Luft! Frische Luft! Tut das guuuuuuuuuuuuuut! Können sie das Fenster vielleicht noch etwas mehr öffnen? Vielen Dank, Herr Doktor!

Psychiater: *gähn*...und weiter spielt die Musik, Madame de la Marquise.

Alessa Marie: Verzweifelt will ich mich unter stechendem Herzrasen fest am schroffen Ge-stein entlang tasten, möchte durch kräftigen Händedruck seinen Einsturz beziehungsweise auf einer Seite das sich Schließen der Wand verhindern. Lieber vom Teufel geholt als lebendig tot! Da spricht der Schatten mit undefinierbarer Stimme: Gott zum Gruße, schönes vornehmes Fräulein! Wohin des Weges so ganz allein ohne Anstandsdame? Ich fahre zusammen: Wer... wer sind Sie???? Er antwortet: Du kennst mich, Alessa Marie. Ich bin der, welcher dich in der letzten Walpurgisnacht hoch auf des Blocksberges Gipfel schmerzlich vermisst hat. Wo warst du? Alle Karussellpferdchen kamen auf Ziegenböcken geflogen, und am heißen, hell lodern-den Feuer gab es jede Menge gegrillte original Thüringer Bratwürste. Dazu literweise Oma Teufels Schwarzbier. Jetzt besser nicht vorlaut wie eben höfische Etikette beschwören! Mit kreischendem AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHH!!!!!!!!!!! entkomme ich dem verfluchten Tal, flüchte wie von Satan besessen über die Teufelsbrücke dem retten-den offenen Gelände entgegen. Zu früh gefreut. Mitten auf der wackligen Konstruktion stol-pere ich über zwei Balken und stürze. Verflixt und zugenäht!!!!!!!! Alles tut höllisch weh. Da spottet es schadenfroh vom Hexenhaus: Hahahaha, ätschi, ätschi, ätschi, wir werden dich das Fürchten lehren! Nichts wie weg! Mein Stolpern war IHR Werk!!!!! Nur fort! Jeden Augenblick werden sie zaubern, dass mich Windböen seitlich erfassen und hilflos hinab in die Hölle wir-beln! Prädestiniert direkt in Luzifers Arme! Auf der anderen Seite angelangt, werfe ich halbtot vor Angst nochmal mehrere Blicke auf die Brücke. Muss wissen, ob ER hinter mir her ist. Be-komme Schüttelfrost. Sie bleibt leer.

Nervlich endgültig am Ende breche ich daraufhin mit einem Weinkrampf zusammen.

Psychiater: Applaus, Eure Durchlaucht! Bravissimo!

Alessa Marie: Sie klatschen? Herr Doktor, das war damals nicht lustig!

Psychiater: Da capo! Zugabe! Zugabe! Zugabe!

Alessa Marie: Geht's noch?

Psychiater: Fantastisch, diese früheren Unterhaltungsformen. Das waren im 18. Jahrhundert eben noch solide Darbietungskünste, welche demonstrieren, dass sich unsere modernen ver-sklavten Internetjugendlichen langsam wieder auf ursprüngliches, unverdorbenes, herzerfri-schendes Amüsement im Freien besinnen. Ja, Alessa Marie, DU bist die strahlend leuchtende Speerspitze einer neuen Generation selbstbewusster junger Leute, die es nimmer dulden, von Smartphones, Tablets und iPhones unter das Joch geschickt zu werden. Euch drängt es in Schiller'schem Freiheitsdrang ungestüm nach draußen. Weg vom Computer. Weg von Whats App. Weg von Facebook. Weg von Instagram. Und nimm deine Freundinnen mit!

​

Fest gemauert in der Erden

Steht die Form, aus Lehm gebrannt.

Heute muß die Glocke werden,

Frisch, Gesellen! seyd zur Ha...

​

Alessa Marie: Ich kapier bloß Bahnhof, dürfte aber aus Don Carlos sein.

Psychiater: Alessa Marie, du als waschechte Hanauerin weißt doch: Die Teufelsschlucht wurde samt Brücke im Rahmen der unter Erbprinz Wilhelm von Hessen-Kassel erfolgten Parkgestal-tung wie alle übrigen Attraktionen zur Zerstreuung der illustren Hofgesellschaft künstlich er-richtet. Nach geselligen Ausblicken herab vom Schneckenberg sowie zwanglosen Drehrunden auf den Karussellkutschen spazierte sie zur gruseligen Schlucht, um sich zum krönenden Ab-schluss heiteren Flanierens kurzweiligem Schauer hinzugeben; bevor die Realität einen wie-der einholte.

Alessa Marie: Aber ich bin doch gar nicht freiwillig hinspaziert, sondern wurde unter Andro-hung rohester Gewalt zum Gehen genötigt!!!! Und seit jenem Tag spielen mir die Hexen - ich schwör's, Herr Doktor, das sind die Karussellpferde - gemeine Streiche. Sobald sie mich auf dem Weg erspähen, ruft Theluma: Achtung, dahinten kommt Dating Marie angewatschelt!!!! Schnell, versteckt euch, Freunde, damit sie uns nicht finden kann!!!! Anschließend dringt ge-hässiges Pferdegelächter aus dem angrenzten Wald an meine empfindlichen Ohren: Hahaha... Lukas...hihihi...Casanova...hohoho...Schürzenjäger...huhuhu...Lea...hähähä...dumme Pute Alessa Marie!!!! Worauf sich mir der Kopf dreht, und ich beide Hände fest gegen die Stirn presse, um nicht durchzudrehen.

Unterhalb des Karussells angelangt, muss ich jede einzelne Hexe namentlich auf Knien rut-schend anbetteln, hurtig aus ihrem Versteck hervorzukommen.

Psychiater: Äh...lass das in Zukunft besser sein! Glaub mir, Alessa Marie!

Alessa Marie: Wieso?

Psychiater: Nun...vielleicht brauchen Hatatitla, Simon sowie die anderen Kutschenzieher zwi-schen den Bäumen ab und zu lediglich ein bisschen Abwechslung. Tapetenwechsel. Eine klei-ne Auszeit. Zerstreuung. Zack, raus aus dem Trott. Wie wir Menschen ja auch. Überleg mal, Alessa Marie. Ständig im Karussell. Von früüüh bis spät. Rund um die Uhr. Vierundzwanzig Stunden täglich. Sowas hält auf Dauer der stärkste Gaul nicht aus. Zeige daher Verständnis! Gönne ihnen einfach ihre naiv-tierischen Späßchen! Sei keine beleidigte Spielverderberin! Al-bere fröhlich mit!

Alessa Marie: Sie kapieren echt null! Verstehen Sie nicht??? Sämtliche Pferde müssen schleu-nigst ins Karussell zurücktraben! Nur SOOO können mich jene magischen Zauberkräfte dann gleich oben entlang des Kunststoffschutzes zwanghaft an allen vorbeizerren. Wilhelmsbads Bahnübergang brüllt schon wieder: ALEEEEEEESSSSSSAAAAAAAA MAAAAAARIIIIIEEEEEE!!!!!! Es eilt!!!!! Weiter!!!!! Weiter!!!!! Anwerben!!!!! Sofort!!!!! Dringend!!!!! Und da soll ich mit denen kindisches "Verstecken" spielen? Ernsthaft????? Herr Doktor, bitte, helfen Sie mir!!!!! Biiiiiiiiit-teeeeee!!!!! Ihre anerkannte Praxis hier im medizinischen Zentrum ist meine letzte Hoffnung!!!

Psychiater: Bedaure. Auch in diesem Fall liegt beim allerbesten Willen keine geistige Abnor-mität vor. Ganz im Gegenteil, du wirst hier sogar von noch viel positiveren Gedanken als in der Schilderung vorhin gelenkt. Dein Bericht beinhaltet nämlich eindeutige Visionen einer idealen Welt namens Utopia, wo Tiere und Menschen miteinander sprachlich kommunizieren. Thomas Morus' gleichnamiges Werk ist dagegen ein Schmarrn. Sind das nicht fantastische Vorstellun-gen? Die UN verhängt Futter-Sanktionen gegen kriminelle Löwen, Tiger, Jaguare und anderes Raubkatzengesindel, weil dessen tierrechtsverletzende Beutejagd eindeutig gegen erlassene Resolutionen verstößt.

Alessa Marie: Hahahaha!

Erzählrunde 3

Psychiater: Verständnishalber muss ich jetzt aber nochmal kurz nachhaken. Du sagtest vor-hin: "Zunächst fuhren die Züge einfach vorüber!"...

Alessa Marie: Ja, weil...nein...diese Sache ist derart unglaublich, dass Sie mich umgehend für verrückt erklären und von Fräulein Petronelli in eine Zwangsjacke stecken lassen würden. Ich kann darüber leider nicht sprechen.

Psychiater: Als Therapeut unterliege ich ärztlicher Schweigepflicht und verspreche dir, sie er-fährt von mir diesmal kein Sterbenswörtchen.

Alessa Marie: Puuuh, danke! Da bin ich aber wirklich erleichtert! Also...sagt Ihnen Zugnummer RB15228, fahrplanmäßige Abfahrt in Wilhelmsbad um 11.09 Uhr nach Frankfurt Hauptbahn-hof etwas?

Psychiater: Ich fahre grundsätzlich nur Porsche Cabrio.

Alessa Marie: Diese Zugnummer hat sich mir am 22. September 2017 zutiefst ins Gedächtnis eingegraben, denn an jenem Tag, es war übrigens zudem Herbstbeginn, geschahen Dinge, wie sie selbst in schönsten Träumen niemals passieren.

Psychiater: Klingst spannend.

Alessa Marie: RB15228 fuhr pünktlich an mir sowie dem unter lärmendem Trillern hochgehal-tenen Plakat vorbei in den Bahnhof ein.

Fahrgäste stiegen ein und aus. Nach dem Zugehen der Wagentüren deutete alles auf die un-mittelbar bevorstehende Abfahrt hin. Hurraaa, jetzt nur noch 20 Minuten bis zum Hauptbahn-hof!, dachten da sicher viele.

Psychiater: Zugegeben, Optimismus bei der der Deutschen Bahn AG ist stets riskant.

Alessa Marie: Bingo! Plötzlich verlässt ein dubios wirkender Mann die Fahrerkabine, schleicht nervös herum, schaut ängstlich hin und her, sucht nach irgendetwas Bestimmtem. Scheinbar vergeblich, worauf sein Blick vom Bahnsteig zu den Schranken schweift. He, du da hinten mit dem Plakat! Warte mal ne Sekunde, Kleine!, tönt es rauhen Tones herüber. Ich überquere flink die Straße, möchte wissen, was der Zugführer von mir will. Doch das glauben Sie jetzt nicht, Herr Doktor, kaum auf der anderen Seite angelangt hüpft mir dieser Typ bereits mit riesigen Sprüngen entgegen. Sie können sich sicher mein völlig entgeistertes Starren vorstellen, als er zwischen dem verrosteten Straßenschild sowie dem nicht minder hässlichen Oberlei...

Psychiater: Bitte, nicht so schnell, ich muss alles genauestens notieren. Also, der Zugführer hüpfte auf dich zu?

Alessa Marie: Ja, aber unnormal. In sämtlichen Bewegungsabläufen ähnelte er dem springen-den Bajazz beim Herbsteiner Fastnachtsumzug. Allerdings zeigt jene lustige Karnevalsfigur erschreckend schwache Leistungen im Vergleich zu den am 22. September präsentierten Ein-lagen. Bombastisch!!!! Phänomenal!!!! Bei jedem vorgeführten Sprung hielt der Zugführer ab-wechselnd sich mal verzweifelt beide Gehörgänge zu, mal schleuderten seine Hände wütend imaginäre Gegenstände durch die Luft.

Psychiater: Wurdest du von ihm angesprochen?

Alessa Marie: Zwischen beiden hässlichen Roststangen angehüpft unterbricht das DB-Spring-wesen seine humoristischen Künste, nimmt wie ein armseliges Häufchen Elend auf dieser Quervorrichtung dort gebeugt Platz und wirkt auf mich vollkommen verstört. Ich frage nach dem Grund, doch mein Gegenüber gebietet mir mit zittrig gegen die Lippen gehaltenen Zeige- fingern unverzügliches Schweigen. Psssssst! Gott sei Dank, dass ich dich hier antreffe, Kleine! Psssssst! Sag, kann man hier frei sprechen? Sind irgendwo Wanzen oder Kameras versteckt? Psssssssssssssst...jetzt nichts sagen...ja...sie ist wieder da...ich kann sie hören...wieder diese Stimme...überall diese Stimme...pssst! Vor lauter Neugiedr platzend möchte ich natürlich nun erst recht mehr erfahren: Aber Sie sollen nicht zufällig Frankreich von den Engländern befrei-en wie damals Jeanne d'Arc? Ähm...Sie wissen schon...Hundertjähriger Krieg und so.

Psychiater: Oh mein Gott! Alessa Marie, was hast du getan??? Es ist äußerst unklug, Stimmen hörender Menschen gegenüber derart unüberlegt historische Vergleiche anzustellen. Das ver-schlimmert unter Umständen ihre psychischen Leiden, macht ihnen den Alltag endgültig zur Hölle. Nicht auszudenken: Der arme Teufel kennt Johannas Biographie und hat fortan wegen dir bis ans Lebensende seine Verbrennung als Hexe in Rouen vor Augen. Fürs nächste Mal.

Alessa Marie: Wusste ich's doch, es gibt Hexen!!!!

Psychiater: Alessa Marie!!!!

Alessa Marie: Uuuuuuuuuuuuppppss! Jedenfalls wunderte ich mich, warum seine Augen nach meiner Frage wie irr glitzerten, und er am gesamten Körper bibberte; als ob wir -15°C gehabt hätten. Ich flehe dich an, Mädchen, du musst mir helfen!, ächzt es aus ihm tränenüberströmt. Sprich, wo finde ich hier den Fahrkartenautomaten? Im Zug befindet sich keiner. Ich zeige läs-sig auf das gewünschte Objekt. Meim Bajazz schaut prüfend, trommelt mit geballten Fäusten ablehend dagegen, schluchzt: Aber den vom Rhein-Main Verkehrsverbund meine ich doch gar nicht. wo ist der für die Stadtwerke Ofenbach? Ein kleiner, gelber Stempelautomat! Dazu fällt mir nur folgende aufrichtige Entgegnung ein: Keine Ahnung! Darauf wendet er sich ruckartig zum Zug um, bricht heulend zusammen, flennt rum: Mamaaaaaaaa...ich hatte doch keinen!!!!! Mamaaaaaaaaaaaaaaaa...du...die Alexandra wollte doch am Kiosk ganz viele Lollis haben!!!!! Und Kaugummis!!!!! Und Lakritze!!!!! Ehrlich Mama, ehrlich, ich hatte doch keinen!!!!! Echt voll daneben.

Psychiater: Ach, du meine Güte! ACH, DU MEINE GÜTE!

Alessa Marie: Äh, was?

Psychiater: Offensichtlich Symptome schwerster psychotischer Schübe, hervorgerufen durch ein in Kindertagen erlittenes Offenbacher Stadtgrenzentrauma. Sigmund Freud befasste sich 1925 mir dieser wohl gefährlichsten Form auftretender Zwangsneurosen sehr eingehend.

Alessa Marie: Ein Offenbacher Stadtgrenzenwas? Herr Doktor, könnte es sein, dass ich etwas Ähnliches habe?

Psychiater: Inwiefern?

Alessa Marie: Drei Tage nach der Karusselleröffnung hatte ich gemeinsam mit meinen Freun-dinnen trotz ausdrücklichen Elternverbots den japanischen Horrorfilm Carved - The Slit-Mout- hed Women geschaut. Heimlich abends bei Amanda. Seither ist es mir psychisch unmöglich, für unsere ausgiebigen Einkaufstouren auf Frankfurts Zeil von Wilhelmsbad aus die Regional-bahn zum Südbahnhof zu nehmen. Jene langgezogene Kurve in Richtung Maintal erweckt je-des Mal Visionen, wie kurz vor Hanaus Stadtgrenze der Zug abrupt anhält. 

Fensterglas klirrt. Schreie. Schwarze, weiß dampfende Monsterkrallen langen gezielt herein, greifen gierig nach mir. Mariella klammert sich todesmutigst an meinen Beinen fest, will mich retten, doch ihre tapferen Kräfte ermatten. Sie seufzt: Süße, muss loslassen, verzeih mir, ich schaffs kaum noch! Das gesamte Abteil wird Zeuge, wie mich jener Unselige schwebend in den Wald verschleppt, und weiter ins unteriridsche Karussellgewölbe, wo bereits mehrere Ju-gendliche eingesperrt sind. Herr Doktor, es ist grauenvoll: Sobald heruntergehende Schran-ken untrügerisch die baldige Einfahrt unseres Zuges ankündigen, erblasse ich unter hitzigen Schweißausbrüchen. Mein krampfhaft verzerrter geschminkter Mund röchelt todeskampfar-tig, weil vier im Lals sitzende dicke Klöße ein jämmerliches Ableben ankündigen. Selbst beru-higendes Zureden besorgter Mitwartender hilft nichts. Wir müssen rüber auf Gleis 2, erst zum Hauptbahnhof und von dort mit der S8 oder S9 fahren.

Psychiater: Was ja nicht unbedingt die verkehrteste Alternative ist.

Alessa Marie: Auch wahr. Oft sind diese Angstattacken jedoch besonders extrem. Mein Körper verharrt im Schockzustand, rührt soch keinen Millimeter vom Fleck. Caislin, Mariella sowie Amanda fächeln mir dann Luft zu, bis die Regionalbahn abgefahren und hinter besagter Kurve verschwunden ist. Erst jetzt kann ich endlich wieder einigermaßen klare Gedanken fassen. In Gottes Namen, helfen Sie mir, Herr Doktor, es geht nicht mehr!!!!!

Psychiater: Nur keine Panik auf der sinkenden Titanic! Wie ich ja unserem damaligen Vorge-spräch entnehmen konnte, bist du eifirge Teilnehmerin am alljährlichen Schüleraustausch mit Tottori. Und gerade weil die Japan fasziniert, ist es versrändlich, dass dir nach jedem Rückflug die folgenden Monate unerträglich, schier qualvoll öde vorkommen. Dementsprechend fühlst du dich im provinziellen Hanau wie in einem dunklen Verlies eingesperrt, zum ohnmächtigen Warten verurteilt. Jene anderen jugendlichen Gefangenen stehen hierbei für deine Mitaus-tauschschüler, denen es ebenso ergeht. Ihr seid jung, wollt raus in die Welt, anch Asien, wollt was sehen, was erleben, Party machen, doch eine drittklassige Stadt am Main, welche ohne die Vorzeigemarke Gebrüder Grimm am Ende wäre, kettet euch an.

Alessa Marie: Wahnsinn.

Psychiater: Die Wege unserer Psyche sind unergründlich. Besagter Dämon symbolisiert ledig-lich unbewusste Sehnsüchte, welche dich mit immenser Stärke bereits vor dem nächsten of-fiziellen Austausch nach Fernost ziehen möchten. Ähnlich wie Rippströmungen unvorsichtige Schwimmer weit aufs offene Meer hinaus. Betrachte ihn daher vielmehr als guten, hilfsberei- ten Geist, der sich anderen Menschen liebend gerne plump aufdrängt. Sollte er unerträglich nerven, erhältst du von mir vorsorglich eine simple Aufgabe, mit deren Hilfe seine zugegebe-nermaßen oftmals lästigen Nebenwirkungen bald verfliegen. Begib dich zum Wilhelmsbader Bahnhof und lauf von dort gemütlich entlang der Gleise bis Maintal Ost. Anschließend nimmst du einfach die nächste Verbindung zurück. Nach dem Ausflug wirst du erleichtert realisieren, dass unterwegs kein Gespenst zwischen den Bäumen hervorhuschte.

Alessa Marie: Juhuuuuuuuuuuuuuuuuuu! Vielen lieben Dank für Ihren tollen Tipp, Herr Doktor! Meine Freundinnen dachten echt schon, ich sei plemplem.

Psychiater: Grundlagen Psychologie, erstes Semester. Im Falle des bedauernswerten Wichtes handelt es sich hingegen mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit um eine zur Zeit des RMV-Vorgängers Frankfurter Verkehrs- und Trarifverund, kurz FVV, bei Fahrgästen der Stra-ßenbahnlinie 16 häufig aufgetretene Form traumatischer Störungen, einhergehend mit unbe-rechenbaren, gemeingefährlichen Zwangshandlungen. Es sind zunächst nur vage Vermutun-gen. Ferndiagnosen bedürfen bis zur eindeutigen Klärung erst präziser Anhaltspunkte. Versu-che dich deshalb möglichst detailliert an die Ereignisse danach zu erinnern. Bitte, überlege ganz genau, Alessa Marie: Was geschah dann?

Alessa Marie: Beim Anblick des herumjammernden Zugführers kamen mir plötzlich genialste Ideen, wie man dessen erbärmliche Situation ausnützen und ihn geschickt zur Eremitage loc-ken könnte. Guter Mann, meine ich tröstend, Sie haben aber heute Glück! Ja, gerade erinnere ich mich daran, das Ihr gesuchter Fahrscheinautomat seit etwa drei Wochen in der Einsiedelei steht, weil... --- Schnell, schnell, fährt er gehtzt dazwischen, ich muss augenblicklich zu ihm. Auf, auf, Kleine, zeig du mir den Weg, ich hüpfe hinterher! Solch verlockende Angebote lassen sich selbstverständlich nur betrunkene Karnevalsnarren zweimal sagen, weshalb Herbsteins fröhliches Treiben unter närrischen Zurufen wie Heeeeeeee, hallo! oder Kommen sie gefälligst zurück, wir wollen nach Frankfurt! endlich weiterging. Anfangs verlief auch alles planmäßig.

Psychiater: Aber?

Alessa Marie: Kurz darauf kommt es im Schatten des ältesten Karussells der Welt auf dieser kleinen Steinbrücke zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen mit und dem Eremi- tenanwärter.

Psychiater: Hat der Unhold dich sexuell bedrängen wollen?

Alessa Marie: Nein, nicht das, was sie jetzt gerne hören würden.

Psychiater: Sondern?

Alessa Marie: Die Karussellpferde hatten mir gleich zu Beginn der Plakataktionen strenge An-weisungen erteilt, mit allen Lokomotivführern, welche sich jemals freiwillig als Bewerber zur Verfügung stellen sollten, auf dem Weg zur Klause am Karussell zu erscheinen. Gemäß ihrer seit dem 01. August 2016 gültigen Dienstverordnung, zuletzt geändert per Erlass vom 29. No-vember 2017 sind sie nämlich als vom Land Hessen beamtete Personalchefs des Staatsparks zum Führen ausführlicher Vorstellungsgespräche verpflichtet.

Psychiater: Deine Tätigleitsvergabe unterliegt also Verwaltungsvorschriften?

Alessa Marie: Genau. Ich vermittle lediglich den im Hessichen Staatsanzeiger ausgeschriebe-nen Posten. Einstellungen obliegen aber einzig und allein den hexenden Karussellbewohnern.

Psychiater: Nun, an dieser Vorgehensweise ist nichts Verwerfliches zu beanstanden. Und obs-kure Hexentätigkeiten sind darin auch nicht zu erkennen. Du weißt sicher aus dem Fach Wirt-schaftslehre, das viele Firmen händeringend qualifizierte Mitarbeiter suchen. Oft vergeblich. Gezielte Auswahlverfahren professioneller Personachefs erscheinen daher gerade für Festan-stellungen im Landesdienst unumgänglich. Sonst tanzt ja jeder an.

Alessa Marie: Stimmt, das sagt unser Chemielehrer auch immer. Aber wie konnte ich ahnen, dass sich ausgerechnet Heiner der Hitzkopf beworben hatte?

Psychiater: Heiner der Hitzkopf?

Alessa Marie: Als der Bajazz brav hinter mir über die Brücke sprang, rief Hatatitla ermahnend herüber: Alessa Marie! Kommst du bitte mit ihm erst zu uns? Herrje!!!!, geht es mir durch den Kopf. Vor lauter Euphorie hättest du beinahe seinen Termin vergessen. Nicht auszudenken!!!! Prompt packe ich ihn fest am Armgelenk, versuche dessen Sprünge auf den Weg links zum Karussell zu lenken. Dummerweise hatte ich mich jedoch kurz vor dem steinernen Bauwerk verplappert und großspurig herausposaunt: Gleich haben wir es geschafft! Die Eremitage liegt geradeaus, gleich hinter dem alten Kurgebäude, sie müssen gar nicht mehr weit hüpfen! Wes-halb er verständlicherweise ständig hopsend gegenlenkte, um schnurstracks endlich seinen Automaten zu erreichen. Energisch stellte ich mich ihm direkt in den Weg.

Psychiater: Alessa Marie, nur so fürs nächste Mal. Das Aufbauen von Blockaden ist bei Stim-men hörenden Personen nach unpassenden historischen Vergleichsfragen ebenfalls bedenk-lich. Stell dir vor: Er kennt eventuell Johannas Biographie, verweigert aber in Domrémy-la-Pu-celle trotzig Gottes Auftrag. Bordeaux wäre 2018 noch englischer Besitz, weil du...

Alessa Marie: Uuuuuuuuuuuuupppss! Jedenfalls versucht mich dieser Zugführer glatt beiseite zu schieben. EY, PFOTEN WEG!!!!!, fauche ich und will den Kerl mit Judotricks ausschalten, um ihn am Boden liegend in Personalbüro zu ziehen; ähnlich wie Ruppströmungen unvorsichtige Schwimmer weit aufs offene Meer hinaus. Da ahnte aber noch niemand im Park, dass Heiner der Hitzkopf vor mir stand.

Psychiater: Heiner der Hitzkopf sagt mir als Name ehrlich gesagt überhaupt nichts. Warte, ich googele mal...erzähl ruhig weiter!

Alessa Marie: Die Bajazz-Imitation musste im früheren Beruf wohl Soldat oder ähnliches ge-wesen sein. Es kommt zum Duell auf der Brücke. Keiner macht Geschenke. Anfangs von mei-nen Künsten überrascht, kannte er leider zahlreiche Kniffe mehr...drei Minuten später fand ich mich mit Armen und Beinen zappelnd auf seinen stählernen Schultern wieder. Hohohohoho!!!! Du bist ja eine richtig gut trainierte Jodokämpferin, lacht der Rohling höhnisch, allerdings rei-chen Schwarze Gürtel nicht aus gegen Heiner der Hitzkopf!

Psychiater: Heiner...Heiner...hier...nur zwei läppische Zeilen...erzähl ruhig weiter!

Alessa Marie: Mit dem verlorenen Kampf um die Brücke schlug das Schicksal dann endgültig zu. Begleitet von Missis nörgelnden Aufforderungen wird mein strampelnder Körper von Hei-ners mächtigen Pranken umfasst springend abtansportiert. In größter Not schreie ich: Theluu-uuuuuuuummaaaaaa!!!! Helaaaaaaaaaachriiiiiiii!!!! Hiiiiiiiiiilffeeeeeeeeeeeee!!!! Ein grausamer Berserker enführt mich!!!!!!!!!!

Psychiater: ...vielleicht bringt diese Suchmaschine mehr...erzähl ruhig weiter!

Alessa Marie: Was nun passierte, glich Fausthieben ins Gesicht. Statt hilfsbereit herbeieilen-den Galopp vernehmen meine Ohren vielmehr Hatatitlas verärgerte Worte: Na los, zack, zack! Beeil dich, du Trödeltante! Im Personalbüro ist Dienstschluss, und als Beamte denken wir gar nicht daran, wegen deiner Bummeleien auch nur eine Minute länger zu arbeiten! Doch es war nur der Beginn ihres Psychoterrors. Nela mischt sich ein, die gerade mit Simon technisch in-terssierten Parkbesuchern Einzelheiten zum Ablauf des Karussellbetriebes erläuterte.

Psychiater: Das nenne ich berufliches Engagement. Sich im Büro für über ihre vorgeschriebe-nen Aufgaben hinausgehenden Tätigkeiten Zeit zu nehmen, kommt bei Beamten - hmm, sagen wir mal - selten vor. Vorbildlich.

Alessa Marie: Herr Doktor, das sind alles raffinierte Täuschungsmanöver. Glauben Sie mir, die Karussellpferde tun nur so harmlos. Sie spielen Hanau geschickt etwas vor, um dadurch mög-lichst viele Kinder und Jugendliche zu sich ins Hexenhaus zu locken. Sie machen mit dem bö-sen Geist gemeinsame Sache.

Psychiater: Was hat die...höhöhöhöhöhö...Hexe Nela denn gesagt? Dass sie Hagel herbeirufen wird? Dass Simon und Spartacus sprachlich korrekt ausgedrückt Hexer heißen, nicht Hexen?

Alessa Marie: Entschuldigen Sie bitte vielmals diese peinlichen Unnahmlichkeiten, und drehen Sie sich unter keinen Umständen um!!!! Das plärrende Ding dahinten ist nämlich Dating Marie. Als ob er darauf gewartet hätte, lästert Simon: Oh Graus!!!!! Dating Marie????? Zweifellos. Er-kennbar an der Schminke. Hähähähähä, hat sie nicht geschwätzt, reiche Zahnarztsöhne seien absoluter Mindestanspruch was einen festen Freund anbetrifft? --- Hihihihihihihihihihihihihihi, tuschelt Nela fies, und nun lässt sich das Luxusgirl von DB-Mitarbeitern auf Regionalbahnni- veau abschleppen. Wahrscheinlich hat sie inzwischen in der Schule gelernt, dass das Leben kein Wunschkonzert ist. Wenig später kommen wir unter schallendstem Besucherlachen am Teich vorbei. Hoffnung blüht auf. Wenn die jemand helfen kann dann nur die süßen Entlein. Ich flehe: Enten, süße Enten, hört, ihr müsst mit unbedingt helfen! Fliegt herbei, schnappt diesen Mann mit euren Schnäbeln an seiner Dienstuniform, und flattert mit ihm schleunigst zum Ka-russell! Er hat dort ein wichtiges Vorstellungsgespräch.

Psychiater: ...hm...Heiner der Hitzkopf...wieder nur ein vager Querverweis...erzähl ruhig weiter!

Alessa Marie: Meine Erkenntnis ist bitter: Von denen hast du nichts zu erwarten. Stumm wen-den sich alle desinteressiert ab, schwimmen lieber zur Spitze der Cheopspyramide, um deren Spiegelbild im Wasser zu bewundern. Eins weiß ich: Futter gibt's von mir keines mehr!  

Psychiater: ...hm...Chephrenpyramide?...aah, hier...Heiner der Hitzkopf...nein, erneut nur Quer-verweise...die Sache scheint heikel zu sein...hmmmmmm...

Alessa Marie: Nein, die Cheopspyramide!!!! Napoléon Bonaparte ließ das Bauwerk doch 1799 zerlegt von Ägypten nach Hanau bri...

Psychiater: AHAAAAAAAA, endlich hier etwas Konkretes...ich lese mal vor: Heiner der Hitzkopf war von 2000 bis 2004 ein berüchtigter Söldneranführer und operierte in verschiedenen afri-kanischen Staaten entlang des Äquators. Für weltweites Aufsehen sorgte seine bunt zusam-mengewürfelte Truppe durch die kühne Erstürmung der Residenz des usubalkusafulischen Machthabers Besikeki Dalibalu im März 2002, worauf ihr erfolgreicher Kommandant kurzer-hand das Präsidentenamt abschaffte und sich selbst zum König Heineralasu I. proklamierte. Berauscht vom Triumph verließ ihn Fortuna jedoch alsbald. Blind vor Liebe heiratete er nur ei-nen Tag nach dem Staatsstreich die jüngste Tochter des gestürzten Präsidenten, welche aber schon zwei Wochen später beim Obersten Gerichtshof die Schnellscheidung einreichte und alles beim Putsch Erbeutete samt Königspalast als Unterhalt zugunsten direkter Familienan-gehöriger zugesprochen bekam. Sämtlicher finanzieller Mittel beraubt, verlor Heineralasu I. den Rückhalt seiner vergeblich auf großzügige Soldzahlungen schielenden Einheit, die ihn da-raufhin rebellierend vom Thron jagte und den alten Machthaber wieder ins Amt einsetzte. Von Amor ausgelacht floh Heiner steckbrieflich gesucht vor dem politischen Zorn des Ex-Schwie-gervaters, um sich in benachbarten Ländern glücklicher an die Macht zu putschen. Nach 107 fehlgeschlagenen Umsturzversuchen zog er sich schließlich 2004 enttäuscht sowie völlig ru-iniert nach Deutschland zurück und begab sich in Psychotherapie. In deren Verlauf begann er über Fördermaßnahmen des Arbeitsamtes eine Lokomotivführerausbildung bei der Deut...

Alessa Marie: ACH SOOOOOO, das erkärt auch sein Verhalten kurz nach Passieren des Teichs. Plötzlich blieb er ruckartig stehen und erteilte strengste Befehle an Leute, die ich nicht sah: Halt, Männer!!!!! Dort im Dschungel liegt der Präsidentenpalast. Kurze Lagebesprechung. Luigi und Jerôme besetzen den Westeingang!!!! Pedro, James, ihr nehmt den Osteingang!!!! Klaas, du sicherst mit Igor, Ralf, Morten und dem Albaner von hinten!!!! Der Rest sürmt mit mir das Hauptportal!!!! Habt ihr auch alle gut eure Maschinengewehre überprüft, Jungs? Dem korrup-ten Fettsack da drinnen werden wir jetzt einheizen. Kaum hatte er seine Kommandos erteilt, lösten sich jene zuvor eingetretene salzsäulenartige Erstarrungen, und Heiner schaffte mich in misslicher Schulterlage zur Einsiedelei.

Psychiater: Ein großer Erfolg für dich.

Alessa Marie: Leider nur für zwei Stunden. Als wir eintrafen, bekam er von mir die Mönchs-kutte sowie ein Buch zur Geschichte des ältesten Karussells der Welt  ausgehändigt. Dennoch hatte Heiner den Stempelautomaten nicht vergessen. Improvisation war angesagt: Aaach, fast vergessen, den mussten sie heute früh wegen eines Defekts zur Reparatur bringen. Dürfte bis 18 Uhr dauern. Wenn Sie möchten, können Sie zwischenzeitlich schon am Tisch mit dem Me-ditieren beginnen. Der soeben frisch eingekleidete Einsiedler entgegnete: Ok, mache ich, Klei-ne, du bist voll cool! Sprach's und setzte sich artig nieder.

Ich triumphierte innerlich: Yo, du hast es geschafft, Alessa Marie!!!!! Bald wird er sein Studium des heiligen Textes beendet haben und danach als ehrüwrdiger Erleuchteter für jeden ihn um Hilfe aufsuchenden Menschen das Karussell drehen. So wie der Daibutsu von Nara in der im-posanten Tempelhalle das Rad.

Psychiater: Also doch ein großer Erfolg für dich!

Alessa Marie: Die meditative Versenkung des Eremiten fand gegen 14 Uhr ihr jähes Ende.

Psychiater: Wollte er wieder Befehle geben?

Alessa Marie: Nein. Vier Bahnkollegen eilten mit seiner vermutlich zweiten Ehefrau hastig auf die Klause zu. Schaaaatziiii, Schaaaatziiii, rief sie aufgeregt, du hast heute früh daheim deinen Fahrschein vergessen!

Psychiater: Kannst du mir mehr über diesen Fahrschein erzählen?

Alessa Marie: Ein Einzelfahrschein Kinder der Stadtwerke Offenbach, gültig entwertet für den 22.09.2017. Jubelnd rief Heiner der Hitzkopf daraufhin: Hurra, da muss ich ja gar nicht mehr bis 18 Uhr warten!!!! Schau, Kleine, Hasilein bringt mir persönlich das Ticket vorbei! Strahlend wie Modelleisenbahnen anhinmelnde Jungs nahm er das Billet unter gütg lächelnder weibli-cher Anteilnahme entgegen, zeigte es stolz herum, während ihm an beiden Wangen unzählige Freudentränen herunterkullerten. MAMA, ICH HAB EINEN!, hallte es. ICH HAB EINEN! MENSCH, MAMI, HIER SCHAU, ICH HAB EINEN! ICH HAB ENDLICH EINEN! JUHUUUUUUUUU!!!!! Daraufhin springt mein Eremit vom Stuhl auf, zieht eiligst wieder seine DB-Dienstkleidung an und rennt unter ermunterndem kollegiallem Beifall sowie anfeuernden Zurufen der liebenden Gattin wie Vorwärts Heinerlchen, du liegst super in der Zeit!!!!! oder Bärli, lauf, du schaffst das!!!!! pflicht-bewusst davon. RB15228 konnte mit über dreistündiger Verzögerung zur Erleichterung aller doch noch nach Frankfurt weiterfahren. Mich ließ man fassungslos zurück. Wie vom Donner gerührt knipste ich das Licht aus und schloss hinter mir die gusseiserne Gittertür ab.

Psychiater: Ja, und danach?

Alessa Marie: Taumelte ich apathisch heimwärts. Ach, Herr Doktor, ich bin wirklich die größte Versagerin der Weltgeschichte!

Psychiater: Es ist mir eine große Ehre, dich auch hier wieder enttäuschen zu dürfen. Aus jener vernachlässigenswerten Episode etwaig entstandene Minderwertigkeitskomplexe abzuleiten, wäre aus meiner fachärztlichen Sicht untrügerisches Zeichen stümperhafter Diagnostik, wie sie beim Kollegen ein Stockwerk höher zum Praxisalltag gehört. Vielmehr; Herzlichen Glück-wunsch, liebe Alessa Marie!

Alessa Marie: Hä?

Psychiater: Hat sich denn damals keiner bei dir bedankt dafür, dass du an jenem Tag zu Hes-sens Superheldin wurdest?

Alessa Marie: Ehrlich gesagt nicht.

Psychiater: Nur aufgrund deiner leidenschaftlich geführten, aufopferungsvollen Eremitenan-werbung löste das Offenbacher Stadtgrenzentrauma bei Heiner der Hitzkopf keine fataleren Reaktionen aus. Im Artikel steht nämlich auch etwas zur Hintergrundgeschichte seiner Söld-nerkarriere. Ich lese nochmal vor: Heute gibt sich Heiner der Hitzkopf geläutert und hat sich öffentlich von sämtlichen Umsturzaktionen distanziert. Neben seinen therapeutisch notwendi-gen Tätigkeiten als Lokomotivführer schreibt er erfolgreich pazifistische Söldnerromane und gibt Interviewes. Auch zu jenen gravierenden Anschuldigungen, welche 2014 in diversen süd-koreanischen Live-Talkshows ehemalige Untergebene gegen ihn erhoben. Zwei immer hinter großen Paravans unter den Pseudonymen Mombasa Hannes sowie Antoine Kalaschnikov auf-tretende Söldner prangerten mit computerverstellten Stimmen vor laufender Kamera schwe-re von ihrem früheren Kommandeur begangene Menschenrechtsverletzngen an. Dieser hätte angeblich seine Männer bei wolkenverhangenen Sichtverhältnissen vom unterhalb des zen-tralamerikanischen Vulkans El Arenal befindlichen Trainingslagers regelmäßig lediglich mit Badehosen sowie Sommersandalen bekleidet auf den Kratergipfel gejagt. Heiner der Hitzkopf bestreitet hingegen bis heute vehement sämtliche Vorwürfe, beteuert, derartige Übungen sei-en im Söldnerwesen gängige Praxis und stünden im Einklang mit internationalen Standards.

Auf Pressekonferenzen häufig zu Motiven seines einstigen Tuns befragt, macht er gegenüber Reportern stets äußerst traumatische Kindheitserlebnisse dafür verantwortlich, schuldlos in die düstere Welt bezahlter marodierender Landsknechte geraten zu sein. Demnach hatte er 1992 als Dreizehnjähriger während einer Straßenbahnfahrt von Frankfurt am Main nach Of-fenbach kurz vor der Station Offenbach Stadtgrenze, welche damals zugleich als Tarifgrenze zwischen beiden Städten fungierte, vollkommen schockiert gemerkt, dass nach dem allerers-ten Rendezvouz kein Pfennig mehr zum obligatorischen Lösen eines Tickets der Stadtwerke Offenbach zur Weiterfahrt im echt ledernen Brustbeutel klingelte. Weinend vor Angst, womög-lich als Schwarzfahrer erwischt zu werden, stieg der ehrliche Pfadfinder an der Haltestelle aus und musste hilflos zusehen, wie die "Linie 16" ohne ihn in Richtung Marktplatz davonfuhr. Anstatt für soviel Ehrlichkeit jedoch Dank oder Anerkennung zu ernten, bestrafte eine daheim ungehalten wartende Mutter ihren spendablen Sohn mit dreimontigem Taschengeldentzug.

Alessa Marie: Seltsam, in Offenbach fährt doch gar keine Straßenbahn.

Psychiater: Besagte Umstände sind jüngeren Generationen auch nicht mehr verständlich, der Abschnitt wurde 1996 nach der S-Bahneröffnung stillgelegt. Vor Gründung des RMV mussten aufrund geltender Tarifbestimmungen aus Frankfurt kommende Fahrgäste bis 1995 tatsäch-lich an der Stadtgrenze im Straßenbahnzug beim Fahrer ein Ticket für das Offenbacher Gebiet lösen sowie entwerten, wofür in den Wagen eigens kleine gelbe Stempelautomaten montiert waren. Ich selbst erinnere mich noch gut an jene freundliche Damenstimme vom Band, kann ihre Durchsage sogar im Schlaf trällern: Nächste Haltestelle: Offenbach Stadtgrenze. Stadt- und Zahlgrenze. Zur Weiterfahrt in Richtung Marktplatz mit der Linie 16 benötigen Sie einen Fahrschein der Stadtwerke Offenabach. Ach, es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen, wenn ich in Oberrad wie ein hypernervöser Zappelphilipp begann, meine Hosentaschen zu be-fühlen, ob sich auch wirklich das bald benötigte Geld darin befände. Quälende, zermürbende Ungwewissheit, als Offenbacher auch wirklich gleich in die Heimatstadt einreisen zu dürfen oder an der Grenze als anständiger Bürger aussteigen zu müssen, hat Generationen Unschul-diger gezeichnet. Und an allem waren nur die Frankfurter Schuld! Wie immer!

Alessa Marie: Hmmm...dann sind das wohl am Bahnhof Hanau Wilhelmsbad...ähm...vielmehr an der Haltestelle Offenbach Stadtgrenze...bestimmt jene Straßenbahndurchsagen gewesen, die Heiner in Furcht und Schrecken versetzten, weil er sich an besagtem Tag 1992 trotz sym-pathischer Aufforderungen durch dieses Sprechband dank Alexandra keinen Fahrschein mehr leisten konnte. Sein kindisches Gebaren hingegen war eine Auseinandersetzung mit der nicht minder traumatischen Erfahrung, trotz größter Ehrlichkeit von Mama später bestraft worden zu sein, garantiert.

Psychiater: Sehr gut erkannt! Ich sehe, aus dir wird eine kompetente Psychiaterin. Im Artikel steht aber noch mehr. Laut eigenen Aussagen wurde Kleiniheini auf seinem anschließenden Fußweg unfreiwilliger Zeuge gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen springend Steine werfenden vermummten Demonstranten, welche um jeden Preis die Schließung der Kaiser-Friedrich-Quelle verhindern wollten, und Polizeikräften. Von zwei hübschen Militantinnen sei er angeflirtet sowie für sechs Tüten Fruchtbonbons angeheuert worden, neunzig Minuten lang Nachschub von nahen Baustellen an den überall lichterloh brennenden Autoreifen vorbei her-beizuschaffen. Früh hineingezogen ins bezahlte Kriegshandwerk hätte es ihn 1998 als Abitu-rient - trotz anerkannter Kriegsdienstverweigerung - deshalb nach Mittelamerika verschla-gen, um sich einer von Captain Zacharias de Kerk geführten Söldnerkompanie zunächst als Hilfsbursche anzudienen. Nochmaliges Zitat: Diese Behauptungen konnten aber nie zweifels-frei überprüft werden. Sie sind wohl als Teil selbst gestifteter Mythenbildungen um seine Per-son zu interpretieren, welche den späteren legendären Ruf als Putschist Heiner der Hitzkopf zusätzlich umranken sollten. Eindeutig bewiesen ist jedoch, dass unser Mädchen für alles un-ter de Kerk rasch zum Commandante aufstieg und Anfang 2000 in Costa Ricas undurchdring-lichen Regenwäldern eigene Einheiten ausrüstete.

Aus wiederum nicht näher bekannten Gründen löst Heiner diese Truppen merkwürdigerweise noch im August desselben Jahres unerwartet wieder auf, verschwindet über Nacht sang und klanglos im Nebelwald. Die Spur verliert sich vor Miamis Atlantikküste, bis er drei Monate später in Usubalkusafulien auftaucht. für mich als Psychiater klingen seine Begündungen je-denfalls durchaus glaubwürdig, erklären sie doch präzise jene von dir beschriebenen Wurf- beziehungsweise Sprungbewegungen. Letztere hatten nichts mit Herbsteins Bajazz zu tun, sondern waren flashartig hochschießende Kindheitserinnerungen an seine moralisch unver-kraftete Teilnahme am schonungslos ausgetragenen Straßenkampf um Offenbachs heiliges Quellwasser, die ihn zum Söldenr degradierte.

Alessa Marie: Also von wegen: Jeden Tag eine gute Tat.

Psychiater: Für eine Handvoll Dollar.

Alessa Marie: Toll, am Ende wälzte er persönliche Schuld für das verspätete Heimkommen raffiniert auf Alexandra ab und vertuschte eigene Käuflichkeit als ehrbarer Pfadfinder.

Psychiater: Der Rosenkavalier par excellence. Für eine aufrechte Haut müssen das seelische Folterqualen gewesen sein. Tja, alles nur, weil unser armes Bübchen wenige Minuten zuvor Spielball perfider Tarifpolitik zweier verfeindeter Städte wurde.

Alessa Marie: Hmmmmm...mit der übereilten Hochzeit wollte er dann vermutlich das Trauma vieler Jungs verarbeiten: wegen eines Mädchens plötzlich ohne Geld dazustehen. Und den Lo-komotivführerberuf hat Heiners Psychiater deshalb als Therapie für ihn ausgewählt, um ihm als Straßenbahnfahrer irgendwann wieder angstfreies Überqueren von Stadtgrenzen zu er-möglichen. Logisch, die brauchen eh keine Fahrscheine.

Psychiater: Bravo, werte zukünftige Frau Kollegin! Therapeuten von OST-Patienten bevorzu-gen bei den hochdramatischen Traumaaufarbeitungen ausmahmslos die Lokführermethode. Berufliche Kontaktherstellungen mit Tramfahrzeugen würden unzumutbarste Konfrontationen mit dem Auslöser darstellen. Aus diesem Grund nähert man sich der seelischen Verletzungs-ursache mittels Ersatzstraßenbahnen.

Alessa Marie: Als Lokomotivführer.

Psychiater: Äußerlich. Innerlich aber nach wie vor als Straßenbahnpassagier. Vereinfacht aus-gedrückt: Heiners Lok- oder Zugführersitz symbolisiert exakt jenen Platz, von dem Pfadfinder Heinerli 1992 zwangsweise aufstand, damit er nicht zum unwürdigen, eventuell sogar frisch ertappten Schwarzfahrerbetrüger wurde. Dazu musst du wissen, dass sämtliche am Offenba-cher Stadtgrenzentrauma leidende Personen, welche die Deutsche Bahn AG beschäftigt, ihre Therapiemaßnahmen nur unter strengsten Sicherheitsauflagen antreten dürfen. Monatlich er-halten sie vom behandelnden Psychiater für jeden Arbeitstag eine gültig gestempelte, origi-nalgetreure Imitation des Offenbacher Stadtwerketickets ausgehändigt. Diese ist während des gesamten Dienstes jederzeit griffbereit mitzuführen. Brechen unterwegs unvorhergesehen al-te traumatische Konflikte auf, können OST-Patienten hektisch hinlangen und dabei seelisch erleichtert feststellen, dass sie sich im Besitz eines rechtmäßig entwerteten Fahrscheins be-finden. Automatisch verwandelt sich nun der gegenwärtige Dienstsitz in ihrer Wahnwelt zu-rück in jenen einstigen Straßenbahnsitzplatz, auf dem sie nun als ehrliche Menschen sitzen-bleiben dürfen.

Alessa Marie: Stimmt, wie dämlich von mir. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?

Psychiater: Auch Sigmund Freud hat einmal klein angefangen. Allein deine wundervolle, krea-tive Plakataktion vermochte derart traumatische Flashs überhaupt erst auszulösen, wodurch eine Katastrophe biblischen Ausmaßes abgewendet wurde. Beim Anblick des Schildes dräng-ten längst ins Unterbewusstsein gewanderte Bilder wütend hochgehaltener Tranpsarente so-wie aggressiv springender militanter Steinwerfer der Autonomen Szene blitzartig nach oben. Prompt wechselten für Zugführer Heiner die von Wilhelmsbad weiter Richtung Frankfurt füh-renden Eisenbahschienen ihre Symbolik, indem sie nunmehr jene Staßenbahntrasse darstell-ten, auf der die Linie 16 an jenem Tag von der Haltestelle Offenbach Stadtgrenze ohne Klein Heini bis zum Marktplatz fuhr.

Kaum auszudenken: Wenn Ex-Söldnerführer Heiner sein fehlendes Offenbachticket ohne dei-ne großartige Initiative bemerkt hätte! Für am Offenbacher Stadtgrenzentrauma leidende Lok-führer symbolisieren nämlich alle fahrplanmäßigen Bahnhöfe oder Haltepunkte, die vor Stadt-grenzen liegen, zwanghaft besagte Tramhaltestelle Offenbach Stadtgrenze, ihre Züge folglich genau jene "16" in welcher sie es erlitten. Im verzweifelten, sinnlosen Ankämpfen gegen frü-here Tarifregelungen würden die Traumatisierten trotz grüner Signalanzeigen vehement eine Stationsausfahrt verweigern, stattdessen aussteigen und sich genau vor dem Zug mitten auf das Gleis legen, wodurch eine Staßenbahnweiterfahrt ohne sie in Richtung Marktplatz un-möglich werden soll. Die Forschungsliteratur beschreibt sogar Fälle, dass OST-Patienten den fehlenden Fahrschein nicht wie idealerweise direkt an der Haltestelle Offenbach Stadtgrenze, sondern unglücklicherweise erst hinterher auf offener Strecke bemerkten. Aus schrecklicher Angst vor Kontrolleuren fuhren sie die Straßenbahn sofort zur Tarifgrenze zurück, um ja nicht als überführte Schwarzfahrer ihren Job uu riskieren. Wie jener bemitleidenswerte Zugführer, welcher am 26. April 2015 seine S8 rund 200 Meter vor Dietesheim per Nothalt stoppte und nach Steinheim retour fuhr.

Alessa Marie: Ohje, also hat Heiner, der Pechvogel, an nur einem einzigen Tag insgesamt vier Traumas auf einmal erlitten.

Psychiater: Traumen oder Traumata heißt die Pluralbildung von Trauma übrigens korrekt. Das ist nämlich ein Fremdwort aus dem Altgriechischen.

Alessa Marie: Ach sooo, ich habe leider nur Englisch, Französisch, Spanisch und Japanisch in der Schule. Ich meine halt: erst die finanzielle Ausplünderung durch ein Mädchen, dann dieser Fahrscheinhorror in der Straßenbahn, anschließend neunzigminütiger Einsatz als angewor-bener Freiwilliger im qualmenden Straßenkampf, und damit traumatisch nicht genug, zur ab-schließenden Krönung auch noch drei Monate Taschengeldentzug durch seine erboste Mutter trotz ungerechtfertigter Schuldzuweisungen an Alexandra. Derart viele Traumata waren dann wohl einfach zu viel. Klaro, das muss ein ansonsten grundehrlicher Pfadfinder erst mal ver-kraften. Kein Wunder, warum er mit seinem weißen Bart um Jahgre gealtert wirkt.

Psychiater: Eine perfekte Zusammenfassung eines traurigen Schicksals. Mais ca c'est la vie, Madame de la Marquise.

Alessa Marie: Oui, c'est vrai. Allerdings trägt meiner Meinung nach bei all dem, was an jenem Freitag in Wilhelmsbad passierte, die Deutsche Bahn AG alleinige Verantortung für entstande-ne Zugverspätungen. Dennn wie kann man vor diesem Hintergrund dermaßen blauäugig Of-fenbacher therapeutisch als Lokführer beschäftigen? Überhaupt: Offenbach! Offenbach! Wenn och das schon höre! Über Offenbach sagt mein Vater immer den ulkigen Spruch: In Offenbach sitzt der Teufel auf dem Dach!

Psychiater: Hahahaha!

Erzählrunde 4

Alessa Marie: Ähm, warum lachen Sie eigentlich?

Psychiater: Dein Vater scheint mir etwas zu verwechseln.

Alessa Marie: Wieso das denn?

Psychiater: Korrekt heißt es: In Ditzebach, in Ditzebach, da sitzt de Deiwel unnerm Dach! Un-nerm, nicht uffm.

Alessa Marie: Also annersd erum, gell?

Psychiater: In Dietzenbach stand nämlich vor langen Zeiten ein altes, kleines Fachwerkhaus mit dieser Teufelsfigur unter dem Dach. Bis der Krieg kam.

Alessa Marie: Ich vermute jetzt mal, das Haus existiert nicht mehr?

Psychiater: Richtig erfasst. Doch als Erinnerung wurden ihm und seiner Figur 2010 im Stadt-kern ein würdiges Denkmal errichtet.

Alessa Marie: Ach, du liebe Zeit!!!! Dann hat Papa ja einen komplett falschen Spruch über die Lederwarenstadt erzählt. Kein Wunder also, dass Offenbach bei uns keinen besonders guten Ruf besitzt...oh...nein...ich dachte immer...Papa weiß alles...er weiß doch alles...

Psychiater: Taschentuch?

Alessa Marie: Jaaaaaaaaaaaaaaaaa...zwei...bitte...das packe ich jetzt alles einfach nicht mehr... Papaaaaaaaaa...wie konntest du Mama, Johanna, Charlotte und mich jahrelang nur so gemein täuschen? Mensch, wir haben dir doch vertraut...Papa...dir vertraut...DU LÜGNER!!!!!!

Psychiater: Sicherlich hat dein Vater Offenbachs hervorragenden Ruf nicht absichtlich schädi-gen wollen. Als Bub schnappte er garantiert jene von missgünstigen Neidern bewusst verbrei-tete Verfälschung irgendwo bei tratschenden Erwachsenen im Tante Emma Laden auf. Ihrem Geschwätz kindlich zutiefst vertrauend wurde sie durch ihn guten Glaubens weiterverbreitet. Papa kann nichts dafür. Papa ist ein Opfer. Verzeih ihm bitte, Alessa Marie! Und deshalb ist es jetzt für dich als älteste Tochter heilige Pflicht, mit dem, was du weißt, jegliche Ressentiments bei euch über Offenbach mutig beiseite zu räumen. Denk dran: Null Toleranz gegenüber Anti-semitismus und Fremdenfeindlichkeit! Nie wieder Hexenverbrennungen! Nie wieder Krieg! Nie wieder Märchenerzählungen! Wehret den Anfängen!

Alessa Marie: Danke, Herr Doktor, es geht mit schon wieder besser. Ok, das mache ich gleich nachher beim Abendessen. Aber was ist dann eigentlich mit Offenbach, wenn dort der Teufel nicht auf dem Dach sitzt?

Psychiater: Ei, aus Offenbach kommt doch der leckere Pfefferkuchen vom Café Laumer sowie das herrlich köstliche Offenbacher Pils. In Offenbach leben nur aufrichtige Leut. So. Und weil es für Mitte April ungewöhnlich warm draußen ist, gönnt sich der Onkel Doktor eben mal eine Flasche. Das gibt 2018 einen Rekordsommer. Madame de la Marquise gestatten, dass meine Füße entspannt auf dem Schreibtisch ruhen?

Alessa Marie: Pourquoi pas? Unsere Klassenlehrerin sagt auch immer: "Wir sind hier wohl auf Urlaub!", wenn sie sieht, dass beide Außenreihen Füße baumelnd nach hinten an die Fenster-wand gelehnt sitzen.

Psychiater: Seeeehr lobenswert, dieser Satz. Lockerer, zwangloser, unverbindlicher Unterricht ist die Zukunft unserer Kinder.

Alessa Marie: Ähm, ich glaube, Frau B. meint das etw...

Psychiater: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhh!!!!!! Gekühlt schmeckt es am besten! Auch eins?

Alessa Marie: Hey, warum nicht, ist echt viel zu warm für April.

Psychiater: Hier, greif zu, Mädchen!

Alessa Marie: Dankeschön!

Psychiater: Keine Ursache. Und erzähle es heute Abend gleich deinen Eltern: Hervorragendes Bier hat nur Offenbach zu bieten. Doch kommen wir jetzt auf Heiner der Hitzkopf zurück. Bist du ihm später nochmal irgendwo begeg...

Alessa Marie: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhh!!!!!!!!! Gekühlt schmeckt es am besten!

Psychiater: Süffig, herb, heftig. Aus Liebe zu Offenbach.

Alessa Marie: Wie jetzt?

Psychiater: Steht hinten auf der Rückseite.

Alessa Marie: Upsi, wie peinlich. die Flasche kann man ja drehen.

Psychiater: Kein Thema. Diesen Spruch habe ich damals auch erst nach dem zweiten Kasten entdeckt. Doch zurück zur Frage: Gab es noch weitere Begegnungen zwischen dir und Heiner?

Alessa Marie: Ja...äh...nein...viellleicht...keine Ahnung jetzt. Es war halt voll seltsam irgendwie.

Psychiater: Was genau war seltsam?

Alessa Marie: Kurz darauf gab es endlich Herbstferien. Sofort am ersten Tag begab ich mich mit dem Plakat zum Bahnübergang, um Fortuna dort erneut herauszufordern.

Psychiater: Verständnisfrage nebenbei: Zwischenzeitlich warst du also nicht dort?

Alessa Marie: Nein, die Karussellpferdchen hatten mir nach dieser bitteren Enttäuschung erst mal freigegeben.

Psychiater: Sehr fürsorglich, wirklich.

Alessa Marie: An jenem strahlend blauen Montag sürme ich also bester Laune auf das Park-gelände, drehe mich enthusiastisch im Kreis, rotiere wie ein herbstlicher Wirbelsturm Plakat schwenkend dem ältesten Karusselll der Welt entgegen, schreie permanent: Feeeeeeeeeeee-eeerrrrrrrrrrrrriiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeennnnnnnnnnnnnnn!!!!!!!!!!!!! Juuuuuuuuuu-uuuhhhhhhuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!!!!!!!!!!!!

Völlig außer Puste muss ich bei Theluma und Helanchri stehenbleiben, um tief Luft zu holen. Vor ihrer Wohnung vollkommen abgekämpft schnaufend, kommen mir wie aus heiterem Him-mel innere Eingebungen: Hm, es könnte doch sein, dass sich Heiner der Hitzkopf hier irgend-wo auf dem Areal aufhält. Er könnte doch erneut sein Psychoticket vergessen haben und vom Bahnhof hierher gehüpft sein, hoffend mich glücklicherweise wieder anzutreffen. Genau!. Ha, bestimmt versteckt sich Heiner zunächst im Wald, bis der RMV Ersatz auftreibt, und die Luft für ihn rein ist. Genau! Deshalb gehst du sofort dort hinein und beginnst mit dem Suchen! Er kann nicht weit sein. Genau! Du lockst Heiner erneut zur Klause, sperrst ihn auf der Stelle ein, damit er dir kein zweites Mal entwischt! Zum Glück trägst du heute deine knallenge Jeans, um nachher auf dem Freiheitsplatz sämtliche Jungs kirre zu machen. Genau! So machst du es!

Psychiater: Eine auf wirklich gutem Zeitmangement basierende, beeindruckende Strategie.

Alessa Marie: Doch das fiese Schicksal machte mir...*hicks*...einen Strich durch die Rechnung.

Psychiater: Prost! Schon leer? Sag bloß!

Alessa Marie: Süffig, herb, heftig. Aus Liebe zu Offenbach.

Psychiater: Wie jetzt?

Alessa Marie: Steht doch hinten auf der Rückseite.

Psychiater: Genau, genau, da hette wohl ich eine lange Leitung.

Alessa Marie: Uuuuuuuuuuuuuuuhhhhhh...jedenfalls war das...*hicks*...noch...ja...nein... doch... hmm...genau...gerade begebe ich mich den Stufenweg vom Karusell hinab als meine plötzlich vor Entsetzen gelähmten Augen...hihihihihihihihihihihi...voll balla balla...eine fliegende Spinne entdecken. Eine fliegende Spinne! Und sie flog voll schnell!

Psychiater: Madame de la Marquise belieben zu scherzen.

Alessa Marie: Nein, wirklich, Herr Doktor, ich quatsche hier keine Märchen!!!! Direkt neben mir flog sie senkrecht vom Himmel herab...hahahaha...wie eklig...boooooooaaaaaaaahhhh...wie ich Spinnen haaaaaaaaaaaaaaaaaassssssssssääääääääää mit ihren langen, dünnen, widerlichen Beinen...huhuhuhuhu...stellen Sie sich vor, was ich zuerst dachte.

Psychiater: Du wirst es mit sicher gleich verraten.

Alessa Marie: Hahahahahahahahha...der war echt gut! Aaaaaaaaaaaallllllssssssooooooo...vor lauter Panik dachte ich im ersten Moment, es könnte sich um eine Schwarze Witwe handeln, die Lukas und Lea extra im Park ausgesetzt hatten um mich als lästige Zeugin zu tööööööööö-ööööööööööö...*hicks*...ääääääääääääääääännnnnnnnnnn.

Psychiater: Wie bist du der Gefahr begegnet?

Alessa Marie: Hihihihihiiiiiiiiiiiiiiiii....ich habe mich hingesetzt, wie wild...huhuhuhuhuuuuuuuu.... mit beiden Füßen auf den Rasenboden getrampelt sowie dabei laut schschschschschschsch-schschschschschschschschschschsch gezischt.

Psychiater: Ich muss sagen, Mädchen: originell!

Alessa Marie: Hähähähähä...ich wollte ihr dadurch beim Landeanflug ein schweres Erdbeben verbunden mit einem gleichzeitig aus dem Waldstück anrollenden Mega-Tsunami vorgaukeln, damit sie wie von der Tarantel gestochen wieder davonfliegt.

Psychiater: Alessa Marie. Kam es dir zu keinem Zeitptunkt irgendwie in den Sinn, ein kleines, harmloses Spinnchen könnte sich gerade zufälligerweise für sein Netz vom Ast über dir abge-seilt haben?

Alessa Marie: Muuuuuuuuuuuuuuuuuahahahahahahahaaaaaaaaaaa...nein, ganz im Gegenteil. Alles wurde noch viiiiiiieeeeelllll, vvvvvvvvviiiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeelllllllllllll schlimmer! Richtig beängstigend!!!!! Plötzlich lief eine Mutter vorbei und ermahnte ihren kichernden Sohn streng: Aber Daaaniel, man zeigt doch nicht mit dem Zeigefinger auf andere Menschen! Sonst kommt der Schneider mit der Scher!

Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!!

Alessa Marie: HUUCH...*hicks*...warum hauen Sie denn mit ihrer Faust auf den Schreibtisch?

Psychiater: Dabei habe ich doch in meiner Dissertation über Katharina Rutschkys Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung eindring...

Alessa Marie: Häääääää?

Psychiater: Daniel muss bei einer derart brutalen Strafankündigung unbeschreibliche Angst-zustände bekommen haben. UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!!

Alessa Marie: Neeeeeeeeeiiiinnnnnn...den Daniel meinte ich doch gar nicht.

Psychiater: Sondern?

Alesa Marie: Diesen bösen Geist aus dem japanischen Horrorfilm. Als Daniels Mutter das Wort Scher benutzte, lief mir prompt ein eiskalter...*mmmmppfffff*...ich muss aufpassen, dass ich nicht gleich...*mmmmmmmmmmmmmppppppffffffffff*...wieder lospruste...*mmmmppppfff*... Schauer über den Rücken.

Psychiater: Ach?

Alessa Marie: Der Dämon taucht ja im Film mit einer Schere in der Hand auf. Ihre Bemerkung konnte somit kein Zufall gewesen sein. Traurige Gewissheit überkam mich: Hahahahahaha... Hahahahaha...nau...stehen grässliche Heimsuchungen bevor! Ich will heimrennen, angesichts hereinbrechender apokalyptischer Szenen rechtzeitig im sicheren Keller sein. Jene magische Kraft treibt mich jedoch rücksischtslos zur Rolle als Eremitenanwerberin an. Uuuuuuuuuuuu-uuuuuuuhuhuhuhuhu..."muh" macht die Kuh. Ich betrete den ans Karussell grenzenden Wald-abschnitt und beginne schlotternd die Suche nach Heiner der Hitzkopf. Was mir auf dem laub-bedeckten Weg in Richtung Brücke sofort auffiel, war diese Sti...Sti...hihihihihihihihihihi...le. Ja. Sti...ill...ill...ill war es. Warten Sie, neuer Anlauf...sti...sti...ill...ill..ne, klappt einfach nicht.

Nachdem sich vorhin mein Herbstwirbelwind gelegt hatte, musste totaaaaaaaaaaaaaaaaaaale Windsti...hihihihihi...ille...Herr Doktööör, ich leide vermutlich ebenso an Sti...hihihihihihihi...ille-störungen...im,...öhm...wo war ich nochmal...jaaaaaaa...richtig...im Wald...eingekehrt sein, denn überall war es mucksmäuschen...hihihihi...Achtung, meine Störung kommt...sti...hihihihihi...llll-lllll. Nicht das leiseste Lüftchen. Heeeeeeeeeeeeeeeeeerrrrrrrrrrrrrrrr Doktor! Ich muss Ihnen sääääääääääääääääääääääähhhhhhhhhhhrrrrrrr wichtige Dinge anvertrauen!

Psychiater: Bin ganz Ohr!

Alessa Marie: Mmmmmmuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhhhhhhhh!

Psychiater: Supèrbe!

Alessa Marie: Plöööööööööööööötzlich...ein Knacksen hinter mir...der böse Geist...OH. MY. GOD! Obwohl mein super knappes Top, mit dem ich später noch am Freiheitsplatz unzählige Jungs heißmachen wollte, inzwischen klatschnass am Rücken klebt, beschließe ich, mich trotzdem blitzartig umzudrehen, möchte ihn als lächerliches Pha...*hahahahahahahaaaaaaa*...tom ent-larven. Dazu muss ich mir erst selber Mut zurufen und schreie schrill: HEINER?????????? BIST DUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUU DAS?????????? KOMM, WIR MÜSSEN DOCH GEMEINSAM ZUR EREMITAGE!!!!!...*mmmmmmmmmmmmmmpppppppppffffffffffffffffffffffffff*...vergeblich! Aus-gerechnet da übergibt sich mein Magen vor lauter Grauen, aaa--ber wie! Oh, mein Gott, Herr Doktor, schnell noch'n Bier, sonst muss ich hier wirklich mitten auf Ihrer schönen Couch volles Rohr llllooooooooooooooooooosspruuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhh...*mmmmmmmmmmmmmm-m-m mpppp-pppppppppppfffffff...*sten.

Psychiater: Bedien dich, Mädchen, ist genug da. Zum Wohle!

Alessa Marie: Joooooooooooaaaaaaaaa...immer her damit!

Psychiater: Guuuuuut...um nochmal auf dein Angstgefühl zurückzukommen...war es konstant? Oder konntest du entlang des Waldweg Veränderungen spüren?

Alessa Marie: Je mehr ich mich der Brücke näherte desto schliiiiiiiiiiiiiiimmmmmeeeeeettttttrr wurde es. Kurz vor dem Erreichen mustte ich sogar erneut brechen. Bäääääääääähhh, eklig!

Psychiater: Alessa Marie, pass jetzt bitte gut auf! Was jetzt kommt, ist sehr wichtig! Beantwor- te meine nächste Frage deshalb absolut ehrlich! Habe keine Angst, du befindest dich in einem geschützten Raum, und ich als dein Therapeut bin bei dir. Alessa Marie, sag mir bitte: Handelt es sich um die gleiche Brücke, auf welcher du am 22. September mit Heiner gekämpft hast?

Alessa Marie: Exakt.

Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE LEHRER!!!!!

Alessa Marie: HUUUUUUCH...*hicks*...jetzt haben Sie ja wieder so fest auf den armen Schreib-tisch geschlagen. Geht es um Katharina Rutschky?

Psychiater: Hundertmal!!!! Hundertmal habe ich eindringlich ans Kultusministerium appelliert, dass Die Brücke aus pädagogischen Gründen unter keinen Umständen mehr in Schulen ge-zeigt werden darf. Und dann hat man sie euch trotzdem präsentiert!!!!!! UNVERANTWORTLICH, DIESE LEHRER!!!!!!!!!! Und das an einer Hanauer Penne, die sich Europaschule schimpft. Aber wartet nut, ab Freunde der Nacht, 2019 bekommt ihr euer Zertifikat nicht mehr verlängert!

Alessa Marie: Häääääää?

Psychiater: UND MEINE VERZWEIFELTEN PETITIONEN AN DIE FSK, SIE MÖGE DIESEN BLUTI-GEN GEWALTSTREIFEN BITTE ENDLICH INDIZIEREN, VERHALLTEN UNGEHÖRT. UNERHÖRT!!!!!

Alessa Marie: Aber wir haben den Film doch gar ni...

Psychiater: Entsetzlich! Krieg. Soldaten. Tod. Mitten in deutschen Klassenräumen! Allein diese Horrorbilder mit der Panzerfaust, al...

Alessa Marie: Was reden Sie da nur??? Ich kenne die Brücke überhaupt nicht! Ehrlich! Ich weiß doch gen...

Psychiater: Oooh unschuldige Opfer einer verfehlten Bildungspolitik! Lehrern hilflos ausgelie-fert. Das knn nur in Sozialkunde passiert sein. Deine Lehrerin...

Alessa Marie: Wir haben in Sozi einen Lehrer, na ja, ehrlich gesagt einen Referendar.

Psychiater: Ein Referendaaaar! Da haben wir die Weihnachtsbescherung! Bestimmt von jener Sorte Studenten, die Psychologie im vierten Semester hinschmeißen, weil sie den Statistik-schein nicht schaffen und auf Lehramt an Gymnasien umsatteln. Deutsch. Hahaaaaaaaaaaaa. Sozialkunde. Religion. Sport. Damit das Erste Staatsexamen auch ja zu packen ist. Tataaaaaa-aaaaaa. Danach immer schön hereinspaziert ins bequeme Beamtenverhältnis mit viel Ferien.

Alessa Marie: Wie kommen sie jetzt auf Psychologie? Er hat doch Jura, Meereskunde, Archäo-logie sowie danach Maschinenbau abgebrochen.

Psychiater: Unmöglich. Dieser Lump log euch skrupellos an ohne mit der Wimper zu zucken. Fundierte Fachkenntnis muss vorhanden sein, denn es gibt weltweit nur eine einzige wissen-schaftlich anerkannte Methode, Menschen ihre Erinnerungen an traumatisierende Filmerleb-nisse zu nehmen.

Alessa Marie: Und die heißt?

Psychiater: Antizipierende Prophylaxe potentieller traumatischer Störungen cum iocis.

Alessa Marie: Muuuuuuuuuuuaaahahahahahahahaaaaaaaaaaaaaaaaa...antiziprofiantillesche... öhm...Störungen? Echt jetzt?

Psychiater: Garantiert hat man euch vor Filmbeginn längere Ausschnitte aus Auf los geht's los gezeigt und erklärt, es handele sich beim so charmant plaudernden Conferencier um den Dar-steller des Albert Mutz von 1959. Jene Abfolge heiterer sowie brutaler Sequenzen mit ein und derselben Person bewirkt innerpsychische Neutralisationen des Gedächtnisses, fachlich auch Vollständige Filmamnesie genannt. Joachim Fuchsberger würde sich als Soldat Albert Mutz und Showmaster Blacky im Grab umdrehen, wüsste er, wie sein ruhmvoller Name von einem dahergelauf...

Alessa Marie: Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhh!!!!! Gekühlt schmeckt es am besten.

Psychiater: Mein lieber Scholli! Schon wieder alle? Hast du einen Durst!

Alessa Marie: Süffig, herb, heftig. Aus Liebe zu Offenbach. Offenbach ist echt mega cool.

Psychiater: Wer widerspräche dir da?! Und infolge einer hinterhältig durchgeführten komplet-ten Filmamnesie könnt ihr euch an keine konkreten Stundeninhalte mehr erinnern. Weder an Auf los geht's los noch an Die Brücke. Es ist in eurer Wahrnehmung so, als ob die betreffen-den Schulstunden ausgefallen wären.

Alessa Marie: Haaaaaaaaaaaaaaaaaa...*hicks*...aaaaaallllllllllllllttttttttttttttttttt!!!!!!!! Mir kommt  da ein gaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaannnnnnnnnnzzzzzzzzzzzzzzzzzz wichtiger Eiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinn-nnnnnnn...*hicks*...wwwwwwwwwwaaaaaaaaaaaaaaaaannnnnnnnnnnnndddddd!!!!!!!!! Eigent-lich hätte ja dann in mir auf der Brücke gar keine filmische Ererinnerung aufkommen dürfen, wenn angeblich alles neutralisiert wurde.

Psychiater: Brilliant analysiert, Frau Doktor Freud in spe!!!!! Besagte Neutralisationen gelingen tatsächlich nur unter Ausschluss jeglicher Störeffekte. Vermutlich gab es jedoch ausgerech-net beim lustigen Blacky eine Durchsage eures Direktors, weshalb sich die Waagschalen zu-gunsten des Zweiten Weltkrieges verschoben. Dadurch schossen in dir während eurer Brüc-kenüberquerung im Park flashartig unverarbeitete Kampfszenen aus dem Unterbewusstsein wie Machinengewehrkugeln hoch. Schlagartig sahst du dich als Schüler Albert Mutz, hattest nun wie er 1945 ein einziges Ziel unerschütterlich vor Augen: die Brücke tapfer gegen die von Heiner der Hitzkopf verkörperten vorrückenden Amerikaner zu verteidigen.

Alessa Marie: Boooooooooo...*hicks*...aaaaaaaaaahhhhh...Alda...is jeds nich wahr!

Psychiater: Leider doch. Dank eines inkompetenten Referendars. Aber glaub mir: Noch heute fordere ich das Kultusministerium per E-Mail dazu auf, diesem Cretin unter allen Umständen die Zweite Staatsprüfung zu verweigern. Seine Lehrerkarriere muss unbedingt im Keim er-stickt werden. Taugenichtse dürfen niemals in den hessischen Schuldienst gelangen!!!!!! Hörst du, Alessa Marie? NIEMALS!!!!!!!!!!

Alessa Marie: SCHRECK, LASS NACH!!!!!!!!!!

Psychiater: Entschuldige bitte, aber ich musste einfach wieder mit der Faust auf den Schreib-tisch hauen.

Alessa Marie: Ne, das doch nicht.

Psychiater: Sondern?

Alessa Marie: Dann liegt es bestimmt an unverarbeiteten Filmsequenzen, dass ich nach dem Erbrechen vom Grauen überwältigt zu Boden sank sowie ächzend und stöhnend auf allen Vie-ren über die Brücke kroch, am Napoleonturm vorbei weiter bis zum Bahnübergang.

Psychiater: Napoleonturm?

Alessa Marie: Die künstliche Burgruine, von der aus Napoléon Bonaparte 1800 das Vergraben der Cheopspyramide leitete. Bekanntlich befahl er 1798 während seines Ägyptenfeldzugs de- ren Zerlegung, weil das altehrwürdige Bauwerk vom Wüstenklima bedroht war. Deshalb wur-den sämtliche Steine nach Wilhelmsbad transportiert, in einer riesigen Baugrube wieder ori-ginalgetreu zusammengesetzt und bis auf die etwas veränderte Spitze zugeschüttet. Kennen Sie diese Geschichte nicht?

Psychiater: Ach, Alessa Marie...jetzt...jetzt wird mir klar, was du eben meintest...es fällt mir wie Schuppen von den Augen...

Alessa Marie: Sie weinen ja!

Psychiater: Mein Therapeutenherz ist fassungslos...faassungslos...wie in Gottes Namen kann Wiesbaden so offen durchschaubare Scharlatane bloß zum Referendariat zulassen? Sieh, was der Herr Lehramtsanwärter angerichtet hat! Deine Identifikation mit Albert Mutz nahm der-maßen Formen an, dass du sogar Szenen imitiert hast, welche im Film gar nicht vorkommen. Ja, auf allen Vieren muss der arme Albert nach dem mörderischen Gefecht als einziger Über-lebender verzweifelt heim gekrochen sein. Zu seiner Mama. Alleine. Kriegstraumatisiert. Zer-stört. Fertig. Und um das Gesehene überhaupt in einigermaßen erträgliches Leid umwandeln zu können, hast du den Schrecken der Westfront gegen für uns inzwischen recht ferne Bilder vom Ägyptenfeldzug 1798 ersetzt, über den euch zuvor mal euer Geschichtslehrer erzählte.

Alessa Marie: Wooooww, es ist echt unglaublich, Sie sind wirklich ein Genie! Jetzt verstehe ich endlich, warum Patienten bei Ihnen ewig für einen Termin brauchen.

Psychiater: *räusper*

Alessa Marie: Auf allen Vieren krieche ich weiter, rufe ständig aus vollem Hals Heeeeeeeeeee-eeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiinnnneeeeeeerrrrrrrrr!!!!!!!!!!, versuche dabei gegen das mich niederpres- sende Grauen anzukämpfen, will mühsam aufstehen. Vergebens. Der böse Geist bleibt mir un-erbittlich auf den Fersen mit seiner dämonischen Aura. Im Nacken wird die scharfe Scheren- klinge spürbar. Jederzeit kann mein Kopf ab sein! Herr Doktor, was diese japanische Stadt im Horrorfilm durchmacht, war Pillepalle dagegen. Irgendwann taucht die rettende Seite hinter dem Bahnübergang auf.

Psychiater: Wie haben umstehende Passanten reagiert?

Alessa Marie: Eine ältere Frau blieb hilfsbereit stehen und meinte mitleidsvoll: Ach, Kindchen, versuch es doch mit Suchzetteln an den Straßenlaternen. Vielleicht haben ja andere deinen kleinen Liebling gesehen.

Psychiater: Rührend. Es gibt also doch noch Solidarität in unserer gnadenlosen Ellenbogen-gesellschaft. Und hinter den Gleisen?

Alessa Marie: Fühlte ich mich sofort sicher wie in Abrahams Schoß, weil die Schranken he-runter gingen. Der Verfolger musste brav auf der anderen Seite warten. Schlagartig kehrt das pralle Leben zurück. Rasch aufgerappelt will ich diese Fluchtgelegenheit nutzen, zur Marien-kirche rennen, damit die Pfarrerin Sturm läuten lässt. Dann weiter zur Polizei. Alle Kinder weg von Hanaus Straßen und Spielplätzen!!!! Doch kaum stehen meine Beine fest auf dem Boden, wird ein stärker werdendes, unheimliches Grollen hörbar.

Psychiater: Ein langer schwerer Güterzug, tippe ich.

Alessa Marie: Dachte ich natürlich auch zuerst, bin ja nicht dooof. Dieses Rumoren kennst du!, dämmert es mir dann jedoch. Tokio Narita 2013...als während des Wartens am Passschalter der Boden vibrierte, so wie bei einem über ihn donnernden tonnenschweren Lastwagen. EIN ERDBEBEN IN HANAU! DIE VORANKÜNDIGUNG! Schnell in Sicherheit bringen! Zu spät. Unter mir dröhnt der Bürgersteig, und eine tektonische Geisterbahnfahrt beginnt. Herr Doktor, das waren mindestens 8 Punkte auf der Richterskala. Mindestens. Alles schwankt. Warten Sie, ich stehe auf und zeig's Ihnen...uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhhhh...mein Kopf...alles dreht sich...uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuhhhhhhh...Hiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiilllllllllffffffffffffeeeeeeeeeeeeee... uuuuuuuuuuuuuppsssss...uufffff...jetzt liege ich wieder auf der Couch. Hihihihihihihihiiiiiiiiiiiiiiii- iiiiiiii...Mensch, Herr Doktor, ich bin gerade 16 geworden und trinke das erste Bier. 

Psychiater: Einmal ist immer das erste Mal.

Alessa Marie: Muuuuuuuuuuuuuuaaaaaaahahahahahahaaaaaaaaaaaaaaahahahahahahaaaa-aaaaaaaaaaaaaaaaaa...genau, Herr Doktor, wie beim Sex...huhuhuhuhuhuuuuuuuuuuuuu...ich kann bald nicht mehr, meine Augen tränen.

Psychiater: Taschentuch?

Alessa Marie: Huhuhuhu...*mmmmmmpppfffff*...gleich drei, bitte!

Psychiater: Schwankende Gefühle an Bahnübergängen können natürlich auch logische Ursa-chen haben. Meinen Patienten passiert es immer wieder, dass sie unversehens über tiefe Lö-cher stolpern und - San Francisco Nummer 2 direkt vor Augen - losbrüllen. Du weißt, Alessa Marie, Hanau hat kein Geld für Straßen und Bürgersteige, alles fließt ja in die grunddummen Märchenspiele. Unser feiner Herr Oberbürgermeister stellt sich natürlich in seinen Sprech-stunden ordentlich taub. Weiß von nichts. Alles super in Hanau. Wenn man mich überhaupt noch zu ihm ins Büro hereinlässt. Weißt du, Alessa Marie, seit 2014 flehe ich ihn...

Alessa Marie: Hören Sie, jener heranrasende Güterzug vibrierte sooooo stark, dass selbst das DB auf der Lok unklar verschwamm. Die Naturgewalten schienen ihn jede Sekunde wie Spiel-zeug aus den Schienen reißen zu wollen. DIE NOTBREMSE! DIE NOOOOTBREMSEEEEE!!!!!!!!!!!!!, schreie ich schreckensstarr, doch infolge heftiger Stöße aus unendlichen Tiefen schlingerte er bereits. Durch die schier unglaubliche Wucht des Bebens neigt sich der erste Waggon seitlich nach links. Der nahe Oberleitungsmast droht gefährlich vornüber zu kippen. Gleichzeitig wer-den das Warnsignal samt dieser Stange gegen die Schranke gehoben.

Duuuu, Maaaaammmiiiiii, wann geht morgen noch mal unser Zug zu Oma und Opa? Hab's ver-gessen!, erklingt da eine fragende Kinderstimme hinter mir. Ich drehe mich um. Daniels Mut-ter schaut mich total entgeistert an. Keine Zeit verlieren, jede Sekunde rettet kostbare Men-schenleben. EIN ERDBEBEN!!!!!! WEG DA, FORT, BEISEITE, EHE DER UMSTÜRZENDE OBERLEI-TUNGSMASTEN VOM ZUG FORTGESCHLEUDERT WIRD UND UNS DREI ERSCHLÄGT!!!!!!!! Außer dämlichem Glotzen null Reaktion.

Psychiater: Vermutlich kamen die beiden gerade von der Suche nach günstigen Fahrplanver-bindungen zu den lieben Großelterm, als sie das Erdbeben überraschte. Tragisch. Wer rechnet denn auch ausgerschnet am Wilhelmsbader Bahnübergang mit so was?

Alessa Marie: EY, KAPIEREN SIE'S NICHT?, versuche ich die Ahnungslose im zweiten Anlauf an beiden Schultern kräftig wachzurütteln. DER BÖSE GEIST AUS DEM FILM ERSCHEINT GLEICH HIER IN WILHELMSBAD!!!!! ER WILL DANIEL MIT EINER SCHERE ENTFÜHREN!!!!! WIR MÜSSEN FLIEHEN BEVOR DIE SCHRANKEN HOCHGEHEN. J E T Z T!!!!!!!!!! SOLANGE NOCH ZEIT DAFÜR IST!!!!!!!!! Geistesgegenwärtig schnappt meine rechte Hand zu und zerrt Daniels extrem wider-spenstige Mutter aus dem Fallradius des Mastens fort vom Andreaskreuz auf die gegenüber-liegende Straßenseite, begleitet vom unablässigen Rumpeln der Erde.

Psychiater: Und Daniel hast du allein einfach so seinem Schicksal überlassen? Das wirft jetzt ehrlich gesagt kein gutes Licht auf dich!

Alessa Marie: Meine linke Hand wollte ihn ja auch packen. Leider verkannte der Junge eben-falls das kommende Unheil. Rotzfrech streckt er seine Zunge heraus, springt zurück, weshalb ich ins Leere greife. Egal, wenigstens die Mama gerettet!, hämmert es mir im Kopf.

Psychiater: Sicherlich hat dir die Frau anschließend für deinen selbstlosen Einsatz ein lecke-res Eis spendiert.

Alessa Marie: Von wegen! Als das Grollen leiser wird und schließlich verstummt, tickt sie völ-lig aus: HAST DU'N KNALL??????? DU BIST DOCH NICHT MEHR GANZ DICHT!!!!!!! Das lässt sich eine Marquise nicht bieten. ICH HAB GAR KEINEN KNALL, SIIIIIIEEEE!!!!!!, kommt von mir post-wendend die Retourkutsche; gerade als aus der Gegenrichtung ein ICE anrauscht. DIESES EINGERÜSTETE GEBÄUDE DRÜBEN, AN DEM REPARIEREN SIE IMMER NOCH SCHÄDEN VOM LETZTEN ERDBEBEN. UND NEBEN DEN SCHIENEN DA LIEGEN SCHRANKENSTÜCKE IM GRAS.

DURCH DIE ERSCHÜTTERUNGEN MUSS DAMALS DIE AUTOMATIK BLOCKIERT GEWESEN SEIN, WESHALB IRGENDEIN ZUG MIT HOHER GESCHWINDIGKEIT DEN VOLL AUF IHN KRACHENDEN OBERLEITUNGSMASTEN BEISEITE RISS, WELCHER WIEDERUM DIE GEÖFFNETE SCHRANKE SO HEFTIG TRAF, DASS IHRE EINZELTEILE IN HOHEM BOGEN METERWEIT WEGFLOGEN!!!!!

UND DANN PFLAUMEN SIE MICH AN, WEIL ICH IHR LEBEN RETTEN WILL????? WOHL IN JAPAN NOCH KEIN WACKELNDES HOTELZIMMER ERLEBT, WAS?????

Psychiater: Nimm's sportlich. Undank ist der Weltenlohn.

Alessa Marie: Ich sag's Ihnen, Herr Doktor, Leute gibt's, das ist nicht zu glauben. Wird die Olle doch wieder patzig: SCHREI MICH GEFÄLLIGST NICHT AN, DU HYSTERISCHES DING!!!!!!!!!! SO-WAS WIE DICH SOLLTE MAN AM BESTEN GLEICH IN DIE KLAPSMÜHLE EINLIEFERN!!!!!!!!!!

Psychiater: Alessa Marie. Derart unverfrorene Unverschämtheiten darfst du dir als religions-mündige Heranwachsende von Erwachsenen niemals bieten lassen!

Alessa Marie: Keine Sorge. Während sich ein zweiter Güterzug nähert, tobe ich zurück: ABER NUR MIT IHNEN! DREHEN SIE SICH MAL ZACKIG UM UND SCHAUEN DEN OBERLEITUNGSMAS-TEN, DAS WARNSIGBAL UND DIE STANGE AN, SIE ZIMTZICKE, SIE!!!!!!!!! ALLE DREI STEHEN IM SCHIEFEN WINKEL. JETZT FRAG ICH SIE, WOHER DER SONST HERRÜHREN SOLL. VOM ERD-MAGNENTFELD? ALSO VORHER DIE ÄUGLEIN BESSER AUFSPERREN STATT UNWISSEND HE-RUMZUQUATSCHEN!!!!! ODER SCHLEUNIGST BEIM AUGENARZT ANRUFEN!!!!!

Psychiater: Na, dieser Schachtel hast du's aber gezeigt!

Alessa Marie: Sich zu ihrem Sohn umdrehend wurde die Mutter noch wütender. DANIEL!!!!! DU WEISST DOCH, WAS ICH DIR GESAGT HABE: DER FLINKE SCHNEIDER MIT DER SCHER IST IM-MER IN DER NÄHE UNGEHORSAMER KINDER. WILLST DU DAS WIRKLICH?????? SOLL ICH IHN HERBEIRUFEN???????

Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!!

Alessa Marie: HUUUCH...*hicks*...zehnmal. Ihr schöner Schreibtisch.

Psychiater: Darum: Fort mit den Gebrüder Grimm Märchen!!!!!!! Ab in die Mülltonne mit dem Schund!!!!!! Morgen droht diese pädagogische Rabenmutter damit, dass ihn Hänsel und Gretel zur Hexe in den glutheißen Backofen stecken. Bestimmt hat das seelisch längst gebrochene Bübchen weinend Besserung gelobt.

Alessa Marie: Der? Ganz im Gegenteil. Wie ein billiger Vorgartenzwerg plustert sich Daniel vor seiner Mutter auf. Du, Maaaaaaaaaa, tönt es naseweis von unten nach oben hinauf, wenn der Schneider kommt, sag ihm, dass er dem Mädchen hinten ein groooooooooooßes Loch schnei-den soll. Das hat nämlich voll in Hose gemacht. Guck mal daaaaaaaa! Sofort fasse ich dorthin. OH. MY. GOD! Tatsache. Kann gar nicht sein. Ich war...*mmmmmppppffffff*...doch heute schon. Die Aufregung halt. Mit kreischendem...*mmmmmmmmmmmmmmppppppffffffffffffff*...nein... bitte...nicht wieder loslachen...IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIHHHHHHHHH!!!!!!! flüchte ich knallrot auf der kleinen Fahrstraße zwischen Bahnhof und Sportplatz, während...mmmmmmmmmm-mmmmmmmmmmpppppppppffffffffff*...mein Bauch, Herr Doktor, mein Bauch...huhuhuhuhu-huhu...*mmmmmmmmmmmppppfffffff*...was für ein bekloppter Dreikäsehoch...hinter mir die Mami keift: DAFÜR KOMMT MORGEN SCHNEEWITTCHEN UND LÄSST DICH AUF GLÜHENDEN EISENPANTOFFELN TANZEN. DAMIT DU BESCHEID WEISST!!!!!!!!

Psychiater: UNVERANTWORTLICH, DIESE FRAU!!!!!!! AB IN DIE MÜLLTONNE MIT DEM SCHUND UND DIE MÄRCHEN VON HANS CHRISTIAN ANDERSEN GLEICH MIT DAZU!!!!!!!!

Alessa Marie: HUUUUCH...*hicks*...zwanzigmal. Rekord. Irgendwann erspähe ich rettendes Ge-büsch, schlage mich hinein, um Caislin anzurufen. Doch als sie mit der frischen Jeans andüst, stellen wir fest: nur Schmutz vom Rasenboden.

Psychiater: Die Aufregung halt. Alessa Marie...ich schaue eben auf die Uhr und sehe, dass dei-ne Sitzungseinheit vorbei ist

Alessa Marie: Neeeeeeee...schon rum?

Psychiater: Ja. Und speziell diese heutige Therapiestunde bestärkt mich in der Annahme als ausgewiesener Spezialist, dass du ein völlig normales Mädchen bist.

Alessa Marie: Aber meine Ängste? Ich bin doch grausam verhext!

Psychiater: Doch deswegen noch lange keine Hexe. Merke: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer!

Alessa Marie: Ich verstehe Sie nicht.

Psychiater: Besonders dein herzhaftes, unbeschwertes Lachen gegen Ende der Sitzung zeigt mir, wie ausgeprägt du das Leben mit einem Schmunzeln im Gesicht betrachtest. Wie im när-rischen Karneval, in dem du als Büttenrednerin aktiv bist. Wer angesichts früherer Schrec-kenserlebnisse schallend zu lachen vermag zeigt: Er kann alles im Leben mit Humor etragen.

Alessa Marie: Hm...das erinnert mich an die Schlussworte vom legendären Et Botterblömche bei seinen Auftritten. An ihm studiere ich jährlich meine eigenen Reden.

Psychiater: Siehst du? Genau darauf will ich hinaus. Das Leben ist der Inhalt lustiger Bütten-reden, nichts weiter. Oder anders ausgedrückt: Hanau Helau!

Alessa Marie: Supi, dann kann ich ja beruhigt gehen.

Psychiater: Wenn noch was sein sollte, kannst du mich jederzeit spontan anrufen. Ansonsten wünsche ich dir alles Gute...und vor allem viel Erfolg am Freiheitsplatz bei den Jungs mit dei-ner knallengen Jeans.

Alessa Marie: Mmmmmmmmuuuuuuaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahahahahahaaaaaaaaaaa!!!!!!! Hahahahahahahaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!!!!!!! Vielen, vielen Dank, Herr Doktor! Auf Wieder-sehen! Danke! Huhuhuhuhuhuhuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuu!!!!

Psychiater: Nichts zu danken, gern geschehen. Auf Wiedersehen, Alessa Marie!

==========

Sprechstundenhilfe: Stopp, das junge Fräulein steigt hier nicht aufs Skateboard!

Alessa Marie: Schon gut!

Sprechstundenhilfe:  Wie oft soll ich's dir noch sagen: Es wird nicht aus unserer Praxis gerollt!

Alessa Marie: Ist ja schon gut!

Sprechstundenhilfe: Bekommst du einen neuen Termin?

Alessa Marie: Nein, der Doktor meint, ich sei völlig normal.

Sprechstundenhilfe: Und was der Chef sagt stimmt. Er ist wahrhaftig eine begnadete Koriphäe auf seinem Gebiet und besitzt seinen exzellenten, bis nach Belgien reichenden Ruf nicht um-sonst. Einer, dem Europäer trotz Brexit vertrauen. Ja, Alessa Marie, dann wünsche ich dir al-les Gute. Und bitte, lass das Trinken, du bist total beschwippst. Alkohol ist nichts für Mädchen.

Alessa Marie: Grrrrrrrrrr!!!!

Sprechstundenhilfe: UND KNALL GEFÄLLIGST NICHT DIE TÜR HINTER DIR ZU!!!!!!!! Unmöglich, diese heutige Jugend, trinkt und kennt kein Benehmen!

Alessa Marie: Häää, was laberte sie da noch? Egal, wegen diesem Deppen habe ich wieder nur wertvolle Zeit verloren. Schnell dageim das Plakat basteln, die Karussellpferde warten schon. Und danach ab zum Freiheitsplatz!

Fotogeschichtliche Kontrapunktserie Nr. 1

Copyright © 2016-2024 by alessamariesfotogeschichten.com. Alle Rechte vorbehalten. Proudly created with Wix.com.

bottom of page